Predigt Talkirche, Sonntag, 8. Dezember 2013

Gottedienst für den zweiten Advent 

Text: Offb. 3,7-13

Und dem Engel der Gemeinde in Philadelphia schreibe: Das sagt der Heilige, der Wahrhaftige, der da hat den Schlüssel Da­vids, der auftut, und niemand schließt zu, der zuschließt, und nie­mand tut auf:

Ich kenne deine Werke. Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan, und niemand kann sie zuschließen; denn du hast eine kleine Kraft und hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleug­net. Siehe, ich will deine Feinde dazu bringen, dass sie kommen sol­len und zu deinen Füßen niederfallen und erkennen, dass ich dich geliebt habe. Weil du mein Wort von der Geduld bewahrt hast, will auch ich dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die kommen wird über den ganzen Weltkreis, zu versuchen, die auf Erden woh­nen. Siehe, ich komme bald; halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme! 

Wer überwindet, den will ich machen zum Pfeiler in dem Tempel meines Gottes, und er soll nicht mehr hinausgehen, und ich will auf ihn schreiben den Namen meines Gottes und den Namen des neuen Jerusalem, der Stadt meines Gottes, die vom Himmel hernieder kommt von meinem Gott, und meinen Namen, den neuen. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt! Amen.

Was erwarten Sie von der Zukunft? Je nachdem, wen man fragt, fällt die Antwort wahrscheinlich sehr verschieden aus. Jugendliche zum Beispiel haben ihr Leben noch vor sich und erwarten deshalb eine Menge von der Zukunft: einen guten Schulabschluss, einen ordentli­chen Beruf, in dem sich viel Geld verdienen lässt, einen Partner fürs Leben, Kinder, ein Haus, die Möglichkeit, viel von der Welt zu se­hen. Alte Menschen dagegen, die ihr Leben gelebt haben, sind mit ihren Erwartungen meist bescheidener: einen ruhigen Lebensabend wün­schen sie sich und dann ein friedliches Ende ohne quälend lan­gen Leidensweg. Optimisten malen sich die Zukunft in den schöns­ten Farben aus: die Medizin besiegt Krankheiten und Altersbe­schwerden, die Naturwissenschaften er­schließen neue Energiequellen und Lebensmittel, bessere Bildungs­möglichkeiten lassen es im armen Teil der Welt aufwärts gehen und stop­pen die Bevölkerungsexplo­sion, Freiheit und Demokratie sorgen für Frieden und Gerechtigkeit. Pessimisten dagegen sehen schwarz, wenn sie an die Zukunft den­ken: Erst überschwemmt das steigende Meer die Küstenregionen, dann überschwemmen Armutsflüchtlinge die reichen Industrienatio­nen – vielleicht auch in umgekehrter Reihenfolge. Raubbau und Energieverschwendung verwandeln die Erde in eine Wüste. Und der Kampf um die knapp gewordenen Ressourcen sorgt für Krieg und Terror ohne Ende. Und auch, was die Kirche angeht, gibt es unter­schiedliche Erwartungen: Die einen glauben, dass unsere Kirche auch mit weniger Geld und Leuten eine Zukunft hat, während die anderen längst eine „Zukunft ohne Kirche“ vor sich sehen – und sich darauf freuen oder sich davor fürchten, je nachdem.

Und die Bibel? Was erwartet die von der Zukunft? Auch dort sind die Prognosen eher düster, wie es scheint. Das Sendschreiben an die Gemeinde in Philadelphia, das wir eben gehört haben, sieht die „Stunde der Versuchung“ kommen. Und wenn man die Offenbarung des Johannes weiterliest, erfährt man zur Genüge, was damit gemeint ist: Seuchen, Hungersnöte, Kriege, Naturkatastrophen, Verfolgung, Weltuntergang. Und das alles soll, wie schon die Überschrift der Of­fenbarung sagt, „in Kürze“ geschehen.

Nun ist die Welt bisher freilich nicht untergegangen. Insofern könnte man sagen, dass der Seher Johannes Unrecht hatte, zumal inzwischen 1900 Jahre vergangen sind, seit er auf der Insel Patmos seine Visio­nen niederschrieb. Aber alles andere, Krankheit und Krieg, Katastro­phen und Christenverfolgung, das hat diese ganzen 1900 Jahre sehr wohl geprägt, auch und gerade das Jahr 2013, das nun fast hinter uns liegt. Die „Stunde der Versuchung“ ist da, und sie scheint kein Ende zu neh­men. Tag für Tag stellt die Realität unseren Glauben auf eine harte Probe. Selbst für uns, die wir in Frieden, Freiheit und Wohl­stand leben, stellt jedes persönliche Unglück, aber auch jede Nach­richtensen­dung die Aussage in Frage, dass Gott die Welt so sehr ge­liebt hat, dass er seinen einzigen Sohn für sie dahingegeben hat. Wie kann man da standhaft bleiben und weiter auf Gott vertrauen?

Man kann es wohl nur so, wie die Gemeinde in Philadelphia es konnte. Trotz ihrer „kleinen Kraft“ nahm sie Gottes Verheißungen weiter beim Wort und wird von Johannes darin bestärkt. Dreimal steht dazu das Wörtchen „siehe“ im Text. „Schaut hin, passt gut auf“, lässt Jesus Christus seinen Leuten sagen, „das habe ich schon für euch getan, und das will ich noch tun.“

Das erste Siehe weist auf etwas hin, das schon Wirklichkeit ist: „Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan, und niemand kann sie zuschließen.“ Das heißt zunächst ganz schlicht: Es gibt immer noch eine Zukunft. Auch wenn alle Wege verrammelt zu sein scheinen: Irgendwo hält Gott eine Tür offen, hinter der es weitergeht. Und er will dafür sorgen, dass wir sie auch finden, wenn wir vielleicht auch längere Zeit danach suchen müssen. Nichts und niemand kann uns diese Tür vor der Nase zuschlagen, nicht einmal der Tod. Und das ist, wie gesagt, jetzt schon Wirklichkeit. Seit Gott als Mensch zur Welt gekommen ist, seit er in Christus für uns starb und auferstand, hat er sozusagen seinen Fuß in der Tür. Oder, mit einem alten Weih­nachtslied gesprochen: „Heut schließt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis. Der Cherub steht nicht mehr dafür – Gott sei Lob, Ehr und Preis!“

Das zweite Siehe muss erst noch Wirklichkeit werden: „Siehe, ich will deine Feinde dazu bringen, dass sie kommen sollen und zu dei­nen Füßen niederfallen und erkennen, dass ich dich geliebt habe.“ Christus will also dafür sorgen, dass unsere Feinde sich uns unter­werfen müssen. Das ist natürlich nicht gerade so ausgedrückt, wie eine Friedensgesellschaft es formulieren würde. Und Jesu Gebot in der Bergpredigt spricht auch eine andere Sprache. Da geht es nicht um Unterwerfung der Feinde durch Macht, sondern um ihre Überwindung durch Liebe. Aber für die verfolgten Christen von Philadelphia wäre das ein schwacher Trost gewesen. Sie beka­men ihn ja täglich zu spüren, den Hass ihrer Feinde im Bunde mit der geballten Staatsmacht des Römischen Reichs, und sie mussten des­halb um ihr Leben fürchten – so wie es ihren Glaubensgeschwistern in Syrien, Ägypten, Nigeria und anderswo heute immer noch ergeht. Da konnte nur eine größere Macht Hoffnung wecken, die den Fein­den ein für alle Mal das Handwerk legt: die Macht des auferstande­nen Christus, dem alle Gewalt im Himmel und auf Erden übergeben ist.

Und doch lässt die Verheißung auch für die Feinde hoffen. Denn sie gestehen ja nicht nur ihre Niederlage ein, sondern sie kommen auch zur Einsicht. Sie müssen zugeben und anerkennen, dass Gott diese Menschen liebt, denen sie so übel mitgespielt haben. Für fanatische Muslime, die Bomben in Kirchen werfen, aber auch für Christen, die es ihnen mit gleicher Münze heimzahlen, kann ich mir keine schlimmere Strafe vorstellen als diese Einsicht: Gott liebt die Men­schen, die wir umbringen oder zumindest gern umbringen würden. Aber diese schlimmste Strafe ist zugleich die größte Hoffnung, dass der ewige Teufelskreis der Vergeltung doch noch einmal ein Ende nehmen könnte, dass eines Tages Martin Luther Kings Traum war wird und ehemalige Feinde versöhnt am „Tisch der Brüderlichkeit“ sitzen.

Und dann noch das dritte Siehe, ein ganz kurzes: „Siehe, ich komme bald.“ Zukunft, das ist im Wortsinne ja das, was auf uns zukommt. Und hier verheißt uns Christus: Das, was auf euch zukommt, bald auf euch zukommt, das ist kein blindes Schicksal oder ein unausweichli­ches Verhängnis, sondern das bin ich, der auferstandene und wieder­kommende Herr. Nun ist das mit dem „bald“ natürlich so eine Sache, zumindest dann, wenn man es in Stunden und Minuten berechnen will. Auch die frömmsten Rechner sind daran immer wieder ge­scheitert und konnten doch die Finger nicht davon lassen. Aber dass Gott kommt, das ist ja nicht nur Zukunftsmusik. Seit Gott Mensch geworden ist damals im Stall von Bethlehem, ist es auch schon Ge­genwart. Gott kommt, aber er ist auch schon da. Mit seiner menschli­chen Seite, mit seinem Sohn Jesus Christus ist er uns näher, als wir denken. Bei ihm können wir deshalb Zuflucht finden in der Stunde der Versuchung, wenn das Leben und die Verhältnisse uns auf harte Proben stellen. Unsere „kleine Kraft“ mag dafür nicht reichen, ge­nauso wenig wie bei den Christen von Philadelphia. Aber Gott sorgt immer wieder dafür, dass uns diese „kleine Kraft“ trotzdem nicht ausgeht, und so kann sie mit Geduld und Standhaftigkeit erstaunliche Dinge vollbringen. Wenn es so geschieht, dann können wir es wieder für eine Weile aushalten in dieser Welt, in der Gottes Ankunft ein­fach nicht näher zu rücken scheint. Und wir können weiterhoffen, dass er eines Tages doch noch die Himmel aufreißt und die Erde neu werden lässt. Dann wird die Zeit da sein, aufzusehen und das Haupt zu erheben, weil sich unsere Erlösung naht. Amen.

(Pfarrer Dr. Martin Klein)