Predigt, Tal- und Wenschtkirche, Sonntag, 18.04.2021

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG MISERICORDIAS DOMINI

Text: Ez 34,1-6.9-16

 „Christus spricht: Ich bin der gute Hirte“ – so haben wir’s gehört im Wochenspruch und in der Lesung. Aber Jesus ist nicht der Erste, der dieses Bild für sich gebraucht hat. Schon lange vorher sahen sich die Herrscher des Ori­ents gern als gute Hirten ihrer Herde. „Wir sorgen für euch“, hieß das als Botschaft an das Volk, „wir füh­ren euch die richtigen Wege, wir verteidigen euch gegen eure Feinde, wir küm­mern uns um alles, was ihr zum Leben braucht.“ Es hieß aber auch: „Wir sagen euch wo‘s langgeht; denn was gut ist für die Herde das wissen Hirten nun mal besser als dumme Schafe.“ Mitbe­stimmung ist im Verhältnis des Schafs zum Hirten nicht vorge­sehen. Und es hieß ebenfalls: „Wir sorgen zwar für euch Schafe, aber alles, was ihr produziert, Milch, Wolle, Fleisch, das gehört uns, den Hirten, und ist für unseren Le­bensunterhalt bestimmt.“ Auch Ge­winnbeteiligung ist im Herdenbe­trieb nicht vorgesehen.

Also dachte sich ein ägyptischer Pharao gar nichts dabei, in Prunk und Luxus zu schwelgen, während das ein­fache Volk bloß das Nö­tigste zum Leben hatte, und viel­leicht nicht mal das. Es war für ihn auch völlig normal, dass er die Befehle gab und alle anderen ge­hor­chen mussten. Schließlich war beides göttliche Bestimmung. Schafe haben gegenüber ihrem Hirten ja auch nichts zu melden – ge­schweige denn, dass sie ihn demokra­tisch wählen.

Vielerorts hat sich daran nicht viel geändert. Noch immer regieren Herrscher auf Erden gern nach dem alten Hirten-Mo­dell, egal, ob sie durch Wahl, Putsch oder Thronfolge an die Macht gekommen sind. Aber immer öfter machen die Schafe nicht mehr mit. Sie sprengen das vertraute Bild und begehren gegen ihre Hirten auf, letztens zum Beispiel in Weißrussland, in Hongkong oder in Myanmar. Sie for­dern Frei­heit und Demokratie und gerechte Verteilung der Güter. Und sie sind es endgültig Leid, sich ausbeuten und bevormunden zu lassen.

Mal haben solche Proteste Erfolg, mal werden sie brutal unterdrückt oder münden in blutige Bürger­kriege Und ob die Freiheit sich jemals weltweit durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. Bis dahin mag es sich lohnen daran zu erinnern, wo und wann der Widerstand gegen selbst­herrliche Völkerhirten begonnen hat. Das ist schon ziemlich lange her, mehr als 2500 Jahre. Und es geschah im alten Israel. Auch dort galten die Könige als Hirten des Volkes. Aber hier dachte man eher daran, dass Hirten für ihre Herde leben sollen und nicht von ihr. Das hatte mit dem Glauben an den Gott Israels zu tun. Denn er, so sah man es, hatte den Königen die Sorge für sein Volk an­vertraut, beson­ders für die Bedürftigen im Land. Und deshalb waren es auch Pro­pheten Gottes, die über die Einhaltung dieses Auftrags wachten und Anklage gegen Missstände erhoben. Einer von ihnen war der Prophet Hesekiel, und bei ihm, in Kapitel 34, liest sich das folgen­dermaßen:

Und des Herrn Wort geschah zu mir:

Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der Herr: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. Das Schwa­che stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück und das Verlo­rene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt. Und meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben, und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden. Sie irren umher auf allen Bergen und auf allen hohen Hügeln und sind über das ganze Land zerstreut, und niemand ist da, der nach ihnen fragt oder sie sucht.

Hirten, die nur an sich selber denken und sich nicht um ihre Herde kümmern – es ist leicht, hinter diesem Bild die Wirklichkeit zu entde­cken, die es beschreibt, damals wie heute. Und dabei müssen wir nicht mal an nah- oder fernöstliche Despoten denken. Leider vermittelt auch hierzulande ein Teil der Führungsschicht den Ein­druck, in erster Linie sich selber zu weiden. Da wird um Posten ge­schachert und um Kompetenzen gerangelt. Da werden Privilegien zum eigenen Vorteil ausgenutzt. Da wird zwi­schen Parteien und poli­ti­schen Richtungen das ewig gleiche Gezänk aufgeführt und multi­me­dial aufgeblasen, statt sachlich über die Lösung echter Probleme zu diskutieren. Da lautet die Leitfrage allen politi­schen Handelns: Wie gewinne ich die nächste Wahl? und nicht: Was ist das Beste für unser Land?

Die Resultate sind dieselben wie zu Hesekiels Zeiten. „Das Schwa­che stärkt ihr nicht“ – das heißt zurzeit: Bei kleinen Selbständigen kommt die versprochene Hilfe nicht an. Kinder aus Migrantenfami­lien oder prekären Verhältnissen werden beim Homeschooling abge­hängt. Und überhaupt: Wer einmal arm ist, der bleibt arm bis ins dritte und vierte Glied. „Das Kranke heilt ihr nicht“ – das heißt: Was marode und krank ist an unserem Bildungs- oder Gesundheitssystem, an unserer Infra­struktur oder unserer Energiepolitik, wird nicht kon­sequent angepackt, weil angeblich kein Geld da ist oder weil ein­flussreiche Leute dabei viel zu verlieren hätten – und dann kommt ein Virus oder der Klimawandel, und wir kriegen die Quittung. „Das Verlorene sucht ihr nicht“ – das heißt: Gesetze gegen Kriminelle werden verschärft und wer möglicherweise ein Verfassungsfeind ist, wird observiert, aber es wird zu wenig getan, um die Ursachen zu bekämpfen und diese Menschen in die Gesellschaft zu­rückzuholen.

So könnte ich noch lange weitermachen und würde wahrscheinlich viel beifälliges Nicken ernten. Aber dann würde ich eine ent­schei­dende Tatsache übersehen, die bei uns anders ist als im alten Israel. Wir haben unsere Hirten in der Tat selber gewählt, und sie handeln so, wie wir es ihrer Meinung nach haben wollen, damit wir sie wie­der wählen. Also haben wir letzten Endes nur die Politiker, die wir verdienen, und wir dürfen uns nicht wundern, wenn sie genauso auf ihren eigenen Vorteil be­dacht sind wie wir selber. Beispiele gefällig? Bitte sehr: Wir sind ja alle für erneuerbare Energien, aber wehe, je­mand will ein Windrad auf unseren Haushübbel stellen! Wir gönnen ja jedem seine Corona-Impfung, aber bei uns selber soll es bitte Biontech sein! Wir jammern gern über den Werteverlust der heutigen Jugend, aber macht sich mal jemand klar, auf was Kinder und junge Leute gerade alles verzichten zugunsten des Gemeinwohls – und das weithin ohne Murren und Klagen? Davon könnte manch Älterer sich eine gehörige Scheibe abschneiden!

Wir merken also: In einem freien, demokratischen Land wie dem unseren trifft die Hirtenschelte Hesekiels nicht mehr nur die Regie­renden, sondern auch die Regierten. Da wo alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, ist eben auch das ganze Volk für den Zustand des Staates verantwortlich – Wählerinnen und Nichtwähler gleicherma­ßen. Auch die Konsequenzen, die Hesekiel ankündigt, gelten dann also uns allen. Hören wir, was er weiter zu sagen hat:

Darum, ihr Hirten, hört des Herrn Wort! So spricht Gott der Herr: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erret­ten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen.

Dass den schlechten Hirten ihr Amt genommen wird, darauf blickt Hesekiel schon zurück. Der Staat Juda ist bereits vernichtet und Jeru­salem zerstört. Der König ist kein König mehr, sondern ein Gefange­ner der Babylonier – ebenso wie die ganze Führungsschicht des Vol­kes. Auch Hesekiel selber wurde nach Babel verschleppt. Das Ge­richt hat also stattgefunden, und die Verantwortlichen für die Zer­streuung der Herde haben ihre Strafe bekommen. Deshalb kann He­sekiel nun wieder Heil verkün­digen. Er kann verheißen, dass Gott sich seinem Volk neu zu­wenden wird:

Denn so spricht Gott der Herr: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe su­chen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut wur­den am Tag der dunklen Wolken und der Finsternis. Ich will sie aus allen Völkern herausführen und aus allen Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und an allen Plätzen des Landes. Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels. Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der Herr. Ich will das Verlorene wie­der suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete ver­binden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behü­ten; ich will sie weiden, wie es recht ist.

Darin liegt also für Hesekiel die Lösung. Weil die Hirten versagen, übernimmt Gott das Hirtenamt selber. Er wird nun sein Volk weiden. Er wird die zerstreute Herde wieder sammeln. Er wird sie zurück­bringen zu den grünen Wiesen Kanaans. Und er wird allen Schaden wieder gut machen.

So ist das freilich nicht Wirklichkeit geworden, weder damals noch später. Erst wenn Gottes neue Welt anbricht, wird er sichtbar und direkt über uns Menschen herrschen und alle irdischen Herrschafts­formen überflüssig machen.

Trotzdem gilt schon jetzt, dass der Herr unser Hirte ist, und seit Jesus Christus gilt das nicht mehr nur für Israel, sondern für alle, die an ihn glauben, auch für die Schafe aus anderen Ställen, auch für uns. Das heißt zuerst, dass wir ihm vorbehaltlos vertrauen können in jeder Lebenslage, wie es Psalm 23 so treffend beschreibt.

Es hat aber, ganz im Sinne Hesekiels, auch Konsequenzen für Politik und Gesellschaft. Denn dass Christen Gott allein als Hirten und Herr­scher anerkennen, das relati­viert alle irdische Herrschaftsausübung. Ob wir als Christen nun in einer Demokratie leben oder unter einem autoritären Regime, in kei­nem Fall hat der Staat das letzte Wort über uns. Kein irdischer Machthaber hat Macht über unser Gewissen. Mit Recht hat sich Martin Luther darauf berufen, als er vor 500 Jahren vor dem Reichstag zu Worms stand. Denn, so heißt es schlicht in der Apostelgeschichte, „man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“. Niemand kann und darf also gegen unsere Glaubens­über­zeugung unseren Gehorsam erzwingen. Und wenn die Regieren­den ihrer Verantwortung vor Gott und den Men­schen nicht gerecht wer­den, müssen und dürfen wir nicht dazu schweigen – ebenso wenig, wie Hesekiel es getan hat.

Unsere demokratische Ordnung trägt dieser Sicht der Dinge Rech­nung. Deshalb ist sie für mich die Staatsform, die dem christlichen Glauben am ehesten entspricht. Denn sie betrachtet das als unser Recht, was nach Got­tes Gebot ohnehin unsere Pflicht ist, nämlich für das Wohl unseres Landes einzutreten durch Wort und Tat. Sie nimmt uns allerdings auch die bequeme Ausrede, dass wir armen Schafe nichts dafür kön­nen, wenn die Hirten nichts taugen. Denn bei uns ist jedes Schaf an seinem Ort sein eigener Hirte und nur dem guten Hirten untertan, dem wir im Leben und Sterben vertrauen kön­nen.

Vielleicht erscheint uns das inzwischen selbstverständlich, aber wir sollten nicht vergessen, dass sich diese Überzeugung noch nicht lange in der Christenheit durchgesetzt hat. Wenn Andersgläubige noch nicht soweit sind, ist das also kein Grund zur Überheblichkeit. Und wo auch immer sich Menschen für Freiheit und Demokratie einsetzen, egal was sie glauben und wie sie geprägt sind, da haben sie unsere Unterstützung und unsere Fürbitte verdient. Denn dabei kommen wir jedes Mal der Verheißung Jesu ein Stück näher, dass wir eine Herde unter einem guten Hirten wer­den. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein