Gottesdienst am achten Sonntag nach Trinitatis
Text: Eph 5,8-14
Irgendwann kommt alles ans Licht. Mit diesem Satz habe ich Predigten zum heutigen Predigttext schon öfter begonnen. Dann hab ich aktuelle Beispiele dafür benannt – es gab sie immer reichlich: Doping-Skandale bei der Tour de France, Diesel-Skandal in der deutschen Autoindustrie, auch schlimme Dinge, die in den angeblich besten Familien vorkamen. Und von der allgemeinen Entrüstung über solche Enthüllungen habe ich den Blick dann auf uns selber gelenkt – wo wir doch auch gern tricksen und schummeln, um besser dazustehen als wir sind; wo doch auch in unseren Familien oft eine Kluft liegt zwischen Ideal und Wirklichkeit. Die grellen Strahlen, die die öffentliche Empörung auf ertappte Übeltäter wirft, erhellen eben letztlich auch die ganz alltäglichen Übel, an denen wir alle beteiligt sind.
Aber den Umweg über die Skandale der anderen kann ich mir diesmal sparen. Denn irgendwann kommt alles ans Licht. Und leider bietet unser eigener Verein gerade das treffendste Beispiel. Lange haben wir sexualisierte Gewalt in der Kirche vor allem für ein katholisches Problem gehalten. Hierarchische Strukturen, überhöhte Vorstellungen von der Kirche und vom geistlichen Amt plus verkorkste Sexualmoral – das kommt davon, haben wir gedacht. Aber dann wurde Anfang des Jahres die großangelegte Studie über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche veröffentlicht. Spätestens seitdem ist klar, dass wir genauso tief drinstecken. Auch in der evangelischen Kirche gab und gibt es sie in großer Zahl: die Pfarrer, Diakone, Kirchenmusiker, viele von ihnen hoch angesehen, die Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sexuell missbraucht haben, oft über viele Jahre. Auch bei uns wurde viel zu vieles verdrängt, verschwiegen und entschuldigt. Und es gibt eben auch typisch evangelische Gründe dafür: unklare Zuständigkeiten, falsche Berufung auf die evangelische Freiheit, auch in sexuellen Dingen, allzu schnelle Bereitschaft zur Vergebung. Und dabei gilt das, was bisher öffentlich wurde, nur als die Spitze des Eisbergs. Der Fall, den wir hier alle kennen, kommt in der Studie zum Beispiel noch gar nicht vor.
Wir persönlich mögen daran nicht schuld sein. Aber wir hängen eben doch mit drin. Bücher oder CDs von Tätern stehen auch bei mir zu Hause im Regal. Manche kenne ich persönlich, manche „Opfer“ auch. Und vor allem betrifft uns alle ein Verlust an Glaubwürdigkeit, dessen Tiefe noch längst nicht ausgelotet ist. Nicht nur ich als Pfarrer muss mir da einiges anhören. Auch einfache Kirchenmitglieder müssen sich inzwischen dafür rechtfertigen, dass sie nicht auch aus dieser „kriminellen Vereinigung“ austreten.
Irgendwann kommt alles ans Licht. Aber ehe ich mich noch länger dabei aufhalte, wie bitter das für alle Beteiligten sein kann, möchte ich nun endlich den heutigen Predigttext zu Wort kommen lassen. Auch er spricht von Licht und Finsternis, von leuchtenden Taten und finsteren Machenschaften. Vielleicht wirft er auch noch einmal ein anderes Licht auf die Dinge, die ich eben beschrieben habe. Ich lese einige Verse aus dem fünften Kapitel des Epheserbriefs:
Ihr wart früher Finsternis; nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. Wandelt als Kinder des Lichts; denn die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit. Prüft, was dem Herrn wohlgefällig ist, und habt nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis; deckt sie vielmehr auf. Denn was von ihnen heimlich getan wird, davon auch nur zu reden ist schändlich. Das alles aber wird offenbar, wenn’s vom Licht aufgedeckt wird; denn alles, was offenbar wird, das ist Licht. Darum heißt es: Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.
Der Epheserbrief, Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus geschrieben, konnte noch klare Linien zeichnen. Auf der einen Seite steht die heidnische Welt. In ihr herrscht Dunkelheit, und in ihrem Schutz geschehen die „Werke der Finsternis“: heimliche Schandtaten, von denen man am besten gar nicht redet. Unzucht, Unreinheit und Habgier sind ihre Quellen. Auf der anderen Seite stehen die kleinen christlichen Gemeinden. Ihre Glieder gehörten einmal dazu, waren Teil der Finsternis, die sie umgibt. Aber das ist vorbei. Mit ihr haben sie nichts mehr zu schaffen. Jetzt sind sie Kinder des Lichts, und das trägt Früchte in ihrem Lebenswandel: Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit. Sie zeigen, dass es auch anders geht und bringen dadurch an den Tag, wie finster es bei den Heiden aussieht. Wohl ihnen, wenn ihnen dadurch ein Licht aufgeht!
So schön schwarz-weiß war es wohl schon damals nicht und ist es heute erst recht nicht. Wir können uns nicht einfach hinstellen und sagen: „Die Welt ist schlecht, aber bei uns Christen ist alles anders. Wir leben gesund, unsere Familien sind heil, wir zahlen brav unsere Steuern, sind immer ehrlich, werden niemals übergriffig und setzen uns vorbildlich ein für unsere Mitmenschen.“ Mit Recht nennt man Christen, die so reden, scheinheilig – erst recht, wenn sie dann noch gegenüber anderen den moralischen Zeigefinger erheben. Wenn die Menschen es heute leid sind, dass wir ihnen so kommen, haben sie Recht. Als Moralapostel ist die Kirche lange genug aufgetreten – und ich muss, glaube ich, nach dem anfangs Gesagten nicht mehr begründen, dass das nun wirklich gar nicht mehr geht. Wir würden uns dabei nur um Kopf und Kragen reden.
Also lieber ganz still und zerknirscht sein und den Epheserbrief beiseitelegen? Ich glaube, das wäre auch falsch. Dafür gibt es einen guten Grund, und den finde ich ganz am Ende des Textes: „Christus wird dich erleuchten“, heißt es da. Das bedeutet: Wir Christen selber mögen keine großen Leuchten sein, aber wir stehen im Licht – im Licht Jesu Christi, der von sich sagt, dass er das Licht der Welt ist. Wir sind nicht wie die Sonne, sondern wie der Mond, der das Licht der Sonne widerspiegelt. Wenn man uns Christen beobachtet, dann soll man nicht sehen, dass wir leuchtende Vorbilder der Tugend sind, sondern dass Gottes Liebe wie die Sonne ist. Ohne dieses Licht, ohne Gottes Liebe, wie Jesus sie uns offenbart hat, sähe es für uns genauso finster aus wie für alle anderen.
Wenn das so ist, wie sollen wir als Christen dann reagieren, wenn wieder einmal etwas ans Licht kommt, was andere oder auch unsere eigenen Leute heimlich im Dunkeln getan haben?
Zunächst einmal sollten wir zurückhaltend sein mit unserer Entrüstung. Wir sollten uns zuerst nüchtern fragen: Wo habe ich durch Wegsehen und Nicht-Wissen-Wollen zu dem beigetragen, was geschehen ist? Wo habe ich um des lieben Friedens willen zu Dingen geschwiegen, die nicht in Ordnung waren? Und wie viel von dem, was der oder die getan hat, tue ich täglich selber, wenn auch vielleicht nur in Gedanken? Als Christ kann und darf ich mir auf diese Weise meine eigenen Fehler eingestehen, weil ich im Licht Christi stehe. Vor ihm kann ich sowieso nichts verbergen. Ich muss es aber auch gar nicht, denn ich weiß ja, dass er mich so annimmt wie ich bin, mit all meinen Fehlern und dunklen Flecken.
Wenn ich im Licht Christi stehe, dann weiß ich aber auch, dass meine dunklen Flecken nicht dunkel bleiben müssen. Das Licht Christi lässt mich aufwachen, so wie das Licht der Morgensonne, wenn mir morgens jemand den Rollladen hochzieht. Ich muss mich also nicht verstecken hinter der resignierten Aussage: „Ich bin halt so, ich kann nicht anders.“ Wenn ich aufwache und merke, dass meine Lebensweise mich, meine Familie, meine Mitmenschen oder meine Umwelt kaputt macht, dann muss das nicht so bleiben. Sicher, ich kann nicht raus aus meiner Haut und ich kann auch nicht aus der Gesellschaft aussteigen, die meine Einsichten vielleicht nicht teilt. Aber innerhalb dieser Grenzen bleibt mir eine Menge Spielraum für Veränderungen. Diesen Spielraum kann ich nutzen, wenn mir das Licht Christi die nötige Energie dazu gibt.
Und wenn das beides gegeben ist, wenn ich im Licht Christi zu meinen Fehlern stehen kann, aber zugleich auch bereit bin, mich durch dieses Licht verändern zu lassen, erst dann kann ich auch Stellung beziehen, wenn dunkle Punkte bei anderen ans Licht kommen. Auch dann sollte ich mich aber hüten, mit der Tat auch den Täter zu verurteilen. Stattdessen sollte ich danach fragen, wie es denn dazu kommen konnte und wer alles daran beteiligt war, dass es so gekommen ist. Erst dann ist das „Werk der Finsternis“ wirklich aufgedeckt. Aber dann sieht die Sache meistens viel komplizierter aus, als wenn man sie auf einen einzelnen Bösewicht schiebt. Oft genug steckt hinter dem Fehler eines einzelnen ein Fehler im System.
Von den Strukturen, die in unserer Kirche Missbrauch begünstigen, war schon die Rede. Wir sind nun endlich dabei, dagegen anzugehen: durch Anerkennung für das Leid der Betroffenen, durch geregelte Verfahren, durch Schulungen und Schutzkonzepte. Auch in unserer Gemeinde arbeiten wir an diesen Dingen.
Aber ungute Strukturen und Verhaltensmuster gibt auch in anderen Bereichen: Wenn es in der Wirtschaft vor allem um Gewinnmaximierung um jeden Preis geht, muss man sich über Lug und Trug nicht wundern. Und wenn das Leitbild unserer Gesellschaft besagt: „Du musst für dich selber das Optimum aus deinem Leben herausholen“, dann funktionieren Ehen, Familien, Freundschaften eben nur so lange, bis sich für einen der Beteiligten etwas Besseres findet – oder bis einer sich auf Kosten der anderen alles erlauben kann. Ich allein kann an diesen Verhältnissen nicht viel ändern – außer bei mir selbst und in meinem persönlichen Umfeld. Aber wenn ich das getan habe bzw. bereit bin, es zu tun, dann kann ich diejenigen, die im Großen etwas ändern können, an ihre Verantwortung erinnern – Wirtschaftsbosse und Politiker zum Beispiel. Wenn das viele tun, geschieht vielleicht doch etwas, denn die Wirtschaft braucht Kunden, und die Politiker brauchen Wähler. Ich wünsche mir deshalb viele Christen, die vom Schlaf aufwachen und das Licht Christi in dunkle Affären scheinen lassen – zuerst in die eigenen, dann in die, die uns alle angehen. Wenn es so käme, könnten wir als Kirche etwas von dem verlorenen Vertrauen zurückgewinnen. Und in unserer Welt würde es um einiges heller aussehen. Amen.
Ihr Pastor Martin Klein