Text: Jes 6,1-8
In dem Jahr, als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron und sein Saum füllte den Tempel. Serafim standen über ihm; ein jeder hatte sechs Flügel: Mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße und mit zweien flogen sie. Und einer rief zum andern und sprach: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll!“ Und die Schwellen bebten von der Stimme ihres Rufens und das Haus ward voll Rauch.
Da sprach ich: „Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den Herrn Zebaoth, gesehen mit meinen Augen.“ Da flog einer der Serafim zu mir und hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm, und rührte meinen Mund an und sprach: „Siehe, hiermit sind deine Lippen berührt, dass deine Schuld von dir genommen werde und deine Sünde gesühnt sei.“ Und ich hörte die Stimme des Herrn, wie er sprach: „Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein?“ Ich aber sprach: „Hier bin ich, sende mich!“
Liebe Goldkonfirmanden!
1973 – das war das Jahr, in dem ihr konfirmiert wurdet. Auch sonst passierte in diesem Jahr eine Menge. Manches ist inzwischen wieder passé, wie der EU-Beitritt Großbritanniens oder das damals eingeweihte World Trade Center in New York. Manches ändert sich anscheinend nie: auch 1973 wurde der FC Bayern deutscher Fußballmeister. Und manches wirkt bis heute nach: die Watergate-Affäre zum Beispiel, der Militärputsch in Chile oder in Afghanistan, wo seitdem nie mehr wirklich Frieden war. Und natürlich die Ölkrise im Gefolge des Jom-Kippur-Kriegs, die uns erstmals unsere fatale Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen bewusst machte. Vielleicht ist mancher von euch damals auch an einem Adventssonntag über die ungewohnt leere Autobahn spaziert – und hat angefangen, sich Gedanken über die Zukunft zu machen.
Aber nun zu dem, was 1973 für euch persönlich zu einem besonderen Jahr gemacht hat: Ihr wurdet konfirmiert. Den Konfirmandenunterricht werdet ihr sehr verschieden erlebt haben: interessiert oder gelangweilt, als lebensnah oder abgehoben, genervt von der vielen Lernerei oder von nervigen Mitkonfirmanden, und sicher auch abhängig davon, ob euer Konfirmator ein strenger Pastor vom alten Schlag war wie Wilhelm Biederbeck oder ein junger Mann, noch frisch im Amt, wie Hans-Peter Adler. Aber egal, wie diese Zeit für euch gewesen ist, die Konfirmation selber war sicher ein Höhepunkt in eurem jungen Leben. Der feierliche Einzug, die Einsegnung, das Abendmahl – das waren Momente, die ihr sehr bewusst und wahrscheinlich mit einiger Aufregung erlebt habt. Und es waren Momente, die euch sicher auch berührt haben – ganz unabhängig von eurer persönlichen Einstellung zum Glauben und zur Kirche. Das war, denke ich, immer so, und so ist es auch noch bei den heutigen Konfis. Aber: Hatte auch dieses eindrückliche und persönliche Ereignis des Jahres 1973 Folgen, die immer noch nachwirken?
Wir haben vorhin in der Lesung gehört, wie der Prophet Jesaja von seiner Berufung berichtet – von dem prägenden Ereignis seines Lebens schlechthin. Auch ihm ist es wichtig, festzuhalten, in welchem Jahr das geschah. Es war das Jahr, „als der König Usija starb“, nach unserer Rechnung 736 vor Christus. Und wie die Ölkrise hatte der Tod des alten Königs im Rückblick Signalwirkung. Usija hatte lange und in Frieden regiert. Deshalb erschien den Späteren sein Tod als das Ende der „guten alten Zeit“. Denn danach kamen Kriege und Wirren. Die Assyrer verwüsteten das kleine Königreich Juda, und auch wenn sie Jerusalem letztlich nicht eroberten, legten sie dem Land doch eine drückende Fremdherrschaft auf. Jesajas Botschaft in dieser Zeit war: „Kehrt um von euren falschen Wegen! Verlasst euch nicht auf Waffen und Mauern und auf zweifelhafte Bündnisse, sondern vertraut auf den Herrn, den Gott Israels. Er wird euch durch diese Zeit bringen und euch retten.“ Aber er fand kein Gehör damit. Im Rückblick erschien es ihm, als habe der Herr schon von Anfang den Menschen die Ohren verstopft und die Herzen verhärtet, so dass sie gar nicht umkehren konnten.
So schlimme Zeiten musstet ihr alle nicht erleben, Gott sei Dank! Manche haben im Leben sicher nicht erreicht, was sie gern erreichen wollten. Manche mag Arbeitslosigkeit getroffen haben, eine schwere Krankheit oder der frühe Verlust eines lieben Menschen. Aber keiner musste Armut und Not erleiden oder Krieg und Vertreibung wie noch die Generation davor. Viele haben gut verdient, konnten sich manches leisten, haben viel von der Welt gesehen. Und viele sind jetzt, an der Schwelle zum Rentenalter, noch fit genug, um auf einen langen, aktiven Ruhestand zu hoffen, die Enkel groß werden zu sehen und auch noch Urenkel zu erleben. Garantien dafür gibt es freilich nicht. Und gerade, wenn es einem gut geht, beschleicht einen ja immer wieder die Sorge, was passiert, wenn es mal anders wird – und früher oder später wird es so kommen. Was kann uns da helfen? Wo können wir Halt finden?
Noch mal zurück zu Jesaja: Er bekam bei seiner Berufung alles, was er für seinen schweren Weg brauchte. Er erlebte im Tempel von Jerusalem die Gegenwart Gottes, faszinierend und erschreckend zugleich. Er sah den Herrn auf seinem Thron, umschwebt von feurigen himmlischen Wesen, die ihm das „Heilig, heilg, heilig“ zuriefen, bis die Schwellen bebten und Rauch das Heiligtum erfüllte. Ihm widerfuhr Sühne und Vergebung für seine Schuld, so dass er in der Gegenwart Gottes nicht vergehen musste. Und er bekam einen Auftrag: „Du sollst mein Bote sein, ich sende dich!“ Das gab ihm Kraft gegen alle Widerstände. Das ließ ihn auch in schweren Zeiten nicht an seinem Amt verzweifeln. Und es gab ihm die unerschütterliche Gewissheit: Gott ist da und geht mit, wo auch immer ich bin, was auch immer geschieht.
Ihr werdet es vielleicht nicht glauben, aber im Grunde habt ihr bei eurer Konfirmation das Gleiche erlebt. Nein, es sind damals keine Serafim mit sechs Flügeln durch die Tal- oder Wenschtkirche oder die Kirche zu Algermissen geflogen. Es gab weder Feuer noch Erdbeben (ist ja vielleicht auch gut so). Und wenn ein „Heilig, heilig, heilig“ gesungen wurde, dann ausschließlich aus irdischen Kehlen. Aber trotzdem: Auch bei eurer Konfirmation war Gott gegenwärtig. Ihr wart in seinem Namen versammelt, und dann ist er mitten unter uns, das hat er uns versprochen. Ihr habt seinen Segen empfangen, als euer Pastor euch die Hand aufgelegt hat. Und ihr habt beim Abendmahl seine Nähe und Vergebung erfahren – nicht mit glühender Kohle als Zeichen, sondern mit Brot und Wein. Das alles war nicht so, weil ihr euch wie Jesaja an einem heiligen Ort befandet – da haben unsere Kirchen der übrigen Welt nichts voraus. Sondern es war und ist so, weil Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist. Deshalb ist er da. Deshalb ist ihm nichts Menschliches fremd. Deshalb muss uns nichts mehr von ihm trennen. Und deshalb geht er mit uns, was für ein Weg auch vor uns liegt.
Jetzt seid ihr wieder hier, nach fünfzig Jahren. Vielleicht wart ihr zwischendurch oft da, vielleicht selten oder gar nicht. Vielleicht wart ihr euch auf eurem Lebensweg der Nähe Gottes bewusst, vielleicht auch nicht oder nur hier und da mal. Aber wie auch immer: Heute seid ihr hier, und Gott ist auch hier. Er will überwinden, was euch von ihm trennt. Er will euch stärken für das, was vor euch liegt. Und vielleicht, bestimmt sogar, hat er auch für euch einen Auftrag: „Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein?“
Nein, ich glaube nicht, dass Gott euch im fortgeschrittenen Alter noch ein schweres Prophetenamt aufbürdet wie dem Jesaja – der war noch jung, der konnte das aushalten. Aber Aufgaben hat Gott auch für euch genug. Von einigen weiß ich ja, dass sie in ihrer Kirchengemeinde aktiv sind. Andere engagieren sich vielleicht an anderer Stelle, und das ist gut so. Aber auch manche, die bisher nicht so rege waren, hätten ja vielleicht jetzt oder bald ein bisschen mehr Zeit übrig. Und manche Begabung mag noch in euch schlummern, die noch gar nicht richtig zur Entfaltung gekommen ist. Aber von den Aufgaben in Kirche und Gesellschaft mal abgesehen: Auch in eurem persönlichen Umfeld könnt ihr als Boten Gottes unterwegs sein. Zum Beispiel könnt ihr euren Enkeln oder anderen Kindern etwas von Ihren Erfahrungen weitergeben, ihnen lieb und wert machen, was euch selber lieb und wert ist – und dabei denke ich nicht nur an Glaubensdinge. Oder ihr könnt Menschen in der Nachbarschaft etwas von der gewonnenen Zeit schenken, ihnen mit Rat und Tat beistehen, wo es nötig und erwünscht ist.
Ich weiß nicht, ob ihr’s wusstet, aber das griechische Wort für Bote ist a;ggeloj, Engel. Und frei nach Rudolf Otto Wiemer: Es müssen nicht Serafim mit sechs Flügeln sein, die Engel. Also: Wenn ihr das Gefühl habt, dass Gott noch einen Boten oder eine Botin brauchen könnte, dann gebt euch einen Ruck und sagt: „Hier bin ich, sende mich!“ Und seid getrost: Ihr werdet dabei nie allein unterwegs sein. Amen.
Ihr Pastor Martin Klein