Predigt Talkirche, Sonntag, 14. Juli 2024

Gottesdienst zum 60- bis 75-jähriges Konfirmationsjubiläum

Text: 2. Mose 16,1-36

Liebe Gemeinde, liebe Jubilarinnen und Jubilare!

Sechzig bis fünfundsiebzig Jahre sind vergangen, seit Sie konfirmiert wurden. 1949, das Konfirmationsjahr der Ältesten hier, war auch das Gründungsjahr der Bundesrepublik Deutschland. Und 1964 war das Jahr, in dem in Deutschland so viele Kinder geboren wurden wie nie zuvor und nie danach – ich war auch eins davon.

Die Jahre dazwischen waren eine Zeit des Aufbruchs – für unser Land und für Sie persönlich: Die Wirtschaft florierte, es gab Arbeit für alle, Urlaub im sonnigen Süden kam in Mode, und 1954 konnten die Frischkonfirmierten erleben, wie Deutschland zum ersten Mal Fußballweltmeister wurde. Und es war die Zeit, in der Sie Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene waren, zur Schule gingen, einen Be­ruf lernten, heirateten, eine Familie gründeten. Eine spannende Zeit also! Sie legte den Grund für alles, was dann kam.

Ich weiß nicht, ob Sie sich manchmal in diese Zeit zurücksehnen. Sicher, damals war auch nicht alles gut – ganz und gar nicht! Aber irgendwie schien die Welt noch überschaubarer. Die traditionelle Ordnung war noch stark und gab Halt, auch wenn der Drang wuchs, aus ihr auszubrechen. Und vor allem: Sie waren noch jung, hatten alle Kräfte noch beisammen und hatten das Leben noch vor sich. Da mag man sich als alter Mensch schon gelegentlich bei dem Gedan­ken ertappen: „Ach, wäre ich doch nochmal zwanzig! Hätte ich doch nochmal die Kräfte von damals! Könnte ich doch das Leben nochmal unbeschwert genießen! Könnte ich doch nochmal neu anfangen und meine Fehler von damals korrigieren!“ Mag sein, dass unsere Ju­gend uns bei solchen Gedanken in allzu rosigem Licht erscheint – aber alles in allem hatten wir es doch auch wirklich gut damals, oder?

Solche nostalgischen Gefühle haben wir wohl alle mal. Und Zusammen­künfte wie die heutige dienen ja nicht zuletzt dazu, sich solchen Gefühlen hinzugeben: sich wiederzusehen, sich zu erinnern, sich gegenseitig „Weißt-du-noch“-Geschichten zu erzählen. Aber je nach Situation wird aus Nostalgie rasch Unzufriedenheit, aus Unzufrie­denheit Groll und aus Groll Verbitterung.

Davon berichtet schon die Bibel, zum Bei­spiel in 2. Mose 16, dem heutigen Predigttext. Da war ein größerer Trupp hebräischer Skla­ven – später das Volk Israel genannt – seinen ägyptischen Herren ent­wischt. Nur knapp wa­ren sie entkommen. Mit Mann und Ross und Wagen waren ihre ägyptischen Verfolger ertrunken, als das Wasser des Schilfmeers über ihnen zusammenschlug. Und die einsti­gen Skla­ven hatten Freudenfeste gefeiert und ihren Gott für die Freiheit und die wunderbare Rettung gepriesen. Dann hatten sie sich frohge­mut auf den Weg gemacht zu den blühenden Landschaf­ten Kana­ans, die Gott ihnen versprochen hatte.

Aber es war weiter dorthin, als sie dachten. Der Weg durch die Wüste zog sich hin. Sie wurden müde, das Essen wurde knapp. Und je leerer der Magen, desto größer die Wut und desto verklärter die Vergangenheit. Schließlich bekommen ihre Anführer den gesammel­ten Volkszorn ab: „Wären wir doch bloß in Ägypten geblieben! Da hatten wir wenigstens genug zu essen, Fleisch und Brot. Ihr habt uns doch nur in diese gottver­dammte Wüste geführt, um uns umzubrin­gen! Was haben wir von unserer Freiheit, wenn wir tot sind?“ So fragen sie Mose und Aaron. Aber eigentlich meinen sie natürlich Gott, in dessen Auftrag die beiden handeln – den gleichen Gott, den sie noch vor kurzem für seine Taten gepriesen haben.

Man könnte verstehen, wenn Gott bei so viel Un­dank das Volk auflö­sen und sich ein anderes wählen würde. Aber was Gott an­fängt, das bringt er auch zu Ende. Deshalb gibt er dem Drängen nach und fügt seinen großen Taten eine weitere hinzu. Zu Mose sagt er: „Ich habe das Murren der Israeliten gehört. Sage ihnen: Ge­gen Abend sollt ihr Fleisch zu essen haben und am Morgen von Brot satt werden und sollt erkennen, dass ich, der Herr, euer Gott bin.“.

Und tat­sächlich: Am Abend erscheinen große Wachtelschwärme am Him­mel. Müde vom langen Wüstenflug lassen sie sich im Lager nie­der. Es gehört nicht viel dazu, sie einzufangen und zu braten. Und am nächsten Morgen, als der Tau sich hebt, ist der Boden von einem feinen, flockigen Staub bedeckt, sieht aus wie weißer Koriander­-Sa­men. Verdutzt fragen sich die Israeliten: „Man hu? – Was ist das?“ Und schon hat das Zeug seinen Namen weg: Manna. Mose erklärt: „Das ist das Brot, das euch der Herr zu essen gegeben hat. Ein jeder sammle, soviel er zum Essen braucht, einen Krug voll für jeden nach der Zahl der Leute in seinem Zelt. Und lasst nichts bis morgen üb­rig!“

Gesagt, getan. Die Leute machen sich ans Werk, sammeln ihre Krüge voll und backen Brotfladen daraus, die wie Honigkuchen schmecken. Es reicht für alle. Keiner hat zu viel, keiner zu wenig. Der Rest schmilzt in der heißen Mittagssonne. Ei­nige ganz Schlaue versuchen trotzdem ihre Manna-Ration auf mehrere Tage zu stre­cken. Wer weiß schließlich, wie lang man mit dem unerwarteten Segen aus-kommen muss! Aber am nächsten Morgen erleben sie eine böse Überraschung: Als sie ihre Vorratskrüge öffnen, schlägt ihnen ent­setzlicher Gestank entgegen, und wer dann noch so mutig ist und hineinschaut, sieht auch die Würmchen durch das verdor­bene Manna kriechen. So bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ohne Vor­rats-Wirtschaft von der Hand in den Mund zu leben, wie alle ande­ren auch. Das ist aber kein Problem, denn pünktlich an jedem Mor­gen liegt das Manna wieder da, und alle können einsammeln, soviel sie brauchen. Das bleibt auch so, bis die Israeliten nach vierzig lan­gen Jahren in der Wüste dann doch endlich ihr Ziel erreichen.

Soweit die biblische Geschichte. Für ihren Anfang lassen sich leicht aktuelle Parallelen finden, nicht nur die nostalgischen Gefühle von Jubel-Konfirmanden. Für den Schluss anscheinend nicht. Aber wie sollte der auch heute aussehen? Gott streicht einfach die letzten sechzig Jahre und mehr und lässt uns wieder jung sein? Gott stellt uns jeden Morgen kostenfrei ein Paket zu, wo alles drin ist, was wir für den Tag brauchen? Gott schmeißt Hirn vom Himmel, damit nie­mand mehr denen glaubt, die sagen: „Früher war alles besser, und wir bringen euch da wieder hin“? So wohl nicht. Aber was fangen wir dann heute mit diesem biblischen Wunder an?

Nun, den Manna-Strauch, dessen Samen übers Land geweht werden und dann irgendwo vom Himmel regnen, den gibt es tatsächlich auf der Sinai-Halbinsel – aber er produziert natürlich nicht vierzig Jahre lang jeden Tag außer am Sabbat solche Mengen, dass ein ganzes Volk davon leben kann. Wir müssen das, was da steht, also nicht wortwörtlich glauben. Aber es gibt einen Schlüsselsatz im Text, den sollten wir ernst nehmen: „Ihr sollt erkennen“, lautet der, „dass ich, der Herr, euer Gott bin.“ Oder einen Schritt weitergedacht: An der Art und Weise, wie die Sache mit dem Manna vor sich geht, lässt sich erkennen, wie Gott ist und wie er für uns sorgt. Ich möchte es kurz so formulieren: Gott gibt uns das, was wir brauchen, und er gibt es uns dann, wann wir es brauchen.

1. Gott gibt uns das, was wir brauchen. Ich weiß, dass ich mich mit diesem Satz aufs Glatteis wage. Denn natürlich könnte jetzt jemand kontern: „Aber ich brauche doch Menschen, die mich unterstützen und mein Leben mit mir teilen. Warum bin ich dann so allein?“ – „Ich brauche doch meine Gesundheit, warum bin ich dann krank?“ – „Ich muss doch meinen Alltag bewältigen, aber wie soll ich das schaf­fen mit schwindenden Kräften?“ Solche Fragen kann ich gut verstehen. Manchmal habe ich sie sel­ber. Aber ich möchte mich dann zumindest ins Nachdenken bringen lassen: Brauche ich wirk­lich alles, was ich mir wünsche? Oder: Wäre das, was ich zu brau­chen meine, wirklich gut für mich? Oder auch: Lässt sich das, was ich brauche, nur auf dem Weg erreichen, den ich mir vorstelle, oder gibt es noch andere Möglichkeiten, wie ich ans Ziel kommen kann? Ich glaube, es lohnt sich, dass ich diese Dinge bedenke, bevor ich Gott die Warum-Frage stelle. Vielleicht erübrigt sie sich dadurch schon. Wenn aber nicht, dann nur heraus damit! Dann gilt es, dass Gott auch mein Schreien und meine Anklage hört.

2. Gott gibt uns das, was wir brauchen, wann wir es brauchen. Wir merken ja immer wieder, dass wir mit unseren Kräften, unse­ren Gaben, unserer Zeit nicht auf Vorrat wirtschaften können – eben­so wenig wie die Israeliten mit ihrem Manna. Da hat sich zum Beispiel jemand viele Jahre lang auf seine Rente gefreut: „Dann hab ich end­lich Zeit zum Verreisen, für meinen Garten, für meine Enkelkinder.“ Und dann reißt ihn ein plötzlicher Tod noch aus dem vollen Berufsle­ben. Oder nachlassende Gesundheit lässt all die schönen Dinge nicht mehr zu. Sicher ist es auch manchem aus Ihren Konfirmationsjahr­gän­gen so ergangen. Auf der anderen Seite erle­ben wir aber auch, dass unsere Kraft plötzlich für Dinge reicht, die wir uns vorher nie zugetraut hät­ten. Auch davon könnten sicher viele von Ihnen erzäh­len: die Frauen zum Beispiel, die es irgendwie geschafft haben, mit Arbeit, Haushalt, Kindern und womöglich noch der Pflege alter El­tern gleichzeitig zurecht­zukommen. Diejenigen, die eine berufliche Krise, eine schwere Krankheit, den Verlust eines lieben Menschen dann doch überwunden haben. Und auch diejeni­gen, die jetzt im Alter erleben: „Ich schaff nicht mehr so viel, und es geht alles viel langsamer, aber es geht eben doch weiter, Schritt für Schritt.“

Also sage ich Ihnen und mir: Nimm jeden Augenblick deines Lebens als Ge­schenk von Gott und tu dann getrost das, was jetzt gerade dran ist – nicht mehr und nicht weniger. Dann kommst du besser voran, als wenn du mit drei Schritten auf einmal auf die Nase fliegst oder we­gen der Länge der Strecke gleich am Anfang aufgibst. Am Ende wunderst du dich dann vielleicht, wie schnell und gut du ans Ziel gekommen bist. Und dann kannst auch du erkennen, dass der Herr dein Gott ist. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein