Predigt Talkirche, 06.06.2021

GOTTESDIENST FÜR DEN ERSTEN SONNTAG NACH TRINITATIS

Text: Jona 1,1-3,2*

Von weitem sah es aus wie ein Bündel Strandgut, was da im Sand lag, irgendwo am Meer zwischen Jafo und Aschkelon. Erst bei nähe­rer Betrachtung konnte man feststellen, dass es sich um einen Men­schen handelte. Nass, dreckig und schleimig lag er da, Algen und Seegras hingen in den wirren Haaren und den Überresten der Klei­dung. Ein zufälliger Passant hätte ihn wohl für tot gehalten: ei­n ange­spülter Schiffbrüchiger, ertrunken bei dem furchtbaren Sturm neulich. Aber es gab keine Passanten. Der Strand war völlig einsam.

Und der Mensch, der da lag, war nicht tot. Ganz allmählich begann er sich zu bewegen. Er drehte sich vom Bauch auf den Rücken, setzte sich schließlich auf und blinzelte in die Sonne. Verwirrt schaute er sich um. „Wo bin ich hier bloß?“ dachte er. „Wie bin ich hierher geraten? Und wie sehe ich bloß aus? Iihh, das ist ja ekelhaft! Wie verschluckt und ausgekotzt! Und genauso fühle ich mich auch.“

Aber dann durchfuhr ihn die Erinnerung wie ein Blitz. Sie war wieder da, diese Stimme in seinem Kopf: „Mach dich auf in die große Stadt Ninive und predige ihr, was ich dir sage!“ Fast die gleichen Worte hatte er schon einmal gehört, erst vor kurzem: „Mach dich auf und geh in die große Stadt Ninive und predige gegen sie; denn ihre Bos­heit ist vor mich gekommen.“ Die Stimme des Herrn. Die Stimme des Gottes Israels, der ausgerechnet ihn, Jona ben Amittai, zum Prophe­ten machen wollte. Damit hatte alles angefangen. Und damit kehrte auch die Erinnerung an alles andere wieder: die Flucht, das Schiff, der Sturm, der große Fisch – aber nun mal langsam und der Reihe nach:

Jona war entsetzt gewesen über Gottes Auftrag: „Ich? Nach Ninive? In die Hauptstadt der mächtigen Assyrer? Ja, deren Bosheit schreit tatsächlich zum Himmel. Der ganze Orient stöhnt unter ihrer grausa­men Herrschaft. Aber was soll ich denn dagegen ausrichten? Die sperren mich doch nur ein! Die bringen mich um, sobald ich nur den Mund aufmache! Nee, kommt nicht in Frage! Ich lass mich doch nicht verheizen! Ich hau ab! Am besten ganz weit weg, in die entgegen­gesetzte Rich­tung. Und am besten heute noch.“

Hastig raffte Jona das Nötigste zusammen, steckte alles Geld ein, das er besaß, und lief, so schnell er konnte, zum nächsten Hafen, nach Jafo. Dort fand er eins der großen Schiffe, die nach Tarschisch fuh­ren, weit, weit im Westen, kurz vorm Ende der Welt. Die Fahrt kos­tete ihn ein Vermögen – es kam Jona vor, als hätte er das ganze Schiff gekauft. Aber Hauptsache, er bekam den größtmöglichen Ab­stand von Ninive und von dieser unmöglichen Aufgabe.

Das Schiff sollte noch am gleichen Tag ablegen. Jona war’s recht. Er ging sofort an Bord, stieg tief ins Schiffsinnere hinunter und suchte sich einen guten Platz zum Ausruhen. Kaum hatte er sich dort hinge­legt, war er tief und fest eingeschlafen – erschöpft wie er war nach all der Aufregung.

Dass das Schiff heftig zu schaukeln begann, als sie kaum auf hoher See waren, bekam Jona nicht mit – erst als ihn jemand kräftig an der Schulter rüttelte. Mühsam bekam er die Augen auf und schaute in das angsterfüllte Gesicht des Kapitäns. „Wie kannst du nur schlafen bei dem Sturm“, rief er. „Wir haben schon die ganze Ladung über Bord geworfen, damit das Schiff leichter wird, aber es kann trotz­dem jeden Moment zerbrechen. Da hilft nur noch beten, und dabei kannst du uns gefälligst helfen: Steh auf und ruf deinen Gott an! Vielleicht hat der ein Einsehen mit uns, dass wir nicht untergehen!“

Jona sah ein, dass er da nicht Nein sagen konnte. Schwankend stieg er an Deck. Jetzt wo er wach war, wurde ihm speiübel von dem Geschau­kel. Oben angekommen hätte ihn der Wind fast über Bord geweht. Haushohe Wellen türmten sich ringsum, und von den Bre­chern war Jona sofort durchnässt. Mehrere Seeleute hielten mit aller Kraft das Ruder, alle anderen krallten sich irgendwo fest und beteten mit lauter Stimme: zu Baal und Ra, zu Poseidon und Ahura­mazda, auf Aramäisch, Persisch, Ägyptisch, Griechisch und noch in etlichen anderen Sprachen, die Jona noch nie gehört hatte. Auch ihm war durchaus nach einem Stoßgebet zumute, aber er brachte keinen Ton heraus. Wie sollte er auch zu einem Gott beten, vor dem er auf der Flucht war?

„Leute, das bringt nichts“, sagte schließlich einer. „Wir müssen rauskrie­gen, wer schuld ist an diesem Sturm, wessen Gott ihn uns geschickt hat, damit wir ihn besänftigen können. Kommt, lasst uns Lose ziehen!“ Er zog ein Säckchen mit kleinen Steinen heraus, und jeder musste einen herausziehen. Alle Steine waren weiß, nur Jona hatte einen schwarzen.

Alle starrten ihn an – ängstlich, misstrauisch, erwartungsvoll. Und dann bestürmten sie ihn mit Fragen: „Was bist du für einer? Wo kommst du her? Was ist dein Land, dein Volk? Was bist du von Be­ruf? Und weshalb willst du überhaupt nach Tarschisch?“

Widerwillig gab Jona schließlich Antwort. „Ich bin ein Hebräer, aus dem Land Israel. Ich verehre den Herrn, den Gott des Himmels, der das Meer und das Trockene gemacht hat.“

„Dann hat dieser Herr auch den Sturm geschickt“ meinten die See­leute. „Also jetzt mal raus mit der Sprache: Was hast du angestellt? Warum verfolgt dein Gott dich so – und uns mit?“

„Ich bin ein Prophet des Herrn“, gab Jona schließlich zu. „Er wollte mich zum Predigen nach Ninive schicken, aber ich wollte nicht. Also bin ich vor ihm davongerannt.“

„Davonrennen?!“, sagte einer voller Sarkasmus, „Vor dem Gott des Himmels, der die ganze Welt gemacht hat?! Na, das ist dir ja hervorra­gend gelungen – und wir müssen es jetzt ausbaden!“

Jona schwieg. Sie hatten ja so Recht!

„Und was sollen wir jetzt mit dir machen?“ fragte der Kapitän. „Der Sturm wird immer schlimmer!“

„Wie konnte ich nur so blöd sein“, dachte Jona nur. „Wie konnte ich nur auf die Idee kommen, in Tarschisch wäre ich weit genug weg von Gott? Jetzt gibt es nur noch eine Möglichkeit, ihm zu entwi­schen.“ – „Es ist alles meine Schuld“, sagte er laut. „Also nehmt mich und werft mich ins Meer, dann wird der Sturm aufhö­ren, und ihr seid gerettet.“

Aber der Kapitän schüttelte den Kopf. „Kommt überhaupt nicht in Frage“, sagte er, „das wäre dein sicherer Tod, und wir sind keine Mörder. Also los, Männer, wir legen uns nochmal tüchtig in die Rie­men. Vielleicht schaffen wir’s, zurück an Land zu rudern.“

Gesagt, getan. Ohne Protest setzten sich alle auf die Ruderbänke und pullten so fest, wie sie konnten. Jona schämte sich: „Ich bringe diesen Männern den Tod, und sie wollen mich retten!“ Aber es war alles vergebens. Wind und Strömung waren zu stark, das Schiff kam kaum vom Fleck. Lange würde es den Wogen nicht mehr standhal­ten.

Schließlich gaben sie es auf. Aber sie hatten immer noch Skrupel, Jona einfach so über Bord zu werfen. „Ach, Herr“, beteten sie, „es ist nicht richtig, dass wir diesen Mann dem sicheren Tod ausliefern, doch uns bleibt nichts anderes übrig. Rechne uns diese Schuld nicht an und lass uns nicht untergehen! Wir vertrauen darauf, dass du so handelst, wie es recht ist.“ Dann packten sie Jona und warfen ihn ins Wasser. Er wehrte sich nicht.

Und tatsächlich: Sofort hörte der Sturm auf zu heulen, und die Wel­len legten sich. Während er im Wasser schwamm, hörte Jona noch, wie die Seeleute laute Dankgebete sprachen und schworen, in Zu­kunft allein den Herrn, den Gott des Himmels, zu verehren. Dann sah er nur noch dieses riesige offene Fischmaul. Es wurde finster, und er erinnerte sich an nichts mehr, bis er am Strand wie­der auf­wachte.

Später erfuhr er, dass er wohl drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches gewesen war, bis der ihn wieder ausgespuckte. Wie hatte er sie ver­bracht? Er wusste es nicht. Ihm war, als hätte er gebe­tet. Wortfet­zen gingen ihm durch den Kopf: „Ich rief zu dem Herrn in meiner Angst, und du hörtest meine Stimme.“ – „Du warfst mich in die Tiefe, mitten ins Meer, dass die Fluten mich umgaben.“ – „Du hast mein Leben aus dem Verderben geführt.“ – „Meine Ge­lübde will ich erfüllen.“ Aber das konnte auch aus einem Psalm sein, den er mal in Jerusalem im Tempel gehört hatte.

Sicher war nur eins: Vor dem Herrn gab es keine Flucht, nicht mal in den Tod. Und es gab auch keine Chance, sich seinem Auftrag zu entzie­hen. Jona hatte sich dem Predigen stur verweigert, und noch das bisschen, was er den Seeleuten gesagt hatte, hatten sie ihm mühsam aus der Nase ziehen müssen – mehr Geständnis als Bekennt­nis. Und doch hatte der Herr es dadurch geschafft, dass nun Seeleute aus aller Herren Länder an ihn glaubten. Wenn er das so wollte, dann geschah es, da konnte Jona sich auf den Kopf stel­len.

Und jetzt war da also wieder seine Stimme: „Mach dich auf in die große Stadt Ninive und predige ihr, was ich dir sage!“ Alles zurück auf Anfang. Und diesmal würde Jona gehen. Es hatte ja keinen Zweck, es nicht zu tun – das war jetzt geklärt, definitiv. Und mit Ruhe betrachtet hatte es ja auch was: Er, Jona, war dazu auserse­hen, diesen brutalen Imperialisten die verdiente Strafe anzukündi­gen. Er freute sich schon: auf Erdbe­ben, Pest, Feuer vom Himmel, was auch immer. Nur eins machte ihm Sorge: Würde der Herr das mit dem Strafgericht auch wirklich durchziehen – gnädig, barmher­zig und voller Güte, wie er nun mal war? In dieser Hinsicht war sei­nem Gott wirklich alles zuzutrauen – das hatte er gerade erlebt.

„Hilfe ist bei dem Herrn“ – noch so ein Gebets- oder Psalmfetzen, der Jona durch den Kopf ging. Aber was hieß das jetzt konkret? Okay, es hatte keinen Zweck, darüber nachzugrübeln – er würde es erfahren. Er stand auf, noch ein bisschen schwindelig, wusch sich und seine Kleider im Meer, so gut es ging, und dann machte er sich auf den Weg nach Osten, nach Ninive. Er war ge­spannt, was ihn dort erwarten würde. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein