Predigt Tal- und Wenschtkirche, Sonntag, 18.11.2018

Gottesdienst für den vorletzten Sonntag des Kirchenjahrs

Text: Offb 2,8-10

Und dem Engel der Gemeinde in Smyrna schreibe: Das sagt der Erste und der Letzte, der tot war und ist lebendig geworden: Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut – du bist aber reich – und die Lästerung von denen, die sagen, sie seien Juden, und sind‘s nicht, sondern sind die Versammlung des Satans. Fürchte dich nicht vor dem, was du leiden wirst! Siehe, der Teufel wird einige von euch ins Gefängnis werfen, damit ihr versucht werdet, und ihr werdet in Bedrängnis sein zehn Tage. Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.

„Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut“ – wie würden Sie reagieren, wenn jemand diesen Satz zu Ihnen sagen würde, einfach so, aus heiterem Himmel?
Ich glaube, ich würde mich zunächst ziemlich wundern: „Welche Bedrängnis? Welche Armut? Mir geht’s doch gut! Ich bin gesund, ich habe alles, was ich brauche, und noch einiges mehr, ich bin glücklich verheiratet, habe drei gesunde und im Großen und Ganzen wohlgeratene Kinder und freue mich an den schönen Dingen des Lebens. Also, was soll das Ganze? Wovon redet der?“
Je nachdem, in welcher Stimmung mich dieser Satz trifft, würde ich vielleicht aber auch anders reagieren: „Woher kennt der meine geheimen Sorgen? Woher weiß der, wie sehr es mich manchmal umtreibt, was aus unserer Welt noch werden soll, so wie wir mit ihr umgehen? Wie hat der bloß herausgefunden, wie leer und arm ich mich manchmal fühle – arm an Gefühlen, arm an den Worten und Taten, die jetzt eigentlich dran wären?“ Und dann käme es wohl darauf an, wer das ist, der mich da anspricht, und wie er es tut. Je nachdem würde ich vielleicht denken: „Da ist endlich jemand, dem ich meine Bedrängnis anvertrauen kann“. Vielleicht würde ich aber auch sagen: „Was gehen ausgerechnet den meine tiefsten Sorgen und Nöte an?“
So ähnlich werden wir wohl auch als christliche Gemeinde auf diesen Satz aus der Offenbarung des Johannes reagieren. Auch da sind wir zunächst etwas befremdet. Denn die Situation der Gemeinde von Smyrna in Kleinasien um das Jahr 95 n.Chr. und die Situation der Evangelisch-Reformierten Kirchengemeinde Klafeld im Jahre 2018, die haben in der Tat wenig miteinander zu tun. Wir sind nicht von einer mächtigen antichristlichen Staatsgewalt bedroht. Wir werden nicht für unser christliches Bekenntnis ins Gefängnis geworfen oder gar ums Leben gebracht. Erst recht haben wir es nicht mit Juden zu tun, die uns bei den staatlichen Behörden anschwärzen, weil wir aus ihrer Sicht einem Irrglauben anhängen. Im Gegenteil: Verglichen mit dem, was Christen in der Zwischenzeit den Juden angetan haben, waren ihre Feindseligkeiten damals eher harmlos. Auch von materieller Armut kann bei uns keine Rede sein – zurzeit wächst sogar wieder die Kirchensteuerzuweisung trotz sinkender Gemeindegliederzahlen. Zum Thema „Leiden um des Glaubens willen“ fallen uns demnach die alten Märtyrer ein, die Kirche im „Dritten Reich“ oder in der DDR, Christenverfolgungen in muslimischen Ländern – aber sonst? „Smyrna“ ist für uns weit weg oder lange her.
Können wir also den Text beiseite legen, weil wir offensichtlich nicht gemeint sind? Vielleicht wäre das doch ein bisschen voreilig. In unserem persönlichen Leben entdecken wir unsere Bedrängnisse oft erst, wenn wir etwas länger nachdenken und etwas tiefer graben, und so ist es wohl auch in unserem Leben als Gemeinde. Wenn wir da gründlicher nachforschen, dann können wir eine Bedrängnis und eine Armut entdecken, an die wir uns längst gewöhnt haben, die aber womöglich gefährlicher ist als eine handfeste Christenverfolgung. Vielleicht bedrängt es uns dann plötzlich wieder, dass trotz unseres vielfältigen Gemeindelebens in unseren Gottesdiensten selten mehr als zwei Prozent unserer Gemeindeglieder sitzen. Vielleicht kommen wir ins Nachdenken darüber, dass wir mit unseren kirchlichen Angeboten fast nur noch die schrumpfende bürgerliche Mitte unserer Gesellschaft erreichen, während wir offenbar weder denen am oberen noch denen am unteren Rand etwas zu bieten haben – geschweige denn denen, die besonders mit der Zeit gehen wollen. Viele fragen sich schon, ob es in fünfzig Jahren überhaupt noch eine Evangelische Kirche in diesem Land geben wird. Natürlich gibt es dafür kluge Erklärungen von Soziologen und Kirchenämtern. Sie reden von Werteverlust und Traditionsabbruch, von wachsendem Individualismus, von der großen Konkurrenz auf dem sogenannten „Freizeitmarkt“, und so weiter. Aber wie man es auch erklären und entschuldigen mag: dass es so ist, bleibt ein Armutszeugnis – ein Zeugnis unserer Armut an Ideen, an Glaubwürdigkeit, an Begeisterung.
Wir sehen schon: Es muss uns nicht befremden, wenn jemand zu uns sagt: „Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut“. Dieser Satz kann uns genauso treffen wie die Gemeinde in Smyrna mit ihrer ganz anderen Not. Aber nun kommt es auch hier darauf an, wer uns das sagt. Kirchenkritiker, die ihre Finger auf die wunden Stellen legen, gibt es heutzutage genug. Manche üben Kritik aus ehrlichem Interesse an einer Besserung, viele aber auch nur, weil es gerade Mode ist, über „die Kirche“ herzuziehen. Aber Kritik allein hilft uns ja nicht weiter. Mit Leuten, die nur unsere Schwächen aufdecken, ohne uns helfen zu können, vielleicht auch ohne uns helfen zu wollen, werden wir unsere Bedrängnis nicht überwinden können, weder als einzelne noch als Gemeinde.
Also wer ist das, der da behauptet, dass er unsere Bedrängnis und Armut kennt? Den Leuten von Smyrna stellt er sich folgendermaßen vor: „Das sagt der Erste und der Letzte, der tot war und ist lebendig geworden“. Das ist nun freilich keine besonders klare Auskunft. Im Gegenteil, diese Vorstellung klingt einigermaßen rätselhaft. Natürlich ahnen wir, wer da spricht. Wir sitzen ja schließlich in der Kirche und hören ein Wort aus der Bibel. Aber warum so geheimnisvoll? Kennen wir ihn denn nicht längst? Aber vielleicht kennen wir ihn ja noch nicht gut genug, und er drückt sich so seltsam aus, damit wir noch mal neu über ihn ins Nachdenken kommen und ihn dadurch besser kennen lernen. Also versuchen wir’s doch einfach, ob wir mit etwas Nach-denken das Geheimnis lüften können.
Zunächst stellt er sich vor als „der Erste und der Letzte“. Das könnte so kein Mensch von sich sagen. Wir sind zwar auch öfters Erste oder Letzter bei irgendwas – wenn wir als einzige dabei sind, vielleicht auch beides. Aber der, der hier spricht, ist der Erste und der Letzte überhaupt. Das muss schon einer sein, der von Anfang an da war und am Ende immer noch da sein wird. Noch mehr: Das muss einer sein, der schon da war, bevor diese Welt entstand, und der noch da sein wird, wenn sie eines Tages nicht mehr existieren sollte, einer, der selbst ohne Anfang und Ende ist. Im Buch des Propheten Jesaja wird diese Formulierung zum ersten Mal gebraucht. Und in hebräischer Sprache konnte man das, was gemeint ist, noch nicht mit einem Wort ausdrücken. Wir haben in unserer Sprache dafür das Wort „ewig“. „Der Erste und der Letzte“ ist also „der Ewige“, und der Ewige – das haben wir ja schon geahnt – das ist Gott.
Aber vielleicht macht uns die zweite Aussage in diesem Schluss wieder unsicher, denn sie scheint sich nicht damit zusammenzureimen: Gott, der Ewige, der tot war und lebendig geworden ist? Wie das? Kann Gott denn sterben? Und dann wieder auferstehen? Dass Gott tot ist, das hat schon der alte Nietzsche gesagt. Aber der hat damit gemeint, dass es Gott nicht gibt und nie gegeben hat und dass wir das nun endlich akzeptieren sollten. Was dagegen hier in der Offenbarung des Johannes steht, das verstößt gegen die Gesetze der Logik: Entweder Gott ist ewig, dann ist er auch unsterblich. Oder er ist sterblich, dann ist er aber nicht Gott. Ist dieser Schluss unausweichlich? Vielleicht nicht, wenn wir noch etwas länger über diesen Satz nachdenken. Es gibt ja einen, von dem wir als Christen genau das in jedem Gottesdienst bekennen: Jesus von Nazareth, gekreuzigt, gestorben und begraben, aber am dritten Tag auferstanden von den Toten. Er war tot und ist lebendig geworden, er ist also gemeint. Das eröffnet uns aber einen ganz neuen Blickwinkel: Der Gott, der sich hier vorstellt, unser Gott, trägt das Gesicht Jesu. Das heißt: So wie Jesus gelebt hat und gestorben ist, kompromisslos in seiner Liebe zu den Menschen, so ist Gott. Und das soll uns auch die Botschaft von seiner Auferweckung sagen. Mit ihr hat sich Gott zu Jesus bekannt: „So wie er bin ich. Er ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe“.
Wenn das so ist, wenn unser Gott das Gesicht Jesu trägt, dann ist er nicht das unveränderliche, unsterbliche höchste Wesen, das jenseits von Raum und Zeit existiert und erhaben über dem Elend dieser Welt thront. Wenn dieser Gott der Philosophen zu mir sagen würde: „Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut“, dann würde das zwar stimmen – er ist ja schließlich allwissend – aber trotzdem würde ich mich diesem Gott nicht anvertrauen. Denn wie könnte er in seinem Jenseits wirklich nachempfinden, was es heißt, hier auf Erden bedrängt und arm zu sein? Wenn unser Gott das Gesicht Jesu trägt, dann bedeutet das Wort „ewig“ bei ihm etwas anderes: Er ist der, der immer da ist, nicht irgendwo weit weg, sondern hier bei uns. Und wenn er zu mir sagt: „Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut“, dann ist das nicht bloß kalte Allwissenheit. Denn er kennt sie deshalb, weil er der Vater Jesu ist, der am eigenen Leib schlimmste Armut und Bedrängnis bis hin zum Tod erfahren hat, der aber auch durch seine Auferstehung Armut, Bedrängnis und Tod überwunden hat. Ihm kann ich mich anvertrauen; ihm nehme ich es ab, dass er mich und andere nicht leiden lässt, sondern dass er mitleidet, wenn ich leide, und auch, wenn seine Kirche leidet, sei es unter Verfolgung oder sei es an schleichender Auszehrung. Weil er aber auch der ist, der Leiden und Tod überwunden hat, kann ich darauf vertrauen, dass sein Mitleiden keine hilflose Betroffenheit ist, sondern das er auch uns als einzelnen und als Gemeinde hilft, unsere Bedrängnisse zu überwinden.
Ich glaube, es hat sich gelohnt, etwas über die seltsamen Worte nachzudenken, mit denen Gott sich den Leuten von Smyrna vorstellt. Wir haben so hoffentlich mehr über ihn erfahren, als wenn wir ihn sofort und ohne Nachdenken verstanden hätten. Jetzt, wo wir wissen, wer da redet, können wir auch den letzten Satz des Textes richtig verstehen: „Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben“. Das war lange Zeit ein beliebter Konfirmations- oder Trauspruch, und so kann ich mir denken, dass dieser Vers manchen von Ihnen einiges bedeutet. Umso wichtiger ist es, dass wir uns Gedanken darüber machen, was damit gemeint ist. Manche verbinden es vielleicht mit dem Spruch: „Üb’ immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab“. Nichts gegen Treue und Redlichkeit als Lebensmotto, aber so ist das Bibelwort nicht gemeint. Erst recht ist es nicht die Durchhalteparole, als die man es in den beiden Weltkriegen missbraucht hat. Das war verlogen und zynisch von denen, die die Parole ausgaben und in der sicheren Etappe saßen. Und für die, die sie befolgten, war es ein falscher Trost. Nein, das „sei getreu“ ist hier anders gemeint. Nicht: „Gehorche mir blind auf Gedeih und Verderb!“, sondern: „Vertrau dich mir an, verlass dich auf mich, denn ich bleibe dir treu!“. Mit diesem Vertrauen konnten die Christen von Smyrna für ihren Glauben ins Gefängnis gehen. Mit diesem Vertrauen können aber auch wir dem, was kommt, gelassen entgegensehen. Nicht dass uns eine leichte Zukunft garantiert wäre. Aber wir können uns darauf verlassen, dass Gott uns treu ist bis in den Tod und bis über den Tod hinaus. Für ein so weit reichendes Vertrauen kann auch der treueste Mensch nicht gerade stehen. Das kann nur der Gott, der uns in Jesus begegnet und der selbst den Tod überwunden hat. Er schenke uns dieses Vertrauen zu ihm, das uns durch die Bedrängnisse des Lebens tragen kann. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein