Predigt Talkirche, Sonntag, 05. Februar 2017

Text: Ex 3,1-14

Ich beginne meine Predigt mit einer schlichten, aber doch bedenkenswerten Frage: Wozu braucht eigentlich jeder Mensch einen Namen? Wahrscheinlich haben Sie sich diese Frage bisher selten oder nie gestellt. Warum auch? Es ist doch selbstverständlich, dass jeder Mensch einen Namen hat! Aber ich frage trotzdem: Weshalb muss das so sein? Die Tiere, wenn sie nicht gerade Haustiere sind, kommen doch ohne Namen auch ganz gut durchs Leben. Sicher, es gibt Gelegenheiten, da muss man einen Menschen eindeutig identifizieren können. Aber dafür tut’s auch ein Nummerncode. Der wäre sogar viel genauer, wenn ich an die elf Werner Schneiders im Siegener Telefonbuch denke. Sicher, ich muss meinen Namen laufend unter irgendwelche Dokumente und Formulare schreiben, damit sie gültig werden. Aber ein Fingerabdruck wäre genauso unverwechselbar und außerdem nicht so leicht zu fälschen. Es kann also nicht nur an diesen alltäglichen Dingen liegen, dass ein Mensch einen Namen braucht.

Ich glaube, der wahre Grund liegt tiefer. Dass man uns nicht verwechseln kann, dafür reichen Nummerncode und Fingerabdruck. Aber erst unser Name macht uns zu einer unverwechselbaren Person. Wenn ich keinen Namen hätte oder ihn nicht kennen würde, dann wüsste ich auch nicht wirklich, wer ich bin. Und wenn ich zu einem anderen Menschen in persönlichen Kontakt treten möchte, dann müssen wir voneinander wissen, wie wir heißen. Wenn ein wirkliches und dauerhaftes Verhältnis zwischen uns entstehen soll, dann muss klar sein, wie wir uns anreden sollen. Im Seniorenkreis meiner Vikariatsgemeinde hieß es mal: „Wo ist eigentlich die Frau, die da hinten immer sitzt?“ Immerhin war jemandem aufgefallen, dass die Betreffende lange nicht da war. Und doch empfand ich es als Alarmsignal, dass selbst Leute, die seit vielen Jahren den gleichen Kreis besuchten, nicht voneinander wussten, wie sie hießen. Echte Gemeinschaft stelle ich mir anders vor.

Ich denke, damit ist die Eingangsfrage ausreichend beantwortet. Jeder Mensch braucht einen Namen, weil er sonst nicht wirklich Mensch wäre: nämlich eine unverwechselbare Persönlichkeit, die in Verbindung steht mit anderen unverwechselbaren Persönlichkeiten.

So weit, so gut. Aber jetzt stelle ich eine zweite Frage: Wie ist das eigentlich mit Gott? Braucht Gott auch einen Namen, um wirklich Gott zu sein? Wenn es um unser Verhältnis zu Gott geht, dann ist das mit dem Namen offenbar nicht so selbstverständlich. Der alte Goethe zum Beispiel lässt seinen Faust sagen: „Nenn es … wie du willst: / Nenns Glück! Herz! Liebe! Gott! / Ich habe keinen Namen / Dafür! Gefühl ist alles; / Name ist Schall und Rauch“. Hat er nicht Recht? Ist Gott nicht völlig anders, unfassbar und unbegreiflich? Wäre es da nicht unpassend, wenn er einen Namen hätte wie du und ich?

Die Bibel sieht das anders. Und deshalb erzählt der heutige Predigttext davon, wie Gott dem Volk Israel seinen Namen sagt. Wir können ihn nachlesen im zweiten Buch Mose, in Kapitel drei:

Mose aber hütete die Schafe Jitros, seines Schwiegervaters, des Priesters in Midian, und trieb die Schafe über die Steppe hinaus und kam an den Berg Gottes, den Horeb. Und der Engel des Herrn erschien ihm in einer feurigen Flamme aus dem Dornbusch. Und er sah, dass der Busch im Feuer brannte und doch nicht verzehrt wurde. Da sprach er: „Ich will hingehen und diese wundersame Erscheinung besehen, warum der Busch nicht verbrennt.“ Als aber der Herr sah, dass er hinging, um zu sehen, rief Gott ihn aus dem Busch und sprach: „Mose, Mose!“ Er antwortete: „Hier bin ich.“ Er sprach: „Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land!“

Und er sprach weiter: „Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs.“ Und Mose verhüllte sein Angesicht; denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen. Und der Herr sprach: „Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen, und ihr Geschrei über ihre Bedränger habe ich gehört; ich habe ihre Leiden erkannt. Und ich bin herniedergefahren, dass ich sie errette aus der Ägypter Hand und sie aus diesem Lande hinaufführe in ein gutes und weites Land, in ein Land, darin Milch und Honig fließt, in das Gebiet der Kanaaniter, Hetiter, Amoriter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter. Weil denn nun das Geschrei der Israeliten vor mich gekommen ist und ich dazu ihre Drangsal gesehen habe, wie die Ägypter sie bedrängen, so geh nun hin, ich will dich zum Pharao senden, damit du mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten führst.“

Mose sprach zu Gott: „Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehe und führe die Israeliten aus Ägypten?“ Er sprach: „Ich will mit dir sein. Und das soll dir das Zeichen sein, dass ich dich gesandt habe: Wenn du mein Volk aus Ägypten geführt hast, werdet ihr Gott dienen auf diesem Berge.“

Mose sprach zu Gott: „Siehe, wenn ich zu den Israeliten komme und spreche zu ihnen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt!, und sie mir sagen werden: Wie ist sein Name?, was soll ich ihnen sagen?“ Gott sprach zu Mose: „Ich werde sein, der ich sein werde.“ Und sprach: „So sollst du zu den Israeliten sagen: »Ich werde sein«, der hat mich zu euch gesandt.“

Was sagt nun dieser Text über den Namen Gottes? Zunächst einmal stellen wir beim Lesen fest, dass er hier ganz verschieden benannt wird. Am häufigsten heißt er schlicht „Gott“. Das ist uns vertraut, denn so machen wir es ja meistens auch. Wir gebrauchen einfach das Wort „Gott“ als Eigennamen. Wir tun das, ohne groß nachzudenken. Aber trotzdem ist damit schon etwas Wesentliches über Gott gesagt, nämlich dass es nur einen gibt. Wenn wir mit einem alten Griechen über „Gott“ reden würden, dann würde er uns fragen: „Welcher denn? Zeus oder Poseidon oder Apollo? Oder eine von den Göttinnen vielleicht?“ Wenn wir heute über Gott reden, haben wir dieses Problem nicht mehr. Was auch immer wir und unsere Zeitgenossen von Gott halten: dass es nur einen gibt, wenn es ihn gibt, darüber besteht weitgehend Einigkeit. Und immerhin: rund 80 Prozent unserer Bevölkerung glauben immer noch, dass es einen Gott gibt. Zumindest, wenn man den Umfragen trauen kann. Aber wenn Gott nur „Gott“ heißt, wenn er sonst keinen Namen hat, dann ist er noch keine unverwechselbare Persönlichkeit. Er ist niemand, mit dem ich persönlich in Kontakt treten könnte. Niemand, der in mein Leben gehört, so wie meine Frau, meine Kinder oder meine Arbeitskollegen. Ich mag dann zwar eine hohe Meinung von ihm haben, ihn für ewig und allmächtig halten. Aber letztlich ist er doch nicht mehr für mich als ein zufälliger Passant auf der Straße: Wir grüßen uns vielleicht, aber wir sprechen nicht miteinander. Denn eigentlich kennen wir uns ja gar nicht.

In unserem Predigttext wird allerdings nicht nur von Gott geredet. Er redet auch selbst. Und er stellt sich vor: „Ich bin der Gott eurer Väter“, sagt er zu Mose, „der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs“. Auch damit haben Mose und das Volk Israel noch keinen Namen für Gott. Sie haben immer noch keine eigene, persönliche Verbindung zu ihm. Aber sie erfahren, dass es einmal Menschen gab, die eine solche Verbindung hatten. Und diese Menschen waren ihre Väter: Abraham, Isaak und Jakob. Ich denke, so geht es auch heute vielen Menschen mit dem Gott der Bibel. Es ist der Gott ihrer Vorfahren, aber damit ist er noch nicht ihr eigener Gott. Sie erinnern sich, dass Opa es immer diesem Gott zuschrieb, dass er den Krieg und die Gefangenschaft überlebt hat. Sie wissen, dass Oma immer noch jeden Tag zu ihm betet. Sie hören, dass der Glaube an diesen Gott einst große Dinge bewegt hat. Sie lernen, dass er die Triebkraft war hinter dem Lebenswerk vieler bedeutender Menschen. Aber sie können sich nicht vorstellen, dass der Gott ihrer Vorfahren in ihr eigenes Leben treten könnte. Dort scheint für ihn kein Platz zu sein. Und deshalb bleibt er immer noch namenlos und weit weg.

Mose ahnt, dass seine Landsleute genauso reagieren könnten, wenn er ihnen von seinem Erlebnis und seinem Auftrag erzählt: „Der Gott unserer Väter hat dich geschickt, sagst du. Schön. Aber wie soll der Gott unserer Väter unser Gott werden, wenn wir nicht wissen, wie wir ihn anreden sollen? Sag uns seinen Namen!“ Mose fragt Gott, was er darauf antworten soll. Und Gott sagt es ihm: „Ich werde sein, der ich sein werde. So sollst du zu den Israeliten sagen: »Ich werde sein«, der hat mich zu euch gesandt.“

Beim ersten Hören klingt das wie eine Absage: „Wer ich bin, das werdet ihr schon erleben. Aber mein Name geht euch nichts an.“ So ist es aber nicht gemeint. „Ich werde sein, der ich sein werde“, das ist eine Umschreibung des Namens, den Gott in der Hebräischen Bibel trägt. Er besteht aus den vier Buchstaben JHWH und wurde wohl „Jahwe“ ausgesprochen. Und das kann man tatsächlich übersetzen mit: „er wird sein“. Später haben die Juden diesen Namen Gottes nicht mehr ausgesprochen. Sie wollten ihn auf keinen Fall missbrauchen. Sie haben stattdessen „Adonai“ gesagt oder „Kyrios“ auf Griechisch. Die ersten Christen haben diese Gewohnheit übernommen. Und Martin Luther hat den hebräischen Gottesnamen entsprechend mit „der Herr“ übersetzt. Was der Name bedeutet, der hinter dieser Umschreibung steckt, das erfahren wir in der Bibel nur an dieser Stelle im zweiten Mosebuch.

„Er wird sein“ oder, von ihm selbst gesprochen, „ich werde sein“ – das ist also Gottes Name. Ein seltsamer Name. Philosophen und Theologen haben darüber lange nachgegrübelt. Sie haben über das Sein an und für sich spekuliert und Gott zu diesem Sein in Beziehung gesetzt. Aber vom ursprünglichen Sinn haben sie sich dabei weit entfernt. Auf Hebräisch kann man sich gar nicht so abstrakt-philosophisch ausdrücken. Dort heißt „ich werde sein“ ganz einfach: „ich werde da sein“. Und von da ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Verheißung, die Mose mit auf den Weg bekommt: „Ich werde mit dir sein“. Der Name Gottes ist also nicht bloß eine Benennung, sondern eine Verheißung. Mit diesem Namen bleibt Gott nicht länger nur das höchste Wesen. Er bleibt auch nicht nur der Gott der Väter. Sondern er wird zur Person, er wird für Israel unser Gott. Er sieht, wie sein Volk leiden muss unter den ägyptischen Sklaventreibern. Er hört ihr Schreien und Klagen. Und er greift machtvoll ein in ihr Leben: er befreit sie aus Ägypten, er begleitet sie auf dem Weg durch die Wüste und er führt sie in ein gutes und weites Land.

Okay, könnten wir jetzt sagen. Das gilt für Mose und für Israel. Aber hat Gott auch für uns einen Namen, gilt auch für uns die Verheißung: „Ich werde da sein“? Wenn das Neue Testament Recht hat, dann ist für uns der Name Gottes untrennbar verbunden mit der Person Jesu. Er verkörpert im wahrsten Sinne des Wortes den Namen Gottes. Bei Matthäus können wir das nachlesen. Für ihn erfüllt sich mit der Geburt Jesu das Wort des Propheten Jesaja: „Eine junge Frau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel“ – zu Deutsch: Mit-uns-ist-Gott. (Jes 7,14; Mt 1,22f) Wenn Gott schon durch den Namen, den er Mose nennt, zu einer unverwechselbaren Persönlichkeit wird, dann gilt das seit Jesus erst recht. In ihm hat Gott unser Leben und Sterben mit uns geteilt. Diesem Gott nehme ich es ab, dass er wirklich „Ich-werde-da-sein“ heißt, dass ich mit ihm reden kann, dass er mich durchs Leben begleitet, sich mit mir freut, mit mir leidet und mich auch in den schwersten Momenten nicht im Stich lässt.

Vielleicht müssen wir das wieder neu lernen – nicht nur zu glauben, dass es einen Gott gibt, sondern dass er für uns da ist, dass er einen Namen hat, bei dem wir ihn nennen können. Vielleicht müssen wir neu begreifen, dass der Glaube an diesen Gott nicht nur Spuren in der Vergangenheit hinterlassen hat, sondern auch unsere Gegenwart prägen kann, und erst recht unsere Zukunft. Und vielleicht entdecken wir dann auch die Ausdrucksformen, mit denen wir diesen Glauben in unserer Zeit neu mit Leben füllen können. Eins jedenfalls ist sicher: Gott wird da sein, wenn wir das tun. Und weil er da sein wird, kann es uns gelingen. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein