Predigt Talkirche, Sonntag, 09. Juli 2023

Gottesdienst für den sechsten Sonntag nach Trinitatis

Text: Jes 43,1-7

Jedes Jahr im Sommer spielt sich am Kanal Kebar in Mesopotamien das gleiche Schauspiel ab. In der Siedlung Tel-Aviv hält die ju­däi­sche Landsmannschaft ihr Jah­restreffen. Seit dem verlorenen Krieg, durch den sie aus ihrer Heimat vertrieben wurden, sind Jahrzehnte ver­gangen. Aber am Ritual des Treffens hat sich nichts verän­dert: Leviten und Tempelsänger treten auf, sie tragen ihre tradi­tio­nellen Gewänder und singen die alten Psalmen, die einst im Tem­pel von Jerusalem erklangen. Die wenigen alten Männer und Frauen, die ihre Heimatstadt noch in alter Pracht gesehen haben, bekommen feuchte Augen. Die obligatorischen Festredner be­schwö­ren die ver­sunkene Welt des Königreichs Juda. Sie klagen darüber, wie die jet­zigen Be­woh­ner des Landes alles verkommen lassen, und sie fordern ihr Recht auf Rückkehr ein – allerdings nicht zu laut. Denn gegen alles, was nach Revanchismus klingt, ist die babylonische Staats­macht al­lergisch. Sie hat schließlich damals den Krieg gewonnen und die Führungsschicht von Juda hierher verschleppt, damit sie ihre Herr­schaft nicht mehr in Frage stellt. Also belassen es die Redner lieber bei dem frommen Wunsch: „Nächstes Jahr in Jerusalem!“

Aber eigentlich ist allen klar, dass das leere Worte sind. Die Wirk­lichkeit sieht anders aus. Die Nachgebore­nen haben sich in Babel längst eingerichtet. Sie ha­ben ein Ge­schäft aufgemacht oder ein Stück Land gekauft, und sie fühlen sich durchaus wohl im reichen Zweistromland. Für sie ist die Heimat ihrer Eltern und Groß­eltern nur noch ein fernes Märchenland – und für ihre Kinder erst recht. Auch mit dem Gott ihrer Väter rechnen sie nicht mehr. Er hat damals nicht geholfen, als Jerusalem in Schutt und Asche versank; also ist von ihm jetzt erst recht nichts mehr zu erwar­ten. Da ist es wichtiger, sich gut mit den Göttern der Babylonier zu stellen. Schließlich muss man der Realität ins Auge se­hen. Die Alten, die noch an der alten Heimat hängen, sehen diese Entwicklung mit Kummer, aber auch sie haben resigniert. Sie begin­nen sich damit abzufinden, dass sie ihr Grab in der Fremde finden werden. Aus alter Anhänglichkeit gehen sie zwar noch in die Syn­agoge. Aber dass der Gott Israels noch einmal ein­greift, dass er sie aus Babel herausführt wie einst aus Ägypten, darauf wagen auch sie nicht mehr zu hoffen.

So ist nun mal der Stand der Dinge, und deshalb sind alle froh, als es mit den pflichtschuldigen Reden ein Ende hat. Nun kann man endlich zum gemütlichen Teil übergehen. Aber da tritt plötzlich doch noch einer unan­gemeldet ans Rednerpult und bittet um Aufmerksamkeit: kei­ner von den alten Funktionären, sondern ein junger Mann. Nie­mand weiß, wie er heißt und wo er auf einmal herkommt. Aber was er zu sagen hat, mit kräftiger Stimme und mitreißender Begeisterung, das lässt bald auch in den hintersten Ecken das Gemur­mel verstum­men:

Und nun spricht der Herr, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, und wenn du durch Ströme gehst, sollst du nicht ersaufen. Wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht bren­nen, und die Flamme wird dich nicht versengen. Denn ich bin der Herr, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland. Ich gebe Ägypten für dich als Lösegeld, Kusch und Seba an deiner statt. Weil du teuer bist in meinen Augen und herrlich und weil ich dich lieb habe, gebe ich Menschen an deiner statt und Völker für dein Leben.So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir. Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln, ich will sagen zum Norden: Gib her!, und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde, alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe.

So ungefähr stelle ich als Nachkriegsdeutscher mir das Auftreten dieses unbekannten Prophe­ten vor­. Weil wir’s nicht besser wissen, nennt die Wissenschaft ihn Deu­terojesaja, den „Zweiten Jesaja“. Seine Worte müssen damals unge­heures Auf­sehen erregt haben. Nach langem Schweigen meldet sich der Gott Israels wieder zu Wort. All den traurigen, enttäuschten und in ihre Alltagsgeschäfte versun­kenen Israeliten öffnet er neu die Au­gen für eine andere Dimension: „Nun spricht der Herr, der dich ge­schaf­fen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel“.

Man könnte er­warten, dass auf diese Einleitung erst einmal Vorwürfe folgen: „Wa­rum habt ihr mich vergessen? Warum habt ihr aus den Fehlern der Vergangen­heit nichts gelernt? Warum kommt ihr nicht mehr zum Gottes­dienst?“ und so weiter. Oder dass Gott zumindest Bedingun­gen stellt: „Wenn ihr Buße tut, wenn ihr euch wieder vor­behaltlos zu mir bekennt, dann können wir über die Heim­kehr nach Jerusalem noch mal re­den.“ Aber nichts dergleichen! Noch ehe sein Volk etwas davon wusste, geschweige denn irgendwelche Vorleis­tungen erbringen konnte, hat Gott schon alles perfekt gemacht: „Ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“. Und warum das al­les? Nur aus einem einzigen Grund, der ebenso einfach wie unerklärlich ist: „weil ich dich lieb habe“. Nun tun ja schon Men­schen aus Liebe die unmöglichsten Dinge. Erst recht ist es so, wenn Gott jemanden lieb hat. Und deshalb verheißt der Prophet die Heim­kehr aller Israeliten: aus allen Himmelsrichtun­gen wird Gott sie heim zum Zion bringen.

Diese Worte haben ihre Wirkung getan. An ihnen hat Israel sich auf­gerichtet, auch dann noch, als nicht alle Ankündigungen des Pro­phe­ten eintrafen. Wohl durfte ein Teil der Vertrie­benen in die Heimat zurück, nachdem die Perser Babel erobert hatten, aber eben nicht alle Israeliten aus aller Welt. Und auch sonst war der Neuanfang eher bescheiden. Trotzdem: das „Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst“, das ließen sie sich nicht mehr nehmen. Und nicht nur Juden, sondern auch Christen haben sich immer wieder durch diese Worte angespro­chen gefühlt. Viele verwenden diesen Vers als Taufspruch. Und tat­sächlich drückt er genau das aus, worum es bei der Taufe geht. Dazu möchte ich nun noch drei Dinge sagen.

Das erste ist: Gott hat uns allen das Leben geschenkt. Natürlich ha­ben viele ihren Teil dazu bei­getragen, dass wir heil auf die Welt ge­kommen sind: Eltern, Hebammen, Ärzte und manche andere. Aber trotzdem gäbe es uns nicht, wenn nicht Gott als der gute Schöpfer dahinter stünde. Dort, wo im Bibeltext „Jakob“ und „Israel“ steht, können wir also getrost unseren eigenen Namen einsetzen: Leo­nie, Milena, Martin – wie auch immer wir heißen. Und des­halb dür­fen wir alle mit Martin Luther sagen: „Ich glaube, dass Gott mich ge­schaf­fen hat samt allen Kreaturen“.

Das zweite ist: Gott sagt Ja zu mir und zu allen anderen auch. Da­von reden wir Pastoren ziemlich oft. Man könnte deshalb meinen, dass das doch selbstver­ständlich ist. Wenn Gott uns geschaffen hat, dann muss er uns doch auch lieben. Aber so selbstverständlich ist das gar nicht. Denn schließlich sagen wir Menschen nur allzu oft Nein zu Gott oder wir verhalten uns zumindest so, als ob wir Nein zu ihm gesagt hätten. Es wäre also verständlich, wenn Gott bei jedem Men­schenkind, das zur Welt kommt, erstmal abwarten würde, wie der oder die sich entwickelt. Denn wie steht Gott denn da, wenn er je­manden einfach so annimmt, und dann will sie oder er eines Tages gar nichts von ihm wissen! Kein vernünftiger Mensch stellt doch eine Blanko-Vollmacht aus für jemanden, den er noch gar nicht richtig kennt! Aber zu unserem Glück ist Gott kein ver­nünftiger Mensch. Gott ist die Liebe, wie es Leonies Taufspruch sagt. So wie bei den Israeliten damals sagt er deshalb bedingungslos Ja zu uns und wartet nicht auf Vorleistungen. Denn er hat dieses Ja längst für uns alle ge­sprochen, als er in Jesus Mensch geworden ist. Und er hat es besie­gelt mit seinem Tod am Kreuz und seiner Auferweckung von den Toten. Dieses schon besiegelte Ja wurde uns bei unserer Taufe zuge­sprochen: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du ge­hörst zu mir.“ Und wir können darauf vertrauen: Nichts, aber auch gar nichts kann Gott dazu brin­gen, sein Ja zurückzunehmen.

Und jetzt ist noch ein drittes wichtig: Ich glaube, dass das Ja Gottes uns durchs Leben begleitet. Wir können uns immer wieder daran auf­richten, wenn wir in Schwierig­keiten geraten, so dass wir spüren, was der Prophet bildhaft aus­drückt: „Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, und wenn du durch Ströme gehst, sollst du nicht er­sau­fen. Wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme wird dich nicht versengen.“ Aber damit das möglich wird, müssen wir von dem Ja Gottes auch etwas erfah­ren. Gott hätte die Israeliten da­mals noch so lieben können, sie wären enttäuscht und mutlos geblieben, wenn Gott nicht einen Propheten geschickt hätte, der es ih­nen sagt. Und so geht es auch den Kindern, die getauft wer­den wie die kleine Leonie heute: Sie hat nichts von ihrer Taufe, wenn ihr niemand davon er­zählt und ihr sagt, was sie bedeutet. Zu ihr schickt Gott uns: als Eltern, Großel­tern, Paten, aber auch als christli­che Gemeinde. Es ist un­sere Aufgabe, den Kindern das weiter­zuge­ben, was wir von Gott wissen. Als Kirche tun wir das in unseren Kinder­gärten, im Kindergottesdienst oder in der Konfirmandenarbeit. Aber wir können es auch persön­lich tun – vielleicht durch Kin­der­gebete oder biblische Geschichten. Aber auf jeden Fall können wir den Kin­dern durch unsere Liebe und unser Interesse an ihnen eine Vorstellung von der Liebe Gottes vermitteln. Das ist keine leichte Aufgabe, aber eine lohnende. Denn schließlich gehört unseren Kin­dern die Zukunft – in unserer Familie, unserem Land und unserer Gemeinde. Gott möge also dafür sorgen, dass wir diese Aufgabe nie aus den Au­gen verlie­ren. Amen.