Predigt Talkirche, Sonntag, 2. März 2014

Gottesdienst für den Sonntag Estomihi 

Text: Jes 58,1-9a

Siegerländer Karnevalsmuffel brauchen in diesem Jahr viel Geduld. Ostern ist spät, entsprechend lange dauert es bis zum Aschermitt­woch. Und so müssen wir immer noch drei Tage rheinischen Froh­sinn auf allen Kanälen ertragen, bis endlich Ruhe einkehrt und die Fastenzeit beginnt.

Mit der konnten wir Evangelischen allerdings früher auch nicht viel anfangen. Wozu auch fasten, wenn man vorher gar nicht gefeiert hat? Und gegen das Fasten unserer katholischen Geschwister hatten wir so unsere Vorurteile: Erst Aschekreuz, dann Starkbieranstich – das kann’s ja wohl nicht sein! Aber dann ging es vor gut dreißig Jahren los mit der Aktion „7 Wochen ohne“, und auch die Evangeli­schen begannen das Fasten für sich zu entdecken.

Die Motive dafür sind freilich vielfältig. Manchem geht es um den Nachvollzug der Passion Jesu, um größere Nähe zu Gott, um Ver­zicht auf Dinge, die davon ablenken. Mancher fastet eher aus Solida­rität mit den Armen und Hungernden. Mancher hat mehr die Selbst­kontrolle im Sinn: Kann ich noch ohne Alkohol, ohne Süßigkeiten, ohne Fernseher oder Smartphone – oder bin ich längst abhängig? Und mancher macht auch eine Art fromme Bri­gitte-Diät: Fasten ist gesund, rückt dem Winterspeck zuleibe, macht schlank und schön, steigert das Selbstwertgefühl – und kann dabei noch Spaß machen. Aber warum auch immer: die Zahl der Evangeli­schen, die fasten, steigt von Jahr zu Jahr: aus 70 registrierten Teilnehmern bei den ers­ten „7 Wochen ohne“ sind inzwischen über drei Millionen geworden. Und irgendwie fasten wollen ungefähr nochmal so viele. Wer da in aller evangeli­schen Freiheit aufs Fasten verzichtet, muss sich in manchen Kreisen schon gute Gründe einfallen lassen.

Die könnte er allerdings schon in der Bibel finden. Denn dort ist das Fasten fast immer eine zwiespältige An­gelegenheit. So auch in unse­rem heutigen Predigttext aus Jesaja 58. Dort wendet sich Gott mit folgender Botschaft an seinen Propheten und dann an sein Volk:

Rufe getrost, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakob seine Sünden! Sie suchen mich täglich und begehren, meine Wege zu wissen, als wären sie ein Volk, das die Gerechtigkeit schon getan und das Recht seines Gottes nicht verlassen hätte. Sie fordern von mir Recht, sie begehren, dass Gott sich nahe: »Warum fasten wir, und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib, und du willst es nicht wissen?« Sieh, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter. Sieh, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll. Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit, wenn ein Mensch seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet? Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem der Herr Wohlgefallen hat? Das aber ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen, und der Herr wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.

Hier bekommt das Volk Israel also gesagt: „Ihr sollt nicht fasten, jedenfalls nicht so!“ Aber ehe wir das vorschnell auf uns übertragen, müssen wir erst einmal genauer hinsehen, worum es geht.

Versetzen wir uns also zurück in die Zeit um 530, 520 vor Christus. Vom alten Israel der Königszeit ist nur Juda übrig – als kleine  Pro­vinz des riesigen Perserreichs. Seit ein paar Jahren hat sie wieder einige Ein­wohner mehr. Denn Kyros, der persische Großkönig, hat Babylon erobert und den Leuten aus Jerusalem, die vor Jahrzehnten dorthin verschleppt worden waren, die Heimkehr gestattet. Nicht alle, aber doch etliche sind darauf in die alte Heimat aufgebrochen. Sie hatten die Worte des Propheten noch im Ohr, den wir den Zwei­ten Jesaja nennen: „Die Wüste wird blühen, wenn ihr sie durchzieht, Jerusalem wird wieder erstehen, und von allen Enden der Erde wird Gott sein Volk nach Hause bringen.“ Und als König Kyros kam und sie gehen ließ, da dachten viele: Jetzt wird es wahr! Jetzt gehen Got­tes Verhei­ßungen in Erfüllung! Und so sind sie losgezogen und auch ange­kommen. Aber die Wüste hat nicht geblüht, Jerusalem ist immer noch eine Trümmerwüste, und nicht alle sehen die Heimkehrer gern. Trotzdem haben sie sich nicht gleich entmutigen lassen. Als erstes haben sie den Grundstein gelegt für einen Wiederaufbau des Tem­pels. Dass der Gott Israels dort wieder Wohnung nehmen möge, das ist ihnen am wichtigsten. Alles andere wird sich dann finden, denken sie.

Aber die Umstände sind widrig. Viele Jahre lang geht es kaum voran. Kein Wunder geschieht – noch nicht mal ein Wirtschaftswunder wie bei uns nach 45. Immer noch ist die Fertigstellung des Tempels in weiter Ferne, geschweige denn der Wiederaufbau der Stadt. Die Heimkehrer können das nicht verstehen. Sie sind doch im Vertrauen auf Gottes Worte aus Babel aufgebrochen. Sie wollen doch nur wahr machen, was ein Prophet des Herrn ihnen verkündigt hat. Und sie tun doch ihr Bestes, um ihrem Gott nahe zu sein und nach seinem Willen zu leben. Streng halten sie die Fastentage ein, die seit der Zerstörung von Stadt und Tempel begangen werden. Denn sie wissen ja, dass sie und ihre Väter sich den Untergang damals selber zu­zu­schreiben hatten, weil sie nicht auf den Herrn und seine Propheten gehört haben. Deshalb trauern sie, singen Klagelieder, tun Buße in Sack und Asche (aber richtig, nicht nur mit einem Kreuzlein auf der Stirn) und bitten ihren Gott um Vergebung und Erhörung. Da muss er doch endlich ein Einsehen haben, ihre Not und ihre Zerknir­schung anerkennen und ihnen Hilfe bringen. Aber nichts geschieht. Alles bleibt beim Alten und damit beim Schlechten. Und wie immer in solcher Lage erhebt sich das große Warum: „Warum fasten wir, und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib, und du willst es nicht wissen?“

Schließlich kommt die ersehnte Antwort. Gott schickt wieder einen Propheten. Auch seinen Namen kennen wir nicht, deshalb nennt ihn die Wissenschaft halt den Dritten Jesaja. Aber wie so oft, fällt die Antwort ganz anders aus als erwartet. Sie wird den Fra­genden nicht gefallen haben. Sie lautet kurz gesagt: „Ihr fastet, aber ihr lebt nicht entsprechend. Und deshalb ist euer ganzes Fasten nichts wert, so ernsthaft und formvollendet ihr es auch durchführen mögt. Ihr ver­zichtet auf Essen und Trinken, aber ihr lasst euch darüber kein einzi­ges gutes Geschäft entgehen“ – und Geschäfte machte man da­mals wie heute, um möglichst große Gewinne zu erzielen, wenn nötig, auf anderer Leute Kosten. „Ihr nehmt euch Zeit zum Be­ten und Klagen, aber eure Leute lasst ihr weiter schuften“ – denn da­mals wie heute beruhten die Gewinne der Wirtschaft auf der Aus­beutung von Ar­beitskräften. „Ihr lasst demütig und reuevoll den Kopf hängen, aber hinter dem Rücken ballt ihr schon wieder die Fäuste und überlegt, wem ihr was noch heimzahlen müsst“ – denn damals wie heute scheiterten Friede und Versöhnung am Egoismus von Ein­zelnen, von Gesellschaftsschichten, von Völ­kern und Staaten.

Nein, sagt Gott, so nicht! Auf diese Art von Fasten kann ich ver­zichten. Spart euch die Mühe für anderes: Lasst frei, die ihr unter­drückt und versklavt habt. Teilt euer Brot mit denen, die ihr ausge­beutet habt. Sorgt erst mal dafür, dass die Not leidende Bevöl­kerung ein Dach über dem Kopf bekommt, bevor ihr mir ein Haus baut. Und ihr, die ehemaligen „Oberen Zehntausend“, die man ins Exil ge­schleppt hat, haltet euch nicht für was Besseres und überhebt euch nicht über die einfachen Leute, die im Lande geblieben sind. Auch sie sind Israel, sie sind euer Fleisch und Blut. Also sorgt für sie und helft ihnen – erst dann dürft ihr hoffen, dass euch Hilfe zuteil wird.

Nun war das Maß an Unterdrückung, das damals in Juda herrschte, sicher eher klein. Für Ausbeutung großen Stils waren die Verhält­nisse viel zu bescheiden. Da geht es heute ganz anders zu. Aber wenn schon die vergleichsweise harmlosen Zustände damals von Gott so heftig angeklagt werden, was für eine Anklage haben wir da erst verdient! Und wir können uns auch nicht damit herausreden, das wir doch heute einen Sozialstaat haben, der der Ausbeutung Grenzen setzt (auch wenn er hier und dort bedenkliche Löcher hat). Denn glo­bal gesehen sind wir alle „die da oben“, die auf Kosten von „denen da unten“ leben: angefangen von der vielen Energie, die wir für uns allein verpulvern, während alle Welt die ökologischen Folgen tragen muss, bis hin zu dem sündhaft billigen Fleisch, das wir konsu­mieren, während andere Menschen gern so wohlgenährt wären wie das Schlachtvieh, das für unseren preiswerten Genuss produziert wird.

Das alles und noch mehr sollten wir also bedenken, ehe wir uns ans Fasten machen. Denn Gott dadurch näher zu kommen, ist gut, aber es geht nur, wenn wir uns nicht zugleich von unseren Mitmenschen entfernen. Solidarität mit den Armen ist auch gut, aber die haben zum Beispiel mehr vom Konsum fair gehandelter Waren als vom Konsumverzicht. Festzustellen, ob ich noch verzichten kann, ist auch gut, aber besser ist es, freigebig mit Geld und Gut, mit Zeit und Menschlichkeit umzugehen – und an­deren damit teil zu geben an dem Überfluss, den ich für mich selber gar nicht verbrauchen kann. Und mir selbst durchs Fasten was Gu­tes zu tun, ist ebenfalls nicht schlecht – aber mir sollte klar sein, dass ich damit auf das Lu­xus­problem des Überflusses reagiere, das viele Menschen – sagen wir, in Syrien oder in Bangladesch – gern gegen ihre Probleme eintau­schen würden.

Also: Fasten ist gut. Aber fasten und teilen ist besser. Denn nur bei­des zusammen ist verheißungsvoll. So bekommen es jedenfalls die Leute von Juda gesagt: „Dann“, wenn du fastest und teilst, „wird dein Licht her­vorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell vo­ranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschlie­ßen.“ Oder, wie es das Lied von Claus-Peter März sagt, das wir gleich singen werden: „Dann hat Gott unter uns schon sein Haus ge­baut, / dann wohnt er schon in unserer Welt. / Ja, dann schauen wir heut schon sein Angesicht / in der Liebe, die alles umfängt, / in der Liebe, die alles umfängt.“ Amen.

(Pfarrer Dr. Martin Klein)