Predigt Talkirche, Samstag, 24.12.2016

CHRISTMETTE

Text: Joh 3,16-17

Es ist Nacht in Bethlehem. Dunkel liegt das Städtchen da. Nur die Sterne sorgen für ein paar Lichtpunkte am Himmel. In den kleinen Lehmhäusern liegen die Menschen auf ihren Strohmatten und schla­fen, geschafft vom anstrengenden Tagewerk der armen Leute. Wahr­scheinlich träumen sie nicht viel, müde wie sie sind. Und wenn doch, mögen es Angstträume sein – vielleicht von römischen Soldatenstie­feln, deren Marschtritt durch die Gassen dröhnt – oder auch Wunschträume: von Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit, von einem guten Herrscher, den Gott schickt und der seinem Volk wieder auf­hilft.

Irgendwo in Bethlehem, in einer besonders schäbigen Unterkunft, bringt in dieser Nacht eine Frau ihr Kind zur Welt. Sie ist nicht von hier, kam vor kurzem erst mit ihrem Mann aus Galiläa. Deshalb kümmert sich niemand groß um sie. Wahrscheinlich ist ihr Mann der Einzige, der ihr beisteht. Immerhin, ein paar Windeln hat sie und eine Krippe, wo sie das Kind hineinlegen kann. Es sind schon Kinder unter schlimmeren Umständen geboren.

Am nächsten Morgen deutet nichts darauf hin, dass hier etwas Be­sonderes, etwas Einmaliges geschehen ist. Wenn da nicht diese Hir­ten wären. Die laufen plötzlich aufgeregt in Bethlehem herum, er­zählen etwas von Engeln, die ihnen erschienen seien, und von einem Kind in einem Futtertrog, das der Retter der Welt sein soll. Gewun­dert haben sich die Leute, sagt die Bibel. Aber ob den Hirten jemand geglaubt hat?

Es ist Nacht in Jerusalem, dreißig Jahre später. Ein angesehenes Mit­glied des Hohen Rates und der ehrenwerten Gemeinschaft der Phari­säer schleicht sich an der Dienerschaft vorbei aus der Hintertür. Niemand soll mitbekommen, dass er so spät noch mal das Haus ver­lässt. Verstohlen eilt er aus Stadt zu einem Garten am Ölberg, wo dieser Rabbi aus Nazareth sich aufhalten soll. Er muss ihn unbedingt ken­nen lernen und mit ihm reden – nur, so wie die meisten seiner Rats­kollegen eingestellt sind, wäre es absolut peinlich, wenn man sie zusam­men sehen würde.

Er hat Glück. Der Rabbi ist da, und die beiden führen ein langes, intensives Gespräch miteinander. „Wer an Gottes Reich teilhaben will, der muss von neuem geboren werden“, sagt der Rabbi. Und der vornehme Ratsherr fragt zurück, wie das denn gehen soll: „Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Er kann doch nicht zu­rück in den Mutterleib!“ Der Rabbi antwortet, dass es ja auch nicht um eine natürliche Geburt geht, sondern um eine Geburt aus Gottes Geist. Der kann auch aus alten, verbrauchten, verbitterten Menschen neue, zuversichtliche Menschen machen. „Und wie geschieht das?“ fragt Nikodemus. Jesus antwortet: „Es geschieht, indem du glaubst, indem du auf den vertraust, dich dem anvertraust, in dem Gott Mensch geworden ist.“ Und er fügt hinzu:

Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, son­dern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt ge­sandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn ge­rettet werde.

Es wird uns nicht berichtet, wie Nikodemus darauf reagiert hat. Hat er verstanden, dass Jesus von sich selber sprach, dass er sich selbst meinte mit dem einzigen Sohn, der Gott und seine Liebe zu den Menschen bringt? Und wenn ja – hat er ihm wohl geglaubt?

Es ist Nacht in Geisweid und Umgebung, am 24. Dezember 2016. Kein Stern am Himmel, aber dafür viele Lämpchen, weiß und bunt, an den Häusern, in den Bäumen und in den Fenstern. Fast alles schläft oder sitzt zu Hause, ermattet nach einem anstrengenden Tag, ausgefüllt mit Kochen und Backen, Putzen und Schmücken, dann vielleicht mit einem Gottesdienst, bestimmt aber mit Ge­schenke aus­packen, gutem Essen und Trinken, und dem – nicht im­mer erfolgrei­chen – Entschärfen familiärer Spannungen. Ob das alles gereicht hat, um wenigstens mal kurz die Ängste zu vergessen – um die Gesund­heit, um die Lieben, um die Welt, die immer mehr aus den Fugen gerät? Ob noch Zeit zum Träumen geblieben ist, Zeit für Wünsche jenseits der Wunschzet­tel?

Ein paar Leute haben sich auch noch mal aufgerafft vom Sofa und sind zu später Stunde hierher in die Kirche gekommen. Heimlich mussten sie das nicht tun. Schließlich ist es gute Tradition, zu Weih­nachten in die Kir­che zu gehen, auch wenn diese Tradition längst nicht von allen ge­pflegt wird. Aber ist Brauchtumspflege alles, was Sie hierher getrie­ben hat und was uns heute mehrmals Gottes­dienst feiern lässt? Oder sind wir zumindest auch hier, weil wir un­bedingt diesem Jesus begegnen wollen, dessen Ge­burtstag wir heute feiern? Weil wir Gott dafür danken wollen, dass er als kleines Menschenkind zu uns gekommen ist?

Wie wäre es, wenn Jesus uns heute in ein Gespräch verwickeln würde so wie Nikodemus damals? Wenn er mit uns über die Neuge­burt aus dem Geist Gottes reden würde? Ob das wohl eine bestimmte Saite in uns zum Klingen bringen würde, vielleicht gerade zur Weih­nachtszeit? Denn da wünscht sich doch so mancher, noch mal Kind zu sein, noch mal den Zauber der Weihnacht zu erleben so wie frü­her: wieder leuchtende Augen zu bekommen unterm Tannenbaum, wie­der einfach fröhlich zu sein, unbeschwert von der Last des Le­bens, wieder ans Christkind glauben zu können. Wer weiß – viel­leicht ist auch deshalb der eine oder die andere jetzt hier: um beim Singen der alten Lieder, beim Hören der alten, vertrauten Worte ein kleines Stück der verlorenen Kindheit zurück zu gewinnen.

Aber wir können nicht zurück. Wir haben unsere Erinnerungen, und natürlich leben die gerade zu Weihnachten wieder auf, aber wir kön­nen nicht zurück. In unsere Kindheit nicht und auch nicht zur Krippe im Stall von Bethlehem. Und so würden wir Jesus im Gespräch viel­leicht fragen: „Wie kann ein Mensch frohen Herzens Weihnachten feiern, wenn er erwachsen ist? Kann er denn beschließen, wieder ein Kind zu sein, das vom Elend der Welt und von den Enttäuschungen des Lebens nichts weiß?“

Was würde Jesus uns antworten? Ich denke, ungefähr dies: „Ihr sehnt euch zurück in sorgenfreie Kindertage, aber ihr wärt dort falsch. Ihr würdet auch da nicht das finden, was ihr sucht. Wieder ans Christ­kind glauben zu können, würde nichts helfen. Die Welt bliebe ja trotzdem wie sie ist, und ihr müsstet in ihr leben, selbst wenn es euch gelänge, sie nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen.“

Aber nun hat ja Gott die Welt geliebt und liebt sie noch – und zwar genau diese finstere, geschundene, verworrene, hoffnungslose Welt, denn sie hatte und hat es ja nötig. Hätte er sich sonst mitten in die Welt hineinbegeben und hätte er es gerade so getan: als hilfloses Baby armer, obdachloser Eltern? Hätte er es sonst zuerst den Hirten erzählt – auch sie arm und unbehaust, raue Gesellen von zweifelhaf­tem Ruf? Hätte er sonst ausländische Magier nach Bethlehem geholt, die an alles Mögliche glaubten, nur nicht an den Gott Israels? Hätte er sonst zu uns Ja gesagt, die wir die meiste Zeit so leben, als ob es ihn nicht geben würde?

Wir hätten es Gott nicht übel nehmen dürfen, wenn er gesagt hätte: „Na, dann bleibt mir doch gestohlen, wenn ihr von mir nichts wissen wollt.“ Aber er liebt die Welt eben nicht so, wie wir das tun. Sondern er liebt sie als ein Stück von sich selber, ohne das er nicht sein kann und nicht sein will. Deshalb kam er als Kind, nicht als Herrscher, als Retter, nicht als Richter: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“

Ich glaube, das und nichts anderes ist die tiefste Wahrheit über uns und unsere Welt. Auch für uns persönlich kann sie wahr werden. Und wir müssen uns dazu nicht in eine glückliche Vergangenheit flüchten oder uns in eine bessere Zukunft hineinträumen. Es reicht, wenn wir einfach Ja dazu sagen, hier und jetzt. Wenn wir einfach das Weihnachtsgeschenk auspacken, das Gott uns macht, jetzt gleich. Kindern – das haben sie uns wirklich voraus – muss man das nicht zweimal sagen: Sie fragen nicht lange: Kann ich das denn überhaupt annehmen? Ist es auch wirklich für mich? Werde ich etwas damit anfangen können, wenn ich es ausgepackt habe? Kein Ge­danke da­ran! Gib einem Kind ein Päckchen, und in Null Komma Nix fliegt die Verpackung in Fetzen durch die Gegend.

Also habe ich heute keinen größeren Wunsch als diesen: Jeder, der heute hier ist, möge dem großen Geschenk Gottes die weihnachtliche Verpackung herunterreißen oder sie meinetwegen auch sorgfältig entfernen und gefaltet beiseite legen und über Gottes Liebe staunen, die dabei zum Vorschein kommt. Und bitte, lassen Sie sie nicht in der Kirche liegen, sondern nehmen Sie sie mit nach Hause und ma­chen Sie täglichen Gebrauch von ihr. Dafür ist sie gedacht, und sie wird dadurch nicht weniger, sondern mehr. Und wundern Sie sich nicht, wenn Sie sich mit dieser Liebe im Herzen dann und wann wie neugeboren fühlen. Amen.

Pastor Dr. Martin Klein