Predigt Tal- und Wenschtkirche, Sonntag, 25.03.2018

Gottesdienst für den Palmsonntag

 
Text: Jes 50,4-9
 
Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben,
dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden.
Er weckt mich alle Morgen;
er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören.
Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet.
Und ich bin nicht ungehorsam
und weiche nicht zurück.

Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen,
und meine Wangen denen, die mich rauften.
Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.
Aber Gott der Herr hilft mir,
darum werde ich nicht zuschanden.
Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein;
denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde.
Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten?
Lasst uns zusammen vortreten!
Wer will mein Recht anfechten?
Der komme her zu mir!
Siehe, Gott der Herr hilft mir; wer will mich verdammen?
Siehe, sie alle werden wie ein Kleid zerfallen,
Motten werden sie fressen.
 
„Mensch, du darfst dir nicht alles gefallen lassen!“ Diesen guten Rat haben wir sicher alle schon gehört. „Wenn du dich nicht wehrst, dann lädst du die anderen nur ein, immer mehr auf dir rumzuhacken. Also verteidige dich, wenn du angegriffen wirst. Zeig Stärke, wenn jemand deine Schwächen ausnutzen will. Trete zurück, wenn man dich tritt. Denn wer zu allen Angriffen schweigt und alle Schläge einsteckt, gibt im Grunde schon zu, dass er im Unrecht ist. Wer sich nicht zur Wehr setzt, hat schon verloren.“
So rät man uns, und so geht es ja auch zu unter Menschen: am Arbeitsplatz und in den Chefetagen, im gesellschaftlichen Leben und in der Politik, zwischen Bevölkerungsgruppen und Staaten, manchmal auch in einer Kirchengemeinde. Allüberall sieht und hört man Menschen, die für ihr Recht kämpfen: Gewerkschaftler streiken für mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen. Bürger sammeln Unterschriften für Umgehungsstraßen oder gegen Windräder. Streitende Nachbarn, Ehepartner, Erben ziehen vor Gericht und lassen die Rechtsanwälte gut verdienen. Rechte Gruppierungen und Parteien kämpfen mit dem Satz „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ gegen ein angebliches links-liberales Medienkartell. Unterdrückte Volksgruppen kämpfen für ihre Unabhängigkeit, und das nicht immer friedlich. Benachteiligte Gesellschaftsgruppen fordern ihren Teil vom Kuchen, manchmal auch mit Gewalt. Anders scheint es nicht zu gehen, auch wenn das Recht, wenn man es denn schließlich bekommt, meistens einen bitteren Nachgeschmack hat.
Der Predigttext stellt uns einen Menschen vor, der sich völlig anders verhält. Er ist ein Prophet, ein Bote, ein Knecht Gottes. Und offenbar muss er – wir wissen nicht, von wem – für seine Botschaft schwere Anfeindungen erdulden. Aber er wehrt sich nicht, wenn man ihm in den Rücken fällt. Er hält still, wenn man ihn schlägt, auch wenn es immer und immer wieder geschieht. Er lässt sich ins Gesicht spucken und verzieht dabei keine Miene. Was ist das für einer? Ein hoffnungsloser Schwächling? Ein Masochist, der es genießt, wenn man ihn quält? Ein Märtyrer, der auf Lohn im Jenseits setzt, vielleicht auch auf Verehrung durch die Nachwelt?
Nein, ich denke, nichts davon trifft zu – nicht mal das letzte. Dass hier einer seine Misshandlung wehrlos erträgt, liegt nicht an ihm selbst – weder an seiner Schwäche noch an seiner Stärke –, sondern es liegt an dem unerschütterlichen Halt, den dieser Mensch an seinem Gott hat.
Das zeigt sich erstens an seinem offenen Ohr für das, was Gott ihm sagt: „Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören.“ Ob Gott dazu bei uns noch eine Chance hat – bei all dem akustischen Schrott, der unsere Ohren zumüllt, bei all den vielen Gedanken, die oft schon vorm Aufwachen in unserem Kopf herumkreisen? Können wir unsere Ohren überhaupt noch auf Stille einstellen? Können wir uns den Kopf so frei halten, dass Gott ihn mit seinen guten Gedanken füllen kann? Er will es uns dabei ja leicht machen. Er weckt auch uns das Ohr und den Verstand, wenn wir ihn nur lassen. Vielleicht sollten wir es einfach mal ausprobieren: die Augen schließen, alle Geräusche abstellen, einfach an gar nichts denken und auf die Stille hören, aus der Gott zu uns spricht. Ich denke, wir werden dabei nicht gleich eine Offenbarung erleben. Aber gut tun wird es uns auf jeden Fall. Und vielleicht klärt sich dadurch manches, was durch alles Nachdenken, Reden, Handeln nicht zu klären ist.
Aber ein Zweites kommt hinzu: Gott will uns nicht nur das Ohr öffnen. Er will uns auch die Zunge lösen: „Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden.“ Die „Müden“, das waren damals die Israeliten im babylonischen Exil – immer noch traurig über den Verlust der Heimat, enttäuscht über das lange Schweigen ihres Gottes, ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Ihnen hat der unbekannte Prophet, den wir notdürftig den zweiten Jesaja nennen, Neues zu verkünden: „Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber«? Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen; aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“
Aufbauende Worte. Haben wir solche auch für die „Müden“ unserer Tage – die Traurigen, die Niedergeschlagenen, die Enttäuschten, die Mut- und Hoffnungslosen? Habe ich sie als Pfarrer? Und habe ich sie „zur rechten Zeit“? Manchmal ja, Gott sei Dank, manchmal aber auch nicht – zum Beispiel weil ich selber gerade zu den Müden gehöre und erst einmal für mich ein Mut machendes Wort brauchen würde, bevor ich andere trösten kann. Oder wenn ich für einen bestimmten Menschen gerade der falsche bin, um ihn trösten zu können. Und so wünsche ich einfach jedem von uns, mir und Ihnen allen, mindestens einen Menschen, dem Gott zur rechten Zeit das Ohr weckt und die Zunge löst, wenn wir es brauchen.
Doch zurück zum Propheten und den Gründen, warum er sich so anders verhält, als wir es üblicherweise tun. Zum einen ist das so, weil er sich im Hören und im Weitergeben aufgehoben fühlt in der guten Botschaft, die Gott ihm aufträgt. Das macht ihn standhaft. Deshalb weicht er nicht zurück. Deshalb kann er die Schmach ertragen, die andere ihm antun. Aber es gibt noch einen anderen Grund, der freilich mit dem ersten zusammenhängt. Der Prophet muss deshalb nicht um sein Recht kämpfen, weil Gott ihm sein Recht längst verschafft hat: „Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Siehe, Gott der Herr hilft mir; wer will mich verdammen?“ Deshalb können seine Feinde ihm zwar körperlichen Schmerz zufügen, aber sie können seine Seele nicht verletzen. Sie können ihm äußerliche Schande antun, aber sie können ihn nicht innerlich zugrunde richten. Das ist nicht nur einfach ein dickes Fell, das der Prophet sich zugelegt hat; denn so ein dickes Fell hat keiner, dass man ihm nicht auch innerlich wehtun könnte. Sondern es ist die felsenfeste Gewissheit, dass sein Recht bei seinem Gott in besten Händen ist.
Paulus fällt mir dazu ein: „Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. Wer will verdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zur rechten Gottes ist und uns vertritt.“ (Röm 8,33f) Und Jesus selber natürlich, der den Kelch des Leidens bis zur Neige leert, ohne zu klagen und ohne zurückzuweichen.
Aber können wir das? Können wir uns alles gefallen lassen, weil unser Recht in Gottes Hand ist? Und sollten wir das überhaupt? Nein, ich denke, wir können das nicht. Erstens weil wir, wie gesagt, ein so dickes Fell nicht haben, dass man uns nicht innerlich wehtun könnte. Und weil solche inneren Wunden viel schwerer heilen als äußere – manchmal nie – haben wir alles Recht der Welt, uns vor solchen Wunden zu schützen, so gut wir können. Und auch für unser äußeres Recht können und dürfen wir mit allen Mitteln eintreten, die der Rechtsstaat uns bietet.
Aber wir können es zweitens auch deshalb nicht, weil wir die Aussagen „Ich bin im Recht“ und „Gott spricht mich gerecht“ so leicht miteinander verwechseln. Wir merken es ja in vielerlei Konflikten, wie wenig es uns weiterhilft, wenn jede Seite meint, mit ihrer Sicht der Dinge im Recht zu sein. Wenn dann noch beide überzeugt sind: „Wir haben Gott auf unserer Seite, und die anderen nicht“, dann ist endgültig kein Friede mehr möglich. Es gibt ja leider zahllose Beispiele dafür, vom Dreißigjährigen Krieg in Deutschland bis zu den heutigen Bürgerkriegen im Irak und in Syrien, dass religiös aufgeladene Konflikte die schlimmsten und hartnäckigsten sind, die es gibt.
Nein, weiter kommen wir nur, wenn wir anerkennen: Unser aller Gerechtigkeit liegt einzig und allein bei Gott. Er spricht uns gerecht, er „macht mich ihm genehm“, wie Jochen Klepper unseren Predigttext nachgedichtet hat. Und er tut das trotz all unserer Macken und Fehler, trotz all der Wunden, die wir selbst und andere uns schlagen. Gott allein weiß darum auch, was richtig und gut für uns ist: für uns persönlich und für die Gemeinschaften, in denen wir leben. Also empfehle ich uns allen folgendes: Lasst uns wenigstens für die kommenden Passions- und Ostertage einfach einmal allen Streit und allen Ärger beiseite legen, der uns gerade drückt – sei es in der Familie, in Schule oder Beruf, in der Nachbarschaft oder wo auch immer. Lasst uns innerlich und äußerlich zur Ruhe kommen. Lasst uns mit wachem Ohr auf die Botschaft von Tod und Auferstehung Jesu Christi hören, die im Zentrum unseres Glaubens steht. Und dann lasst uns mit neuer Kraft und neuer Gelassenheit an die Probleme gehen, die wir zu lösen haben. Womöglich zerfallen auch sie dann wie Kleider, die die Motten fressen. – Unmöglich? Nicht bei Gott!
Amen.

Ihr Pastor Martin Klein