Predigt Talkirche, Reformationstag, 31. Oktober 2013

Gottesdienst zum Reformationstag

Text: Heidelberger Katechismus, Frage 1

„Ihr seid wohl nicht recht bei Trost“, sagt vielleicht mancher Hallo­ween-Muffel zu den verkleideten Kindern, die ihm am Reformati­onstag mit „Süßes oder Saures“ kommen. „Seid ihr eigentlich noch bei Trost?“ hat vielleicht Angela Merkel ihren „Freund“ Barack Obama gefragt, nachdem sie feststellen musste, dass sein Geheim­dienst ihr Handy abgehört hat. „Ist der noch bei Trost?“ hat wohl auch mancher deutsche Bischof gedacht, als er von den teuren Extrava­ganzen des Limburger Kollegen hörte.

„Noch“ oder „nicht mehr bei Trost sein“ – das ist zwar eine etwas altmodische Redewendung, aber ich finde sie sehr interessant. Denn Trost, das klingt für uns ja erst mal nach Zuwendung für Nieder­geschla­gene und Trauernde. Vielleicht den­ken wir dabei an unsere Kindheit: Damals war wirklich noch alles wieder gut, wenn wir mit unserem Leid in Mamas tröstende Arme flüchten konnten. Oder wir denken an gut gemeinte Worte und Ges­ten, die uns nicht trösten konnten oder die wir gar als billige Vertröstung empfanden.

Aber in besagter Redewendung bedeutet „Trost“ etwas anderes. Wer „nicht mehr bei Trost“ ist, der ist ja nicht traurig, auch nicht nur ein bisschen seltsam oder verrückt, sondern völlig von der Rolle. Der hat jede Festigkeit, jeden Halt verloren, der einen Menschen be­rechen­bar und vernünftig handeln lässt. Und der macht andere fas­sungslos, weil er alles Ver­trauen verspielt, das man in ihn gesetzt hat.

Damit bin ich bei der Frage angekommen, die uns in dieser Reformati­onstagspredigt beschäftigen soll; denn in ihr hat das Wort „Trost“ eine ähnlich umfassende Bedeutung. Mit dieser Frage be­ginnt eine der berühmtesten Schriften aus der Reformationszeit, die in diesem Jahr 450 Jahre alt geworden ist: der Heidelberger Katechis­mus. „Was ist dein einziger Trost im Leben und im Ster­ben?“ so lautet diese Frage. Und wenn Sie noch den klassischen reformierten Konfirmandenunterricht genossen oder erlitten haben, dann kennen Sie auch die Antwort – oder mussten sie jedenfalls mal auswendig lernen.

Aber stellen wir diese Antwort ruhig noch ein wenig zurück und blei­ben für einen Augenblick bei der Frage. Auch in ihr geht es ja da­rum, „ganz bei Trost zu sein“: einen festen Halt zu haben, auf den man in allen Lagen vertrauen kann, auch noch, wenn’s ans Sterben geht. Einen festen Halt zu haben, der einem dann auch hilft, verlässlich und gefes­tigt durchs Leben zu gehen.

„Was ist dein einziger Trost im Leben und Sterben?“ – Wie würden wohl Menschen unserer Tage darauf antworten – Menschen, die den Heidelberger nicht kennen? Mancher vom Leben Enttäuschte sagt vielleicht: „Mein einziger Trost ist, dass es anderen auch nicht besser geht und dass am Ende alle sterben müssen.“ Ein anderer findet womöglich nur noch Trost im Vergessen – und hilft mit Alko­hol oder irgendwel­chen Pillen nach. Andere, denen es besser geht, mögen sagen: „Mein Trost, mein fester Halt, das ist meine Familie“ – aber was ist, wenn die zerbricht?  Oder sie sagen: „Ich halte mich an die Kraft des positi­ven Denkens“ – aber auch die kann verloren ge­hen oder zur bloßen Einbildung werden. Oder sie sagen: „Halt fin­dest du nur, wenn du an dich glaubst, wenn du ein gesundes Selbstver­trauen hast“ – das mag im Leben helfen, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad, aber auch im Sterben? Wo bleibt das Selbstver­trauen, wenn mein Selbst erlischt? Und manche haben wenigstens noch einen Schimmer von der ursprünglichen Antwort und sagen: „Man muss im Leben an irgendetwas glauben, sonst funktio­niert’s nicht“. Aber wenn sie dieses „Etwas“ näher bestim­men sollen, fällt ihnen nicht viel ein – oder jedem etwas anderes.

Nein, wirklich überzeugende Antworten waren bisher nicht dabei. Sieht es mit der Antwort des Heidelberger Katechismus‘ anders aus? Hat sie mehr „Trost“ zu bieten, als wir aus uns hervorbringen kön­nen? Erinnern wir uns erst noch mal, was da steht:

Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?

Dass ich mit Leib und Seele

im Leben und im Sterben nicht mir,

sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre.

Er hat mit seinem teuren Blut

für alle meine Sünden vollkommen bezahlt

und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst;

und er bewahrt mich so,

dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel

kein Haar von meinem Haupte fallen kann,

ja, dass mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss.

Darum macht er mich auch durch seinen Heiligen Geist

des ewigen Lebens gewiss

und von Herzen willig und bereit, fortan ihm zu leben.

Von unserer modernen Denke her mag uns schon der Anfang dieser Antwort überraschen: „Ich gehöre nicht mir selbst“. Was soll daran tröstlich sein? Leiden wir nicht darunter, dass wir uns und unser Leben so wenig in der Hand haben? Dass wir von allen Seiten fremd be­stimmt werden – trotz aller äußeren Freiheit, die wir jeden­falls hierzulande genießen können? Ist es nicht schlimm, dass in unserer vernetzten Welt auch das Persönlichste nicht mehr privat und ge­heim ist? Und dass ein Großteil der Menschheit vor lauter Armut und Unfreiheit überhaupt nicht in der Lage ist, sein Leben selber in die Hand zu nehmen?

Nun, wir merken an dieser Aufzählung erst einmal, dass der Satz stimmt: Wir gehören nicht uns selbst, keiner von uns. So frei und selbstbestimmt wir uns auch vorkommen mögen, wir sind nie und nirgends wirklich Herr unseres Geschicks. So viele Mächte bestim­men über uns mit: die Politik, die Wirtschaft, die Gesellschaft, der Zufall, die Gene, die Naturgesetze, nach denen letztlich auch die biochemischen Prozesse in unserem Hirn ablaufen, die wir „freie Entscheidungen“ nennen. Nein, wir sind nicht frei, auch wenn wir uns so vorkommen.

Der Trost, von dem der Heidelberger spricht, liegt also nicht schon in der Tatsache, dass wir uns nicht selber gehören. Sondern er liegt darin, wem wir stattdessen gehören, nämlich unserem „getreuen Heiland Jesus Christus“. Er hat uns erlöst: aus unserer Gottverlas­sen­­heit, aus unserer Schuld und aus der Verstrickung in die Schuld anderer. Und damit haben auch all die vielen Zwänge, denen wir auf Erden unterliegen, nicht mehr das letzte Wort über uns. Der Heidel­berger nennt sie die „Gewalt des Teufels“. Den müs­sen wir zwar heute nicht mehr an die Wand malen. Aber die Ausweglo­sigkeit, die in diesem Ausdruck steckt, die gilt für uns im­mer noch. Unser fremd­ be­stimmtes Dasein ist in der Tat ein Teufels­kreis. Aus eigener Kraft können wir ihm nicht entkommen. Aber wir können es durch Jesus Christus; denn er hat sogar den Tod überwunden und damit auch die letzte Zwangsgewalt, der wir alle unterliegen.

Und was wird nun anders, wenn wir nicht mehr uns selbst, sondern Jesus Christus gehören? Wie äußert sich der Trost, der feste Halt, den ich dadurch gewinne? Drei Dinge, die der Heidelberger dazu sagt, möchte ich noch kurz beleuchten:

Das erste: Ich bin ganz und gar in Gottes Hand. Also muss mir letzt­lich alles zum Guten dienen. Nicht einmal ein Haar fällt mir vom Kopf, sagt der Heidelberger, ohne dass der Vater im Himmel es weiß und will. Das ist natürlich ein zugespitztes Bild. Aber es macht deut­lich: Ich bin mit allem, was ich bin und was mit mir geschieht, nicht einem blinden Schicksal ausgeliefert. Auch das härteste Los, das mich trifft, kommt letztlich aus Gottes Hand und kann mich nicht von ihm trennen. Das ist manchmal schwer zu akzeptieren. Und es ist immer wieder Anlass für bittere Fragen an Gott: Wie kannst du mir oder meinen Lieben das nur antun, wenn du es doch angeblich gut mit uns meinst?

Auch ich habe auf solche Fragen keine befriedi­gende Antwort, we­der für mich selber noch für andere. Aber ich habe eine bedenkens­werte Gegenfrage: Welche Vorstellung ist denn schwerer zu ertra­gen? Dass das Leid, das mich trifft, sich ei­nem unpersönlichen, erbar­mungslosen Zufall verdankt oder dass ein himmlischer Vater, der mich liebt, es mir auferlegt – nicht aus einer Laune heraus oder um mich zu bestrafen, sondern um es mit mir gemeinsam durchzu­stehen? Wenn das erste stimmt, dann kann ich an meinem Leid nur verzweifeln. Wenn das zweite richtig ist, kann ich daran wachsen, Gott näher kommen und schließlich an das Ziel gelan­gen, das er für mich bereithält.

Denn das ist das zweite: Ich habe an meinem Herrn Jesus Christus einen Trost „im Leben und im Sterben“, einen Halt, der über den Tod hinausreicht. „Er macht mich durch seinen Geist des ewigen Lebens gewiss“, heißt es. Ich muss mich nicht mehr damit quälen, ob meine Lebensbilanz ausreichen wird, um in den Himmel und nicht in die Hölle zu kommen. Wenn ich Jesus Christus gehöre, dann steht nicht mehr in Frage, wo ich die Ewigkeit verbringen werde. Und dass ich ihm gehöre, dafür hat er alles schon getan. Ich brauche dem nichts mehr hinzuzufügen: keine Bußübungen, keine Bekeh­rung, kein perfektes christliches Leben. Dass ich erlöst bin, das ist schon längst die Wahrheit über mein Leben. Mir bleibt nichts ande­res zu tun übrig, als dieser Wahrheit nun auch zu trauen, an ihr Trost zu finden im Leben und im Sterben.

Und schließlich noch das dritte: Wenn das alles wahr ist und wenn ich dieser Wahrheit traue, dann kann ich auch befreit und ohne Zwang nach Gottes Willen leben – nicht weil ich mir bei Gott noch was verdienen oder ihm was bezahlen muss, sondern einfach, weil ich ihm dankbar bin. Und dieses freie, dankbare Leben ist etwas Wun­derbares. Denn wenn ich Gott mit meinem Leben nichts mehr beweisen muss, dann allen anderen erst recht nicht. Dann ist mein Leben nicht erst dann gelungen, wenn ich einen guten Schulab­schluss habe und beruflich erfolgreich bin, wenn ich ein intaktes Ehe- und Familienleben führe, wenn ich beliebt bin bei Nachbarn, Freunden, Kollegen, wenn ich bis ins Alter fit und aktiv bleibe und tolle Dinge erlebe. Sondern dann sorgt Gott für das Gelingen – auch wenn ich mit meinem Job nur mäßig über die Runden komme, auch wenn mein Privatleben keine heile Welt ist, auch wenn ich mein Leben lang eine graue Maus bleibe, auch wenn ich alt, krank und gebrechlich bin. Hauptsache ich frage mit dem, was ich kann und bin, nach Gottes Willen und tue dann das, was dran ist.

Wenn ich mir eins wünschen dürfte für unsere evangelische Kirche, nach 450 Jahren Heidelberger Katechismus und fast 500 Jahren Re­for­mation, dann wären es mehr evangelische Christen, die in die­sem Sinne „ganz bei Trost“ sind. Denn die könnten gefestigt und verläss­lich durchs Leben gehen – mit Gottvertrauen, deshalb auch mit Selbst­vertrauen und ohne von der täglichen Bilder- und Informa­tionsflut hin- und hergeworfen zu werden. Dann hieße es statt „Wozu brauchen wir euch denn noch?“ vielleicht wieder öfter: „Gut, dass es euch gibt!“ Oder gar: „Zu euch möchte ich auch gehö­ren!“ Den einen oder anderen PR-Gag zum Reformationsjubiläum könnte man sich dafür dann vielleicht sparen. Amen.

(Pfarrer Martin Klein)