Predigt, Talkirche, Sonntag, 06.05.2018

Gottesdienst am Sonntag Rogate

Text: Kol 4,2-4

Seid beharrlich im Gebet und wacht in ihm mit Danksagung! Betet zugleich auch für uns, auf dass Gott uns eine Tür für das Wort auftue und wir vom Geheimnis Christi sagen können, um dessentwillen ich auch in Fesseln bin, damit ich es offenbar mache, wie ich es soll.

„Herr, lehre uns beten!“ Diese Bitte richteten einst die Jünger an Jesus. Das ist lange her. Aber trotzdem ist die Bitte der Jünger wohl aktueller als je zuvor. Denn nach meinem Eindruck haben viele Menschen das Beten verlernt. Gleichzeitig spüren sie aber, dass ihnen da etwas Wichtiges fehlt. Und dann rennen sie in Meditationsseminare, fahren zu Einkehrwochen ins Kloster und schauen mit stillem Neid auf das rege Gebetsleben gläubiger Muslime oder Buddhisten. Beten ist offensichtlich eine Ausdrucksmöglichkeit des Menschen, die sich nicht einfach ersatzlos streichen lässt. Aber wie sollen wir es wieder lernen?
Die Antwort Jesu auf die Bitte seiner Jünger war das Vaterunser. Wir sprechen es bis heute in jedem Gottesdienst. Und ich denke, es gibt wirklich kein anderes Gebet, das unsere Anliegen so kurz und zugleich so umfassend vor Gott bringt. Trotzdem glaube ich, dass viele Menschen ein solches vorformuliertes Gebet – ein Vaterunser, einen Psalm oder was auch immer – gar nicht mehr bewusst als Gebet wahrnehmen. Da wird aus Tradition etwas aufgesagt oder abgelesen, aber kaum jemand ist mit dem Herzen dabei. Weil die Sprache zu fremd ist. Oder weil man seine Gedanken gerade woanders hat. Ich muss gestehen, dass es mir auch manchmal so geht.
Mit „echtem“ Gebet verbinden wir dagegen etwas anderes. So wie die Mönche, von denen eine Anekdote erzählt: Während sie in der Klosterkirche ihr Stundengebet abhalten, geht ein schreckliches Unwetter nieder. Zunächst lassen sie sich nicht stören und singen weiter ihre Psalmen. Aber der Donner kracht immer lauter, der Sturm wird immer heftiger und schließlich beginnt es zu hageln. Da ruft der Abt: „Hört auf! Lasst uns lieber beten!“
Kein Zweifel: ein Stoßgebet in der Not, eine verzweifelte Bitte in auswegloser Lage, die sind nicht aufgesagt, sondern kommen von Herzen. Aber ist das alles? Ist Beten nur etwas für Ausnahmesituationen? Ist es so eine Art geistlicher Feuerlöscher: man hat ihn zwar, aber man hofft, dass man ihn nie benutzen muss? Wenn Beten nur das wäre, dann wäre die Bitte „Lehre uns beten“ überflüssig. Denn in der Not um Hilfe zu schreien, das muss man nicht lernen. Das kann man auch so.
Dazu kommt ein weiteres Problem: Not lehrt zwar beten, aber nur, wenn sie nicht zu lange dauert. Denn wer um Hilfe schreit, der möchte natürlich gerettet werden. Was aber, wenn die Rettung ausbleibt, obwohl ich doch so darum gebetet habe? Dann komme ich rasch zu der Überzeugung: „Beten hilft ja doch nicht!“ und lass es bleiben.
Aber Beten kann auch mehr sein. Ich erinnere mich da immer noch an eine alte Frau aus meinen ersten Pfarrer-Jahren. Sie war durch einen Schlaganfall gelähmt und schon lange bettlägerig. Sie konnte nur wenig sprechen und nahm von ihrer Umgebung nicht mehr viel wahr. Aber ein altes Abendgebet, das konnte sie noch und sagte es immer wieder: „Breit aus die Flügel beide, o Jesu, meine Freude, und nimm dein Küchlein ein! Will Satan mich verschlingen, so lass die Englein singen: ,Dies Kind soll unverletzet sein.’“ Als sie noch ein Kind war, da hatte ihre Mutter diese Liedstrophe von Paul Gerhardt wohl abends an ihrem Bett gesprochen. Fast neunzig Jahre waren seitdem vergangen, und ein wechselvolles Leben lag hinter ihr. Aber dieses Gebet hatte sie nie vergessen. Und jetzt, wo die Welt und das Leben allmählich ihrem Blick entschwanden, hatte sie an diesem Gebet einen festen Halt. Sie konnte damit etwas ausdrücken, wofür sie sonst keine Worte hatte. Wohl mir, wenn ich das auch noch kann, sollte ich in eine ähnliche Lage kommen! Und wohl den Eltern, die auch heute noch mit ihren Kindern Gute-Nacht-Gebete sprechen!
Aber wie kann man denn nun lernen, so zu beten? Der Abschnitt aus dem Kolosserbrief, den wir eben gehört haben gibt uns dazu ein paar gute Hinweise.
Der wichtigste Hinweis steht gleich am Anfang: „Seid beharrlich im Gebet!“ Für mich heißt das: Gebet, das Halt gibt und Ruhe schenkt, ist mehr als ein gelegentliches Stoßgebet. Es ist auch mehr als regelmäßiges Gebet im Gottesdienst. Beharrlich im Gebet zu sein, das heißt, das Gebet zu einer Lebenseinstellung zu machen. Und deren Inhalt lässt sich so wiedergeben: Mach dir bewusst, dass Gott da ist bei allem, was du tust und lässt. Und dann lebe und handle so, dass du immer mit Gott im Gespräch bleibst.
Dazu kann es hilfreich sein, dass ich mir bestimmte Zeiten für das Gebet freihalte. Dass ich zum Beispiel morgens und abends den Tag, der vor oder hinter einem liegt, überdenke und den Dank oder die Bitten vor Gott bringe, die sich daraus ergeben. Oder dass ich einfach Zeit für die Stille reserviere, wo ich die ständige Geräuschkulisse des Alltags ausblende und mir bewusst mache, dass Gott da ist. Denn Beten heißt nicht nur mit Gott reden, sondern auch ihm zuhören. Aber auch Handeln kann Beten sein – nämlich dann, wenn ich bei dem, was ich tue, bewusst nach Gott frage und mich mit meinen Entscheidungen nach seinen Geboten richte.
Also Beharrlichkeit gehört zum Gebet – in Wort und Tat. Was noch? „Wacht im Gebet mit Danksagung!“ heißt es weiter im Kolosserbrief. Das kann man nicht dick genug unterstreichen. Denn wenn sich unser Beten aufs Bitten beschränkt, dann lässt es sich allzu leicht einreihen in unser typisches Verhalten, wo jeder erst mal zusieht, dass er seine Forderungen durchsetzt: Gewerkschaften haben Forderungen an die Arbeitgeber, Bürgerinitiativen an die Politiker, Eltern an die Lehrer, Kinder an die Eltern. Und weil die wenigsten Forderungen hundertprozentig erfüllt werden, sind Frust und Enttäuschung dabei vorprogrammiert. Deshalb sind wir gut beraten, wenn wir unsere Gebete mit dem Dank beginnen. Denn Gründe, Gott zu danken, gibt es immer – auch wenn es uns schlecht geht, auch wenn uns viel Böses widerfährt. Und wenn wir mit dem Danken fertig sind, hat sich manche Bitte vielleicht schon erledigt.
Und noch ein Drittes: „Betet zugleich auch für uns!“ Denn auch das ist ein Fehler, den wir beim Beten leicht machen: dass wir uns nur um uns selber drehen: um unsere Sorgen, vielleicht auch um unsere Freuden. Und wenn andere in unserem Gebet vorkommen, dann oft nur diejenigen, deren Schicksal uns persönlich nahe geht. Der Kolosserbrief regt uns an, unseren Gebetshorizont zu erweitern. Beten mag im stillen Kämmerlein geschehen, aber seine Wirkung reicht so weit wie das Wirken Gottes, und das heißt überallhin. Beten ist also keineswegs weltfremd; im Gegenteil: Gerade zur Fürbitte gehört, dass man wahrnimmt, was in der Welt um einen herum vorgeht. Paulus erinnert seine Kolosser daran, wenn er ihnen schreiben lässt: Ich brauche eure Gebete! Wenn ich mit Vollmacht das Evangelium verkündigen soll, dann müsst ihr im Gebet hinter mir stehen. Dabei ist natürlich klar, dass nicht jeder von uns für alle sieben und mehr Milliarden Menschen Fürbitte tun kann. Aber wenn jeder Mensch auf Erden mindestens einen hätte, der für ihn betet, das wäre schon viel wert.
Mit diesen drei Hinweisen soll es genug sein. Denn mit dem Beten ist es wie mit vielem anderen auch: Man kann es letztlich nur lernen, wenn man es tut. Dazu sollte diese Predigt ein wenig Mut machen. Und wir sollten uns nicht dadurch beunruhigen lassen, dass wir nicht gleich die richtigen Worte finden. Gott versteht auch unsere unformulierten, vielleicht sogar unformulierbaren Anliegen. Und ich vertraue darauf, dass er uns nicht ohne Antwort lassen wird. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein