Predigt Talkirche, Sonntag, 15. Dezember 2013

Gottesdienst für den dritten Advent

Text: Offb 3,1-6

Und dem Engel der Gemeinde in Sardes schreibe:

Das sagt, der die sieben Geister Gottes hat und die sieben Sterne: Ich kenne deine Werke: Du hast den Namen, dass du lebst, und bist tot. Werde wach und stärke das Übrige, das sterben will, denn ich habe deine Werke nicht als erfüllt befunden vor meinem Gott. So denke nun daran, wie du empfangen und gehört hast, und halte es fest und tue Buße! Wenn du aber nicht wachen wirst, werde ich kommen wie ein Dieb, und du wirst nicht wissen, zu welcher Stunde ich über dich kommen werde. Aber du hast einige in Sardes, die ihre Kleider nicht besudelt haben; die werden mit mir einhergehen in weißen Kleidern, denn sie sind’s wert. 

Wer überwindet, der soll mit weißen Kleidern angetan werden, und ich werde seinen Namen nicht austilgen aus dem Buch des Lebens, und ich will seinen Namen bekennen vor meinem Vater und vor sei­nen Engeln. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!

Ich muss gestehen: Mir geht dieser für heute vorgeschlagene Pre­digttext ziemlich gegen den Strich. Erst einmal passt er überhaupt nicht zu unserer vorweihnachtlichen Stimmung und zu diesem festli­chen Gottes­dienst. Aber das könnte noch unser Fehler sein. Viel­leicht haben wir die Adventszeit, die mal eine Buß- und Fastenzeit war, inzwi­schen zu sehr in weihnachtlichen Glanz gehüllt und kön­nen deshalb nicht mehr verstehen, warum die Predigttexte dieser Zeit so viel vom kommenden Gericht reden. Dann könnte ein kräftiges Bußwort durchaus angebracht sein, damit wir uns wieder an den Sinn von Ad­vent erinnern.

Aber noch mehr und eigentlich stört mich an diesem Text etwas an­deres, und das ist die Denkweise, die dahinter steht. Muss ich denn wirklich ein bestimmtes Maß an guten Werken erfüllen, damit Gott mich nicht aus dem „Buch des Lebens“ streicht? Muss ich denn wirklich vor Jesus Christus mit tadellos weißer Weste dastehen, da­mit er sich vor Gott, dem Richter, zu mir bekennt? Wo bleibt denn da die Gnade, die Vergebung, die Barmherzigkeit? Johannes lässt hier den auferstandenen Christus sprechen. Aber hat der denn ganz ver­gessen, dass sein Tod am Kreuz es ist, seine aufopfernde Liebe und nichts sonst, die uns rein macht von aller Sünde?

Und worum geht es eigentlich bei den „besudelten Kleidern“ der Christen von Sardes? Etwa um sexuelle Verfehlungen, wie viele Ausleger meinen? Die – oder das, was man dafür hält – stehen ja auch bei so manchem Frommen unserer Tage ganz oben in der „Sün­denhierarchie“. „Dass Menschen vor Lampedusa ersaufen, geht vie­len frommen Menschen nicht so nah wie das persönliche Lebens­verhältnis von Herrn Gauck.“ Das sage nicht ich, sondern der Präses des Gnadauer Gemeinschaftsverbands, und der muss es ja wissen. Ist der Seher Johannes etwa auch so einer? Würde auch er sich heute über Segnungen gleichgeschlechtlicher Paare ereifern, die noch gar nicht stattgefunden haben, und Kriege, Katastrophen und Flüchtlingselend gleichmütig zur Kenntnis nehmen – womöglich noch als will­kom­mene Zeichen der Endzeit?

Nein, damit würden wir Johannes Unrecht tun. Denn ers­tens liegen 1900 Jahre zwischen ihm und den christlichen Funda­mentalisten von heute. Und zweitens war es für ihn, den Verfolgten und Verbannten, brennende Realität, was sich der fromme Sesselapoka­lyptiker nur aus sicherer Entfernung anschaut. Aber trotzdem kann ich verstehen, dass Martin Luther die Offenbarung des Johannes nicht mochte und sie am liebsten aus dem Neuen Testament gestrichen hätte.

Warum ich trotzdem über diesen Text predige? Nun, erstens möchte ich mich als Pfarrer auch vor schwierigen Texten nicht drücken. Und zweitens hat mich eine Aus­sage dann doch getroffen: „Du hast den Namen, dass du lebst, und bist tot“, heißt es da. Ein hartes Urteil. Könnte es sein, habe ich mich gefragt, dass es auch auf unsere Gemeinde zutrifft?

Denn wie die Gemeinde von Sardes stehen wir in Klafeld ja in dem Ruf, eine gesunde und lebendige Gemeinde zu sein – ein Ruf, den wir uns in den schwierigen Zeiten, die hinter uns liegen, mühsam erarbeitet haben und auf den wir deshalb auch gern ein bisschen stolz sind: Wir haben ein reichhaltiges Angebot an Gottesdiensten für alle Altersgruppen. Es gibt zahlreiche Gruppen, Chöre und Kreise, die das Gemeindeleben bereichern. Es gibt viele sehr engagierte Ehren­amtliche im Presbyterium, in der Jugendarbeit, im Bauteam und wo auch immer. Und es gibt – ein seltenes Gut in diesen Zeiten – sogar einen ausgeglichenen Haushalt.

Eine tote Ge­meinde stelle ich mir eigentlich anders vor: Zehn bis fünfzehn ältere Herrschaften verlieren sich sonntags morgens in einer riesigen Kirche, wo der Putz von den Wänden bröckelt. Zu viele Gemeindehäuser stehen weitgehend nutzlos in der Gegend herum. Die Pfarrer machen Dienst nach Vorschrift und haben vor engagier­ten Leuten eher Angst, weil sie ihnen ja zusätzliche Arbeit machen könnten. Die Pres­byter sind zerstritten und blockieren ­wichtige Ent­scheidungen. Und junge Leute kommen mit einer sol­chen Ge­meinde höchstens anlässlich ihrer Konfirmation in Berüh­rung. Da­nach er­greifen sie so schnell wie möglich die Flucht –  ver­ständli­cherweise. Aber das ist bei uns ja alles nicht so, und es war sicher auch damals in Sardes nicht so. Kann es denn dann sein, dass eine Gemeinde, die so lebendig wirkt, trotzdem tot ist?

Zugegeben, auch bei uns bröckelt es hie und da. Da gibt es altge­diente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die altersbedingt kürzer treten müssen, aber keine Nachfolger finden. Es gibt Kreise, die langsam aber sicher kleiner werden, weil leergewordene Plätze sich nicht wieder füllen. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen geht zu­rück, schon rein demographisch, und trotz guter Angebote bleibt nur ein kleiner Teil von ihnen bei uns „hängen“. Und auch die gesell­schaftlichen Rahmenbedingungen für die kirchliche Arbeit werden eher schlechter als besser – auch bei uns. Aber das allein würde das harte Urteil noch nicht rechtfertigen. Unsere Ge­meinde ist in diesem Sinne weder tot, noch liegt sie im Sterben. Und es gibt auch immer wieder Erfreuliches zu berichten, das uns für die Zukunft hoffen lässt – über den blühenden Kindergottesdienst hier in der Talkirche zum Beispiel. Oder über eine Jugendmitarbeiterschulung in diesem Jahr, an der knapp zwanzig junge Leute teilgenommen haben.

Aber der Tod kann eine Gemeinde auch auf anderem Wege ereilen: Nicht durch äußeren Schwund, sondern durch innere, geistliche Auszehrung. Das passiert zum Beispiel dann, wenn all die Betriebsamkeit zum reinen Selbstzweck wird und wir gar nicht mehr wissen, warum wir das letztlich tun. Zum Beispiel beim Weihnachtsmarkt: Geht es uns bei all dem lo­benswer­ten Einsatz nur darum, möglichst viele Menschen anzuzie­hen, um möglichst viel Geld für unser neues Haus zu sammeln, oder geht es uns noch darum, die Liebe und Menschenfreundlichkeit Gottes unter die Leute zu bringen? Sind wir es, die „mittendrin“ sind und zeigen, was wir für eine tolle Gemeinde sind, oder steht „mitten­drin“ Gott und sein Kommen in diese Welt? Wenn ersteres der Fall wäre, dann könnte es sein, dass unsere Gemeinde geistlich tot ist, selbst wenn die Kirche dreimal an einem Sonntag rappelvoll ist. Ähnliches gilt nicht nur für besondere Ereignisse, sondern auch für das normale Programm: Wenn wir zum Beispiel sonntags zwar aus Gewohnheit noch zum Gottesdienst gehen (was die meisten ja schon gar nicht mehr tun), aber nicht mehr ernsthaft damit rechnen, dass wir dort Gott begegnen und etwas davon mitnehmen können für un­seren Glauben und unser Leben, dann sind wir geistlich am Ende. Und wenn ich als Pfarrer nur noch deshalb von Gott rede, weil es halt mein Job ist und weil man es von mir erwartet, und nicht mehr aus Überzeugung, dann ist mein berufliches Dasein eine leblose An­gele­genheit.

Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich denke nicht, dass unsere Gemeinde oder unsere ganze Kirche in diesem Sinne geistlich tot ist. Sonst müsste ich ja auch alle wahren Christen zum Austritt auffor­dern und selber meinen Dienst quittieren, wie es ein Leserbrief in der „Siegener Zeitung“ neulich nahelegte. Aber uns den geistlichen Puls fühlen, das sollten wir schon regelmäßig tun und uns dabei ernsthafte Fragen stellen:  Weshalb machen wir das alles eigentlich? Weshalb gehören wir der Gemeinde an und arbeiten darin mit? Aus Pflichtge­fühl, aus Gewohnheit, aus Geltungs­bedürfnis, aus Spaß an der Freud? Oder deshalb, weil wir das, was wir glauben, auch mit Leib und Seele leben wollen? Jedes Wirtschaftsunternehmen, das etwas auf sich hält, legt sich heute eine „Unternehmensphilosophie“ zu, damit die Mit­arbeiter sich mit der Firma identifizieren. Das Unter­nehmen Kirche hat so etwas längst, ja, es hat sogar etwas viel Besse­res: einen „Trost im Leben und im Sterben“ – aber identifizieren wir uns noch damit? Spürt man es dem, was wir sagen und tun, noch ab, dass wir „mit Leib und Seele unserem Herrn Jesus Christus gehören“? Ich hoffe es, denn nur dann macht es Sinn, dass es auch in Zukunft noch eine Ev.-Ref. Kirchengemeinde Klafeld oder eine Ev. Kirche von Westfalen gibt.

Eins muss ich allerdings auch noch sagen: Selbst, wenn das harte Urteil über die Gemeinde in Sardes auch auf uns zuträfe, müsste das noch nicht das Ende sein. Denn auch für Sardes hat Johannes ja noch Hoffnung. Es gibt dort noch etwas, das man wieder zum Leben er­wecken kann. „Wach auf“, ruft Christus der Gemeinde deshalb zu, „denke daran, was du empfangen hast und wie eifrig du mal bei der Sache warst, und dann kehr um und fang neu an!“ Und schließlich gibt es ja auch in Sardes die wenigen, die wissen, woran sie glauben, und die auch entsprechend handeln.

Ich denke, dass es diese Menschen überall gibt. Auch in Gemeinden, die sonst einen ziemlich toten Eindruck machten, habe ich immer noch geistlich lebendige Menschen gefunden – manchmal an Orten, wo ich sie gar nicht vermutet hätte. Und ich glaube, hier bei uns gibt es davon eine ganze Menge. Viele sind schon lange in der Gemeinde aktiv. Aber manche warten vielleicht noch darauf, dass sie jemand anspricht und mitnimmt. Ich bin überzeugt, dass Gottes guter Geist auch hier in Geisweid oder Setzen, Sohlbach oder Birlenbach viele Gaben verteilt hat, von denen etliche erst noch ent­deckt werden müs­sen. Und Gottes Geist ist eine Lebens­quelle, die nie versiegt. Wir sollten uns also für sein Wirken immer offen halten.

Dann müssen wir uns auch nicht davor fürchten, dass Jesus Christus eines Tages kommt „wie ein Dieb in der Nacht“ und hinter unsere womöglich hohlen Fassaden schaut. Denn dann ist er ja Tag für Tag mitten unter uns. Dann sorgt er selber für das geistliche Le­ben, das wir durch noch so viel Aktionismus nicht produzieren können. Und dann sind wir bereit, ihn jederzeit bei uns zu empfan­gen, und wenn es in einer armseligen Hütte ist. Den, der im Stall von Bethlehem das Licht der Welt er­blickt hat, wird das nicht abschre­cken, bei uns ein­zukehren. Amen.

(Pfarrer Dr. Martin Klein)