Predigt Talkirche, Buß- und Bettag, 22.11.2017

Ökumenischer Gottesdienst zum Buß- und Bettag anlässlich der ökumenischen Bibelwoche

Ev. Talkirche, 22.11. 2017

Predigt über das Hohelied Salomos 3,1-5 (MK)

Des Nachts auf meinem Lager
suchte ich, den meine Seele liebt.
Ich suchte, aber ich fand ihn nicht.
Ich will aufstehen und in der Stadt umhergehen
auf den Gassen und Straßen
und suchen, den meine Seele liebt.
Ich suchte, aber ich fand ihn nicht.
Es fanden mich die Wächter,
die in der Stadt umhergehen:
„Habt ihr nicht gesehen, den meine Seele liebt?“
Als ich ein wenig an ihnen vorüber war,
da fand ich, den meine Seele liebt.
Ich hielt ihn und ließ ihn nicht los,
bis ich ihn brachte in meiner Mutter Haus,
in die Kammer derer, die mich geboren hat. –
Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems,
bei den Gazellen oder bei den Hinden auf dem Felde,
dass ihr die Liebe nicht aufweckt noch stört,
bis es ihr selbst gefällt.

Suchen und finden – das ist das große Thema der Liebe. Sobald man in das entsprechende Alter kommt, geht die Suche los: nach einem Menschen, den ich lieben kann und der mich wieder liebt – möglichst für den Rest meines Lebens. Zuerst verläuft die Suche noch sehr tastend. Da sieht man – ich gehe jetzt mal von mir aus – ein Mädchen und denkt sich: „Die gefällt mir. Ob ich ihr das sagen soll? Ob sie mich auch mag? Und ist das jetzt schon Liebe?“ Dann verliebt man sich zum ersten Mal richtig – und erlebt meistens früher oder später eine Enttäuschung: weil die Gegenliebe fehlt, weil’s nicht passt, weil’s einen anderen gibt. Was folgt, ist Liebeskummer – Sehnsucht, die keine Erfüllung mehr findet. Und weiter geht die Suche – durch Höhen und Tiefen, durch Glück und Frust. Bis sich dann irgendwann zwei finden, die sich lieben und sich nicht mehr loslassen wollen. Die ihr Leben miteinander teilen wollen bis ans Ende ihrer Tage. Dann läuten bald die Hochzeitsglocken, und wenn sie vorher nicht gestorben sind, feiern sie irgendwann die Gnadenhochzeit wie Windsors Lisbeth mit ihrem Philip neulich. So stellen sich das, glaube ich, immer noch die meisten jungen Leute vor, und womöglich kommt es ja auch so.
Aber ach, das Finden nach dem Suchen hat so seine Tücken. Manchen will es einfach nicht gelingen. Sie geben die Suche irgendwann auf und reden sich mehr oder weniger erfolgreich ein, dass das Single-Leben doch auch ganz schön ist. Aber auch manche, die sich gefunden haben, stellen bei näherer Betrachtung oder längerer Dauer fest, dass sie mit ihrem Fund nicht wirklich glücklich sind. Entweder schleppen sie sich dann mühsam miteinander über die Runden oder sie geben auf und suchen noch mal neu, etliche auch mehrmals. Und sie alle kommen womöglich irgendwann zu der Überzeugung: die große Liebe, die ein Leben lang hält, die gibt es gar nicht. Wer danach sucht, der findet nie oder macht sich das Gefundenhaben nur vor. Besser man hängt die Latte von Anfang an tiefer, begnügt sich mit ein bisschen Verliebtsein, solange es halt gut geht, und dann geht jeder möglichst ungekränkt seiner Wege. Nur: Wer so denkt und redet, macht sich womöglich auch was vor – wie der Fuchs mit den sauren Trauben (ich denke, Sie kennen die Fabel).
Solche Gedanken scheint sich das biblische Hohelied allerdings nicht zu machen. Hier kann nichts die Liebe trüben, auch gewaltige Wasserfluten können ihr Feuer nicht löschen. „Mein Freund ist mein und ich bin sein“, das gilt dort ganz unhinterfragt. Und wenn ich mich nachts auf einsamem Lager nach meinem Liebsten sehne, dann geh ich ihn halt suchen, bis ich ihn gefunden habe, und dann lassen wir uns nicht mehr los und lassen uns nicht stören in unserer Liebe, solange es uns gefällt. – Tja, so sind sie, die Liebeslieder, sinniert da der abgeklärte Weise fortgeschrittenen Alters, und schön war die Jugendzeit, wo man solche Lieder noch unbeschwert singen konnte. Doch der Ernst des Lebens treibt einem halt irgendwann die Romantik aus – schade, aber isso.
War’s das? Spricht das Hohelied nur von Dingen, die für den größten Teil des Lebens bloß wehmütige Erinnerungen wecken – bestenfalls? Dann müsste es trotz seiner Schönheit wirklich nicht in der Bibel stehen. Dort hat es nur deshalb Platz gefunden, weil man hinter der Liebe zwischen Mann und Frau, von der es redet, immer auch die Liebe Gottes entdeckt hat. Und das mit Recht, denn Suchen und Finden, das ist auch das große Thema der Liebe zwischen Gott und Mensch.
Nur sind die Rollen beim Suchen und Finden dort anders verteilt. Unter Menschen suchen zwei, bis sie sich finden. Gott dagegen würde ich gar nicht suchen, wenn er mich nicht schon gefunden hätte. Und ich könnte ihn nicht finden, wenn er sich nicht finden ließe.
Wenn ich im Predigttext ein Gleichnis der Liebe Gottes entdecken will, dann finde ich es also eher bei der Frau als bei ihrem Geliebten. Gott ist der, der uns vermisst. Dem der Himmel leer und einsam vorkommt, solange wir nicht bei ihm sind. Denn er ist es, der uns von ganzer Seele liebt – nicht nur wenige Auserwählte unter uns, sondern jeden einzelnen. Er hat uns geschaffen. Er will mit uns zusammen sein. Und er verzehrt sich nach uns, solange wir unser Leben weit weg und ohne ihn führen, wie wir es zu tun pflegen. Also steht er auf und macht sich auf die Suche.
Und er begibt sich in Gefahr dabei. Schon auf der Ebene des Textes ist es ja für eine junge Frau nicht empfehlenswert, nachts allein durch die Stadt zu laufen. Denn die Wächter sind nicht überall, und wer weiß, wer sich in den finsteren Gassen alles herumtreibt! Ihr ist das aber völlig egal, weil es ihr nur um ihren Geliebten geht. Und als sie die Wächter sieht, denkt sie nicht: „Ach wie gut, hier bin ich sicher!“ sondern: „Die muss ich fragen, ob sie meinen Geliebten gesehen haben“ – obwohl die das ja gar nicht wissen können. So ist es bei Gott auch. Aus lauter Liebe verlässt er sozusagen sein warmes, sicheres Himmelbett und geht hinaus auf die finsteren und kalten Gassen der Welt. Er wird Mensch, er setzt sich dem Elend, dem Leiden und dem Tod aus, um uns zu finden. Nicht dass ihn die Liebe blind machen würde für die Gefahr. Nein, er setzt sich ihr bewusst aus; denn er weiß, dass er sie nur so besiegen kann.
Und so findet er uns. Er hält uns fest und lässt uns nicht mehr los – wie die Liebende ihren Geliebten. Und auch er bringt uns dorthin, wo er zu Hause ist, verschafft uns ein Bürgerrecht im Himmel, das uns niemand mehr nehmen kann, auch wenn wir dort noch nicht angekommen sind. Nichts kann diese Liebe Gottes stören, niemand kann ihn davon abbringen.
Und der Geliebte? Der bleibt im Text seltsam passiv. Er wird nur gefunden und „abgeschleppt“ ins Haus der Mutter. Okay, wenn er das nicht gewollt hätte, dann hätte er sich wehren können – Männer sind ja meistens ein bisschen kräftiger als Frauen. Aber er lässt es sich gefallen und macht nichts anderes als sich einfach lieben zu lassen.
So geht es uns auch mit Gott. Mit seiner grenzenlosen Liebe hat er in Christus alles getan, um uns zu finden und nicht mehr loszulassen. Und wir dürfen uns das einfach gefallen lassen und es genießen. Wie einer, der vom Leben und der Liebe enttäuscht ist und dann eines Tages doch noch die große Liebe findet, an die er nicht mehr geglaubt hat. Er wird dieses unverhoffte Glück wie einen Schatz hüten und alles tun, damit es nicht verloren geht.
Und wie sieht unsere Gegenliebe aus? Wie antworten wir auf Gottes Liebe? Viele haben gerade aus dem Hohenlied und seiner allegorischen Auslegung geschlossen, dass es dabei um mystische Versenkung geht, um unser Einswerden mit Gott, so wie er mit uns eins geworden ist. Manche haben darauf ihr ganzes Streben ausgerichtet, und einige haben dabei höchstes Glück erfahren. Aber erstens ist solches Glück auf Erden immer nur ein flüchtiger Augenblick. Und zweitens besteht die Gefahr, dass es dabei nur um Gott und mich geht, und ich glaube nicht, dass er das will.
Die Bibel zeigt uns, wenn ich recht sehe, einen anderen Weg. Am besten bringt der 1. Johannesbrief es auf den Punkt: „Ihr Lieben, hat uns Gott so geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen.“ Also: Gott lieben, das heißt, meine Geschwister zu lieben, meinen Nächsten Liebe zu erweisen und ihnen Gutes zu tun. Gerade so werde ich eins mit Gott, denn so hat er es ja auch gehalten, als er Mensch wurde und sich auf die Suche nach mir machte. Wenn mystische Versenkung mir dabei hilft und mir dafür Kraft gibt, dann gern. Wenn sie aber nur dazu dient, dass ich tolle spirituelle Erfahrungen mache und die Welt um mich herum vergesse, dann ist sie nicht im Sinne Jesu. Mein bisschen Liebe wird für Gott sowieso nie genug sein. Aber seine Liebe reicht nicht nur für mich, sondern auch für meinen Ehepartner, meine Familie, meine Nachbarn und Freunde und für alle Nächsten, die er mir über den Weg schickt – auch für die, die ich nicht so mag. Dass es so ist, werde ich freilich erst merken, wenn ich mal damit angefangen habe, Gottes Liebe weiterzugeben. So wird sie in meinem Leben Kreise ziehen wie ein Stein, der ins Wasser fällt. Und dabei soll sie niemand stören, bis es ihr gefällt. Amen.

Ihr Pastor Dr. Martin Klein