Predigt Talkirche, 02. August 2015

Text: Phil 3,4b-14

Wenn ein anderer meint, er könne sich auf Irdisches verlassen, so könnte ich es viel mehr, der ich am achten Tag beschnitten bin, aus dem Volk Israel, vom Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern, nach dem Gesetz ein Pharisäer, nach dem Eifer ein Verfolger der Gemeinde, nach der Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert, untadelig gewesen.

Aber was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Scha­den erachtet. Ja, ich erachte es noch alles für Schaden gegenüber der überschwänglichen Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn. Um seinetwillen ist mir das alles ein Schaden geworden, und ich erachte es für Dreck, damit ich Christus gewinne und in ihm gefunden werde, dass ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt, sondern die durch den Glauben an Christus kommt, nämlich die Gerech­tigkeit, die von Gott dem Glauben zugerechnet wird. Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemein­schaft seiner Leiden und so seinem Tode gleich gestaltet wer­den, damit ich gelange zur Auferstehung von den Toten.

Nicht, dass ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich’s wohl ergreifen könnte, weil ich von Chris­tus Jesus ergriffen bin. Meine Geschwister, ich schätze mich selbst noch nicht so ein, dass ich’s ergriffen habe. Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist, und jage nach dem vorgesteckten Ziel, dem Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus.

In der frommen christlichen Literatur gibt es das verbreitete Genre der „Bekehrungsgeschichten“. Meistens sind es autobiographische Bücher, und sie haben immer dieselben drei Teile: 1. „Was ich vor meiner Bekehrung tat“ (in der Regel schlimme Dinge wie Sex und Drogen, Lug und Trug, Mord und Totschlag), 2. „Wie ich Christ wurde“ und 3. „Wie mein neues Leben als Christ aussieht“. Ein beispiel­hafter Titel aus meiner Jugend lautete zum Beispiel: „Vom Knast zur Kanzel“. Ich hab solche Bücher früher durchaus gern gele­sen, auch wenn sie nach der Bekehrung meistens nicht mehr so span­nend waren wie vorher. Und ich habe immer noch Respekt vor allen Glaubensgeschwistern, die in ihrem Leben eine solche radikale Wende hinbekommen haben – oder sagen wir besser: denen Gott eine solche Wende geschenkt hat, auch wenn mir an ihren Lebensbe­richten heute vieles stereotyp und klischeebeladen vor­kommt.

Auch Paulus erzählt uns im heutigen Predigttext seine Bekehrungs­ge­schichte. Und auch diese Geschichte hat drei Teile: 1. „Wie ich früher gelebt habe und was mir früher wichtig war“, 2. „Wie und warum ich mich von alledem abgewendet habe“ und 3. „Worauf ich jetzt mein Leben ausrichte“. Wenn Paulus daraus eine ausführliche Biographie gemacht hätte, dann wäre der erste Teil allerdings längst nicht so spannend wie in der klassischen Bekehrungsge­schichte. Denn da gab es keine Ausschweifungen oder krummen Touren, von denen Paulus hätte berichten können, son­dern nur das hochanstän­dige und aller Ehren werte Leben eines frommen Juden: Lupenreine Herkunft aus dem Gottesvolk Israel und aus dem besonders ange­sehenen Stamm Benjamin. Beschneidung acht Tage nach der Ge­burt, wie es sich gehört. Ein unbescholtenes Leben nach Gottes Gebo­ten in der strengen Auslegung der Phari­säer, die ja keineswegs die Heuchler und Scheinheiligen waren, als die sie von Christen lange verunglimpft wurden, sondern Menschen denen es ernst da­mit war, ein Gott wohlgefälliges Leben zu führen. „Und auf diesem Weg“, sagt Paulus ohne jede Ironie, „habe ich es weiter gebracht als irgendjemand sonst.“ Okay: dass Paulus die Anhä­nger Jesu verfolgt hat, das stellt sich natürlich im Rückblick als Makel dar. Für den Phari­säer Paulus war das aber nichts anderes als gerechter „Eifer für den Herrn“. Nie wäre es ihm damals in den Sinn gekommen, dass daran irgendwas nicht in Ordnung sein könnte. Er verbuchte all das auf der Gewinnseite seiner Lebensbilanz, und das aus voller Über­zeugung.

Aber dann wurde alles anders: Aus Gewinn wurde Verlust. Aus al­lem, was für den Juden Paulus unendlichen Wert besaß, wurde ein Haufen Dreck – und mit „Dreck“ ist das griechische Wort, das Paulus benutzt, eher noch zu vornehm übersetzt.

Ja, aber Paulus, ist das denn dein Ernst? Die Zugehörigkeit zu Israel – nichts als Mist? Du sagst doch an anderer Stelle selber, dass diesem Volk weiterhin alle Verheißungen Gottes gelten! Die Erfüllung der Gebote – nichts als ein Haufen Sch … ? Das Gesetz Gottes ist doch „heilig, gerecht und gut“ – auch das sagst du selber! Ist es denn dann für uns Christen auch nichts wert, wenn wir Gott die Ehre erwei­sen und unseren Nächsten lieben, wie Gottes Gebot es for­dert? Soll ich der Familie Gottwald sagen: „Vergesst das mal mit der christlichen Erziehung von Laurenz – die ist eigentlich völlig wert­los“? Soll ich unseren Konfis sagen: „Müsst ihr nicht so ernst neh­men mit den Zehn Geboten – nützt eh nix, wenn man sich dran hält“? Soll ich alten, gestandenen Christen sagen: „Schön, dass ihr immer so fleißig und anständig wart, dass ihr zum Gottesdienst gegan­gen seid und euch in der Gemeinde engagiert habt, aber vor Gott zählt das alles leider überhaupt nichts“? Nein, ich glaube, so hätte ich Paulus missverstanden. Aber was meint er dann?

Ich glaube, es geht ihm einfach darum, dass ich in meinem Verhält­nis zu Gott nichts absichern und berechnen kann. Nichts, was ich habe oder tue, ist eine Garantie dafür, dass zwischen Gott und mir alles in Ordnung ist. Paulus hat ein untadeliges Leben geführt – nach den Maßstäben, die Gott selber seinem Volk gesetzt hatte. Und doch hat ihn eben dieses Leben dazu gebracht, Jesus als üblen Gottesläs­terer zu betrachten, und seine Leute bis aufs Blut zu bekämp­fen. Nur die Begegnung mit dem auferstandenen Christus selber konnte ihn da rausholen.

Und das gilt auch für mich: Meine Urgroßeltern zählten zur Gründerge­neration der Siegerländer Erweckungsbewegung. Was sie geprägt hat, das habe auch ich von klein auf erfahren und aufgenom­men. Ich bin als Säugling getauft und mit knapp vierzehn konfirmiert worden. Ich habe sicher nicht untadelig gelebt, aber im Großen und Ganzen recht anständig. Ich habe Theologie studiert, meinen Doktor gemacht, bin Pastor geworden. Und ich bemühe mich meinem Beruf gewissenhaft nachzukommen. Das ist alles gut und richtig, und ich bin dankbar, dass es so ist. Aber wenn ich das alles auf eine Liste setzen würde, die ich Gott unter die Nase halte und sage: „Guck, das hab ich alles auf der Haben-Seite – das wird ja wohl reichen, damit zwischen uns alles klargeht“, dann würde Gott diese Liste ungelesen zerknüllen und in den Mülleimer schmeißen. Und dann würde er sagen: „Vergiss das alles! Zwischen dir und mir ist nur eins wichtig: Dass ich dich liebhabe und dass du mir das glaubst. Das mit meiner Liebe, das kannst du an Jesus sehen, in dem ich einer von euch geworden bin. Dem brauchst du nichts, aber auch gar nichts mehr hinzuzufügen. Und das mit dem Glauben, das heißt, dass du einfach Ja sagst zu mir und danach lebst. Da ist dann auch der rechte Platz für alles, was du tust, um meine Gebote zu befolgen.“

Allerdings: Mit dem Ja unseres Glaubens verhält es sich anders als in den meisten der Bekehrungsgeschichten, von denen ich am Anfang gesprochen habe. Da wird jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt Christ, und dann ist alles gut. Deshalb werden die Bücher nach der Bekehrung auch immer so langweilig: Es passiert ja nichts wirklich Wichtiges mehr.

Bei Paulus dagegen wird es nach seiner Bekehrung erst richtig span­nend. Nicht nur wegen der Gefahren, die er auf seinen Reisen er­lebt. Nicht nur wegen der Kämpfe und Auseinandersetzungen mit seinen Gemeinden, mit Neidern und Gegnern. Sondern auch und vor allem, weil der Glaube nicht irgendwann einfach da ist und dann immer da bleibt, sondern weil es mit ihm auf und ab geht, weil er sich entwickelt und verändert, und das nicht immer nur in eine Rich­tung, weil er durch Zweifel und Krisen hindurch muss und niemals fertig ist, solange wir leben. „Ich hab’s noch nicht ergriffen“, sagt Paulus. „Auch mein Glaube, meine Beziehung zu Jesus Christus, meine Leiden und Kämpfe um Christi willen sind nichts, auf das ich mir etwas einbilden kann. Das alles ist noch nicht das Ziel. Das ist erst erreicht, wenn mein irdisches Leben zu Ende geht und ich mei­nen Anteil erhalte an der Auferweckung Jesu von den Toten.“

Bis dahin bin ich unterwegs – nicht auf einem gemütlichen Spazier­gang, sondern auf einer Jagd, auf einem Langstreckenrennen. Der Siegespreis winkt, aber bis dahin muss ich mich noch tüchtig anstren­gen. Nun kann freilich eine Jagd auf Erden auch vergebens sein, weil ich die Beute nicht finde oder sie mir entwischt. Und ein Rennen kann ich auch verlieren, weil ein anderer schneller ist oder weil ich unterwegs schlapp mache. Viele Christen haben Paulus so verstanden und haben es dann mit der Angst bekommen: Was ist, wenn ich mich am Ende dann doch nicht genug angestrengt habe? Wenn mein Glaube, meine Liebe, meine Hoffnung zu schwach gewe­sen sind? Bleibt der Siegespreis der ewigen Herrlichkeit dann unerreichbar für mich?

Aber wenn ich so denke, dann bin ich schon wieder am Rechnen. Dann versuche ich wieder, Gott von mir aus eine positive Bilanz zu präsentieren – nur dass ich jetzt die Furcht habe, dass es nicht reicht. Doch ich habe dann einen entscheidenden Satz bei Paulus übersehen: „Nicht, dass ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkom­men sei; ich jage ihm aber nach, ob ich’s wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin.“ Ich hab’s also noch nicht in der Hand, aber Jesus Christus hat mich in der Hand, und nichts und niemand kann mich da herausreißen. Ich muss keine Angst haben, dass ich das Ziel verfehle, denn Gott will, dass ich an­komme, und dann sorgt er auch dafür, dass es gelingt. Durch alles Versagen, alle Zweifel, alle dunklen Täler hindurch bringt er mich ans Ziel. Er sorgt dafür, dass ich nicht vergebens laufe. Und dann ist es doch die Mühe wert, oder? Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein