Predigt Tal- und Wenschtkirche, Sonntag, 10.01.2016

GOTTESDIENST FÜR DEN ERSTEN SONNTAG NACH EPIPHANIAS

Text: Mt 3,13-17

Zu der Zeit kam Jesus aus Galiläa an den Jordan zu Johannes, dass er sich von ihm taufen ließe. Aber Johannes wehrte ihm und sprach: „Ich bedarf dessen, dass ich von dir getauft werde, und du kommst zu mir?“ Jesus aber antwortete und sprach zu ihm: „Lass es jetzt geschehen! Denn so gebührt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen.“ Da ließ er’s geschehen. Und als Jesus getauft war, stieg er alsbald herauf aus dem Wasser. Und siehe, da tat sich ihm der Himmel auf, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube herab fahren und über sich kommen. Und siehe, eine Stimme vom Himmel herab sprach: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“„Zu der Zeit kam Jesus an den Jordan zu Johannes, dass er sich von ihm taufen ließe.“ Wenn wir das hören oder lesen, nehmen wir’s zur Kenntnis und sehen kein besonderes Problem dabei. Für uns ist das schlicht eine historische Information: Jesus wurde von Johannes dem Täufer im Jordan getauft. Sicher, wir sind eher die Taufe von kleinen Kindern gewöhnt als die von erwachsenen Menschen, auch wenn das in letzter Zeit wieder häufiger vorkommt. Wir be­schränken uns auch bei der Taufe in der Regel auf ein paar Tropfen Wasser und tauchen niemanden in einem Fluss unter. Aber ansonsten ist die Information für uns nicht besonders aufregend. Jesus wurde eben getauft, wie auch wir alle getauft worden sind.

Aber genau das war für die Christen zur Zeit des Matthäus ein Rie­senproblem. Denn Johannes taufte die Menschen ja zum Zeichen ihrer Umkehr von falschen Wegen: „Tut Buße“, rief er den Men­schen zu, „denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“ Sym­bolisch wusch er den Umkehrwilligen alles Böse ab, mit dem sie sich befleckt hatten. So machte er ihnen einen neuen Anfang möglich. Aber hatte Jesus das nötig? Buße tun, umkehren, neu anfangen? War er denn nicht der Sohn Gottes? Hatte der Engel nicht dem Josef ge­sagt: „Er wird sein Volk retten von ihren Sünden“? Wie könnte er das, wenn er selber umkehren müsste, also ein Sünder wie wir wäre? Und wenn nicht, wieso stellt er sich dann mit den Sündern in eine Reihe?

Doch es war nun einmal geschehen: Johannes hatte Jesus getauft. Das war allgemein bekannt und ließ sich nicht leugnen. Also versu­chen alle vier Evangelien auf ihre Weise dieser Tatsache einen posi­tiven Sinn zu geben. Matthäus tut es, indem er Johannes die Fragen seiner Mitchristen in den Mund legt und Jesus darauf antworten lässt: „Jo­hannes wehrte ihm und sprach: Ich bedarf dessen, dass ich von dir getauft werde, und du kommst zu mir? Jesus aber antwortete und sprach zu ihm: Lass es jetzt geschehen! Denn so gebührt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen.“

Johannes sieht hier in Jesus den, dessen Kommen er angekündigt hat: „Ich taufe euch mit Wasser zur Buße“, hatte er gesagt; „der aber nach mir kommt, ist stärker als ich, und ich bin nicht wert, ihm die Schuhe zu tragen; der wird euch mit dem heiligen Geist und mit Feuer tau­fen.“ Diese Geist- und Feuertaufe hat Johannes ebenso nötig wie alle anderen auch. Jesus müsste sie ihm geben; stattdessen nimmt er die Taufe mit Wasser auf sich. Für Johannes und für die, als deren Spre­cher er hier auftritt, ist das eine verkehrte Welt.

Aber Jesus besteht auf seinem Anliegen. Für ihn gehört die Taufe zur „Erfüllung aller Gerechtigkeit“. Was ist damit gemeint? Für Mat­thäus ist das die Aufgabe jedes Christen: Das Gerechte zu tun, alles zu halten, was Christus uns befohlen hat. Wenn wir die Bergpre­digt lesen mit ihren kompromisslosen Forderungen, dann bekommen wir eine Vorstellung davon, was alles dazu gehört: nicht nur nicht töten, son­dern noch nicht mal böse Worte benutzen; nicht nur nicht ehebre­chen, sondern noch nicht mal einer Frau (ich ergänze: einem Mann) verlängerisch hinterher gucken. Nicht nur den Nächsten, sondern auch die Feinde lieben. Die Latte liegt also unglaublich hoch. Ei­gentlich ist klar, dass wir sie reißen werden; denn so hoch kann nie­mand springen.

Doch, sagt Matthäus, einer konnte es, und deshalb können wir es auch. Jesus hat alle Gerechtigkeit erfüllt. Von seiner Taufe an bis zu seinem Tod am Kreuz hat er uns vorgelebt, wie unser Menschsein gelingen kann. Aber nicht nur das. Er hat nicht nur das Gerechte ge­tan, sondern „alle Gerechtigkeit erfüllt“. Er ist nicht nur unser Vor­bild, sondern unser Wegbereiter. Er hat den Weg der Gerechtigkeit überhaupt erst geschaffen, den wir nun gehen können. Denn wir sa­gen zwar: „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“; aber das Sprichwort stimmt ja nicht. Der beste Wille bringt nicht ans Ziel, wenn kein Weg dorthin führt. Und zum Ziel der Gerechtigkeit gäbe es keinen Weg, wenn wir ihn finden müssten. Jesus Christus allein hat ihn uns eröff­net.

Warum nur er das konnte, das sagt uns die Stimme vom Himmel. Bei Markus und Lukas wendet sie sich an Jesus, aber hier bei Matthäus spricht sie uns an: „Dieser ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlge­fallen habe.“ Zugespitzt gesagt: Nur Gott konnte der Mensch sein, der alle Gerechtigkeit erfüllt. Wir anderen Menschen können die Gerechtigkeit nur tun. Er hat schon alles ans Ziel gebracht, wir kön­nen uns nur dorthin auf den Weg machen.

„Jesus hat alle Gerechtigkeit erfüllt“ – für mich ist das eine tröstliche Gewissheit. Er ist ans Ziel gelangt, und das reicht für mich und alle anderen mit. Deshalb kommt es für mich nicht mehr darauf an, das Ziel zu erreichen. Es kommt nur noch darauf an, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Weil Jesus das schon war, muss ich kein perfekter Mensch im Sinne der Bergpredigt sein. Aber ernst nehmen muss ich sie sehr wohl. Ich darf mich nicht damit zufrieden geben, wenn es mir – immerhin – gelingt, böse Taten zu vermeiden. Denn zumindest vor Gott sind meine bösen Worte und Gedanken genauso schlimm, weil sie demselben gottlosen und unmenschlichen Wesen entsprin­gen. Ich werde auf dem Weg der Gerechtigkeit immer nur humpelnd und stolpernd vorankommen. Aber ich muss nicht daran verzweifeln, solange ich weiß, dass Gott mich auf die richtige Spur gesetzt hat und mich notfalls auch wieder auf diese Spur zurückbringt.

Dass ich überhaupt vorankomme, dass ist einzig Gottes gutem Geist zu verdanken, den er mir mit auf den Weg gibt. Und wieder war Jesus hier mein Wegbereiter, weil er sich ganz von Gottes Geist hat leiten lassen.

„Wie eine Taube“ kam der Geist auf Jesus herab, heißt es in der Bi­bel. In unseren Zeiten, wo die Tauben als „Flugratten“ be­schimpft werden, weil sie fett, faul und viel zu viele geworden sind und wert­volles Kultur­erbe verschandeln, können wir mit dieser Aussage wahrscheinlich wenig anfangen. Aber es gab auch Zeiten, und die sind noch gar nicht lange her, in denen die Tauben noch höher im Kurs standen.

Schon zur Zeit Jesu galten sie als besonders sanfte und friedfertige Vögel. Und noch zu meiner Studienzeit zierte die Friedenstaube von Picasso jede atomwaffenfreie Studentenbude. Heute sieht man sie nur noch selten. Zwar ist die Welt mindestens so unfriedlich wie eh und je. Aber was sollen altgediente Friedenssymbole und die, die sie noch hochhalten, schon ausrichten? Können sie etwa so hoffnungslos verfahrene Situationen zu lösen, wie wir sie gerade im Nahen Osten erleben? Trotzdem ist es schade, dass die Friedenstaube heute zu den bedrohten Arten gehört. Denn das Symbol der Taube für den Geist Gottes hat schon immer besagt, dass dieser Geist ein Geist des Friedens ist. Und Jesus, auf den dieser Geist herabkam, war nicht zufällig der, der die Fried­ferti­gen selig pries, zur Feindesliebe aufrief und sich widerstandslos Ge­walt antun ließ. Überall, wo Christen sich auf Gottes Geist beru­fen, müssten sie also genauso auf Friedfertigkeit setzen wie ihr Herr und Meister. Daraus konkretes Handeln abzuleiten, das ist zwar heute viel komplizierter als vor dreißig Jahren. Aber ich traue Gottes Geist zu, dass er auch in verwickelter Lage Rat weiß.

Nur etwas weiter zurück als die Glanzzeit der Frie­denstaube liegt die der Brieftaube. Als ich im Ruhrgebiet Pfarrer gewesen bin, war zwar der klassische „Taubenvatter“ da auch schon selten geworden. Aber die Älteren konnten sich noch gut erinnern an die Faszination der Taubenzucht. Denn die Taube, zumindest so­lange sie nicht völlig degeneriert ist, hat einen fantastischen Orien­tierungssinn. Selbst auf große Entfer­nungen findet sie den Weg zu­rück in ihren heimischen Schlag. Auch das mag mitschwingen, wenn die Taube zum Symbol des heiligen Geistes wird. Denn auch seine Aufgabe ist es, unseren Orientierungs­sinn zu schärfen: uns wissen zu lassen, ob wir noch auf dem richtigen Weg sind, uns Ausdauer zu geben, die uns zum Ziel finden lässt.

Aber die Taube ist nicht nur ein Symbol der Sanftmut und Friedfer­tigkeit oder der Ausdauer und des Orientierungssinnes. Sie ist auch ein Symbol Gottes, genauer gesagt: seiner „weiblichen“ Seite. Denn „der Geist“ ist nur im Deutschen männlich. Im Hebräischen ist „Ru­ach“ weiblich. Nur deshalb konnte wohl die Taube das Symbol für „Geist“ werden, denn in der Antike begleitete sie immer weibliche Gottheiten. Man muss das jetzt nicht gleich feministisch übertreiben und aus Gott eine „sie“ machen. Aber trotzdem sollte uns die Taube als Symbol für Gottes Geist daran erinnern, dass Gott auch so ge­nannte „weibliche“ Eigenschaften besitzt: Mutterliebe (ich erinnere an unsere Jahreslosung und das schöne Bild von Eberhard Münch dazu), Einfühlungs­vermögen, Sanftmut, Leidensfähigkeit und so weiter. Alle diese Ei­genschaften kamen durch den Geist auch auf Jesus, und durch ihn, unseren Wegbereiter, kommen sie auch auf uns. Möge also Gottes guter Geist immer mehr Menschen – Männer und Frauen – von die­sem schrecklichen, typisch „männlichen“ Im­poniergehabe befreien, das ständig die Muskeln oder deren materiel­len Ersatz spielen lassen muss, um sich des eigenen Wertes zu versi­chern. Möge er Menschen aus uns machen, die auch mal zurückste­cken und das Gesicht verlie­ren können, wenn es dem Frieden und der Gerechtigkeit dient. Denn nur dann haben wir ein Recht uns Nach­folger dessen zu nennen, der für uns alle Gerechtigkeit erfüllt hat. Amen.

Pfr. Dr. Martin Klein