Gottesdienst für den sechsten Sonntag nach Trinitatis
Text: Jes 43,1-7
Jedes Jahr im Sommer spielt sich am Kanal Kebar in Mesopotamien das gleiche Schauspiel ab. In der Siedlung Tel-Aviv hält die judäische Landsmannschaft ihr Jahrestreffen. Seit dem verlorenen Krieg, durch den sie aus ihrer Heimat vertrieben wurden, sind Jahrzehnte vergangen. Aber am Ritual des Treffens hat sich nichts verändert: Leviten und Tempelsänger treten auf, sie tragen ihre traditionellen Gewänder und singen die alten Psalmen, die einst im Tempel von Jerusalem erklangen. Die wenigen alten Männer und Frauen, die ihre Heimatstadt noch in alter Pracht gesehen haben, bekommen feuchte Augen. Die obligatorischen Festredner beschwören die versunkene Welt des Königreichs Juda. Sie klagen darüber, wie die jetzigen Bewohner des Landes alles verkommen lassen, und sie fordern ihr Recht auf Rückkehr ein – allerdings nicht zu laut. Denn gegen alles, was nach Revanchismus klingt, ist die babylonische Staatsmacht allergisch. Sie hat schließlich damals den Krieg gewonnen und die Führungsschicht von Juda hierher verschleppt, damit sie ihre Herrschaft nicht mehr in Frage stellt. Also belassen es die Redner lieber bei dem frommen Wunsch: „Nächstes Jahr in Jerusalem!“
Aber eigentlich ist allen klar, dass das leere Worte sind. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Nachgeborenen haben sich in Babel längst eingerichtet. Sie haben ein Geschäft aufgemacht oder ein Stück Land gekauft, und sie fühlen sich durchaus wohl im reichen Zweistromland. Für sie ist die Heimat ihrer Eltern und Großeltern nur noch ein fernes Märchenland – und für ihre Kinder erst recht. Auch mit dem Gott ihrer Väter rechnen sie nicht mehr. Er hat damals nicht geholfen, als Jerusalem in Schutt und Asche versank; also ist von ihm jetzt erst recht nichts mehr zu erwarten. Da ist es wichtiger, sich gut mit den Göttern der Babylonier zu stellen. Schließlich muss man der Realität ins Auge sehen. Die Alten, die noch an der alten Heimat hängen, sehen diese Entwicklung mit Kummer, aber auch sie haben resigniert. Sie beginnen sich damit abzufinden, dass sie ihr Grab in der Fremde finden werden. Aus alter Anhänglichkeit gehen sie zwar noch in die Synagoge. Aber dass der Gott Israels noch einmal eingreift, dass er sie aus Babel herausführt wie einst aus Ägypten, darauf wagen auch sie nicht mehr zu hoffen.
So ist nun mal der Stand der Dinge, und deshalb sind alle froh, als es mit den pflichtschuldigen Reden ein Ende hat. Nun kann man endlich zum gemütlichen Teil übergehen. Aber da tritt plötzlich doch noch einer unangemeldet ans Rednerpult und bittet um Aufmerksamkeit: keiner von den alten Funktionären, sondern ein junger Mann. Niemand weiß, wie er heißt und wo er auf einmal herkommt. Aber was er zu sagen hat, mit kräftiger Stimme und mitreißender Begeisterung, das lässt bald auch in den hintersten Ecken das Gemurmel verstummen:
Und nun spricht der Herr, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, und wenn du durch Ströme gehst, sollst du nicht ersaufen. Wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme wird dich nicht versengen. Denn ich bin der Herr, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland. Ich gebe Ägypten für dich als Lösegeld, Kusch und Seba an deiner statt. Weil du teuer bist in meinen Augen und herrlich und weil ich dich lieb habe, gebe ich Menschen an deiner statt und Völker für dein Leben.So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir. Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln, ich will sagen zum Norden: Gib her!, und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde, alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe.
So ungefähr stelle ich als Nachkriegsdeutscher mir das Auftreten dieses unbekannten Propheten vor. Weil wir’s nicht besser wissen, nennt die Wissenschaft ihn Deuterojesaja, den „Zweiten Jesaja“. Seine Worte müssen damals ungeheures Aufsehen erregt haben. Nach langem Schweigen meldet sich der Gott Israels wieder zu Wort. All den traurigen, enttäuschten und in ihre Alltagsgeschäfte versunkenen Israeliten öffnet er neu die Augen für eine andere Dimension: „Nun spricht der Herr, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel“.
Man könnte erwarten, dass auf diese Einleitung erst einmal Vorwürfe folgen: „Warum habt ihr mich vergessen? Warum habt ihr aus den Fehlern der Vergangenheit nichts gelernt? Warum kommt ihr nicht mehr zum Gottesdienst?“ und so weiter. Oder dass Gott zumindest Bedingungen stellt: „Wenn ihr Buße tut, wenn ihr euch wieder vorbehaltlos zu mir bekennt, dann können wir über die Heimkehr nach Jerusalem noch mal reden.“ Aber nichts dergleichen! Noch ehe sein Volk etwas davon wusste, geschweige denn irgendwelche Vorleistungen erbringen konnte, hat Gott schon alles perfekt gemacht: „Ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“. Und warum das alles? Nur aus einem einzigen Grund, der ebenso einfach wie unerklärlich ist: „weil ich dich lieb habe“. Nun tun ja schon Menschen aus Liebe die unmöglichsten Dinge. Erst recht ist es so, wenn Gott jemanden lieb hat. Und deshalb verheißt der Prophet die Heimkehr aller Israeliten: aus allen Himmelsrichtungen wird Gott sie heim zum Zion bringen.
Diese Worte haben ihre Wirkung getan. An ihnen hat Israel sich aufgerichtet, auch dann noch, als nicht alle Ankündigungen des Propheten eintrafen. Wohl durfte ein Teil der Vertriebenen in die Heimat zurück, nachdem die Perser Babel erobert hatten, aber eben nicht alle Israeliten aus aller Welt. Und auch sonst war der Neuanfang eher bescheiden. Trotzdem: das „Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst“, das ließen sie sich nicht mehr nehmen. Und nicht nur Juden, sondern auch Christen haben sich immer wieder durch diese Worte angesprochen gefühlt. Viele verwenden diesen Vers als Taufspruch. Und tatsächlich drückt er genau das aus, worum es bei der Taufe geht. Dazu möchte ich nun noch drei Dinge sagen.
Das erste ist: Gott hat uns allen das Leben geschenkt. Natürlich haben viele ihren Teil dazu beigetragen, dass wir heil auf die Welt gekommen sind: Eltern, Hebammen, Ärzte und manche andere. Aber trotzdem gäbe es uns nicht, wenn nicht Gott als der gute Schöpfer dahinter stünde. Dort, wo im Bibeltext „Jakob“ und „Israel“ steht, können wir also getrost unseren eigenen Namen einsetzen: Leonie, Milena, Martin – wie auch immer wir heißen. Und deshalb dürfen wir alle mit Martin Luther sagen: „Ich glaube, dass Gott mich geschaffen hat samt allen Kreaturen“.
Das zweite ist: Gott sagt Ja zu mir und zu allen anderen auch. Davon reden wir Pastoren ziemlich oft. Man könnte deshalb meinen, dass das doch selbstverständlich ist. Wenn Gott uns geschaffen hat, dann muss er uns doch auch lieben. Aber so selbstverständlich ist das gar nicht. Denn schließlich sagen wir Menschen nur allzu oft Nein zu Gott oder wir verhalten uns zumindest so, als ob wir Nein zu ihm gesagt hätten. Es wäre also verständlich, wenn Gott bei jedem Menschenkind, das zur Welt kommt, erstmal abwarten würde, wie der oder die sich entwickelt. Denn wie steht Gott denn da, wenn er jemanden einfach so annimmt, und dann will sie oder er eines Tages gar nichts von ihm wissen! Kein vernünftiger Mensch stellt doch eine Blanko-Vollmacht aus für jemanden, den er noch gar nicht richtig kennt! Aber zu unserem Glück ist Gott kein vernünftiger Mensch. Gott ist die Liebe, wie es Leonies Taufspruch sagt. So wie bei den Israeliten damals sagt er deshalb bedingungslos Ja zu uns und wartet nicht auf Vorleistungen. Denn er hat dieses Ja längst für uns alle gesprochen, als er in Jesus Mensch geworden ist. Und er hat es besiegelt mit seinem Tod am Kreuz und seiner Auferweckung von den Toten. Dieses schon besiegelte Ja wurde uns bei unserer Taufe zugesprochen: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du gehörst zu mir.“ Und wir können darauf vertrauen: Nichts, aber auch gar nichts kann Gott dazu bringen, sein Ja zurückzunehmen.
Und jetzt ist noch ein drittes wichtig: Ich glaube, dass das Ja Gottes uns durchs Leben begleitet. Wir können uns immer wieder daran aufrichten, wenn wir in Schwierigkeiten geraten, so dass wir spüren, was der Prophet bildhaft ausdrückt: „Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, und wenn du durch Ströme gehst, sollst du nicht ersaufen. Wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme wird dich nicht versengen.“ Aber damit das möglich wird, müssen wir von dem Ja Gottes auch etwas erfahren. Gott hätte die Israeliten damals noch so lieben können, sie wären enttäuscht und mutlos geblieben, wenn Gott nicht einen Propheten geschickt hätte, der es ihnen sagt. Und so geht es auch den Kindern, die getauft werden wie die kleine Leonie heute: Sie hat nichts von ihrer Taufe, wenn ihr niemand davon erzählt und ihr sagt, was sie bedeutet. Zu ihr schickt Gott uns: als Eltern, Großeltern, Paten, aber auch als christliche Gemeinde. Es ist unsere Aufgabe, den Kindern das weiterzugeben, was wir von Gott wissen. Als Kirche tun wir das in unseren Kindergärten, im Kindergottesdienst oder in der Konfirmandenarbeit. Aber wir können es auch persönlich tun – vielleicht durch Kindergebete oder biblische Geschichten. Aber auf jeden Fall können wir den Kindern durch unsere Liebe und unser Interesse an ihnen eine Vorstellung von der Liebe Gottes vermitteln. Das ist keine leichte Aufgabe, aber eine lohnende. Denn schließlich gehört unseren Kindern die Zukunft – in unserer Familie, unserem Land und unserer Gemeinde. Gott möge also dafür sorgen, dass wir diese Aufgabe nie aus den Augen verlieren. Amen.