Predigt Tal- und Wenschtkirche, Sonntag, 16.November 2014

Gottesdienst für den vorletzten Sonntag des Kirchenjahres

Text: 2. Kor 5,1-10

Alle Menschen müssen sterben. Das ist und bleibt so, auch wenn wir es gern verdrängen. Manche sagen: Das ist die einzige Gerechtigkeit, die es auf Erden gibt. Aber leider geht es auch beim Sterben furchtbar ungerecht zu. Für die meisten Menschen kommt der Tod immer noch viel zu früh: durch Hunger, durch Seuchen, durch Krieg und Terror oder schlicht durch die ungleiche Verteilung der Lebensgüter. Hier im reichen Teil der Welt dagegen sterben viele Menschen inzwischen eher zu spät. Nach Wochen, Monaten, manchmal Jahren an Beatmungsmaschinen. Unter furchtbaren Schmerzen im Endstadium eines Krebsleidens. Nach schier endlosem Dahindämmern in Demenz und Bewegungsunfähigkeit. Ja, es stimmt: Bei uns bleibt man heute im Schnitt viel länger fit und gesund als früher, und der Fortschritt der Medizin hat vieles dazu beigetragen. Aber er hat eben auch seine Schattenseite: Ab einem gewissen Punkt fördert er nicht mehr das Leben, sondern verlängert nur noch das Leiden. Und während früher der Tod einfach von selber kam, müssen heute immer öfter Menschen darüber entscheiden, wann es soweit sein soll.
Es gibt also gute Gründe, die Art des Sterbens nicht mehr einfach als Schicksal hinzunehmen. Immer mehr Menschen, die unheilbar krank sind, wollen den Zeitpunkt ihres Todes selbst bestimmen – und das, bevor das finale Siechtum einsetzt und sie es womöglich nicht mehr können. Immer lauter werden die Rufe, auch hier in Deutschland die so genannte „aktive Sterbehilfe“ zu erlauben, damit man dafür nicht mehr in die Schweiz oder nach Holland fahren muss. Entsprechend debattiert der Bundestag gerade über eine Regelung, die es Ärzten erlauben würde, schwerkranken Menschen zum Sterben zu verhelfen, wenn sie es bewusst wollen.
Aber ist das der richtige Weg? Entscheiden sich schwer kranke Menschen wirklich aus freien Stücken für den Tod? Oder wollen sie nur sterben, weil Schmerzen oder Einsamkeit sie zur Verzweiflung treiben? Beidem kann man meistens auch anders abhelfen. Und wenn die Hilfe zur Selbsttötung eine selbstverständliche Möglichkeit wird, wächst dann nicht auch der Erwartungsdruck, diese Möglichkeit auch wahrzunehmen – bei den Schwerkranken selbst, bei den Angehörigen, in der Gesellschaft, die an die hohen Lasten fürs Gesundheitsystem denkt?
Schwierige Fragen. Kann uns ein alter Bibeltext bei ihrer Beantwor-tung überhaupt helfen? Sein Verfasser war doch in einer völlig anderen Situation, lebte in ganz anderen Zusammenhängen und konnte sich unsere heutigen Zwangslagen gar nicht vorstellen. Aber probieren wir es einfach trotzdem mal. Hören wir, was Paulus in seinem zweiten Brief an die Korinther, im 5. Kapitel schreibt, und überlegen wir, ob seine Worte uns noch etwas zu sagen haben:

Wir wissen: wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel. Denn darum seufzen wir auch und sehnen uns danach, dass wir mit unserer Behausung, die vom Himmel ist, überkleidet werden, weil wir dann bekleidet und nicht nackt befunden werden. Denn solange wir in dieser Hütte sind, seufzen wir und sind beschwert, weil wir lieber nicht entkleidet, sondern überkleidet werden wollen, damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben. Der uns aber dazu bereitet hat, das ist Gott, der uns als Unterpfand den Geist gegeben hat. So sind wir denn allezeit getrost und wissen: solange wir im Leibe wohnen, weilen wir fern von dem Herrn; denn wir wandeln im Glauben und nicht im Sichtbaren. Wir sind aber getrost und haben vielmehr Lust, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn. Darum setzen wir auch unsre Ehre darein, ob wir daheim sind oder in der Fremde, dass wir ihm wohl gefallen. Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse.

Halten wir zunächst fest: Auch hier ist jemandem das irdische Leben leid. Paulus seufzt und stöhnt, er fühlt sich beschwert und überlastet. Das Leben hier ist ihm zur „Fremde“ geworden, und er wäre lieber „daheim“ beim Herrn. Ähnliche Formulierungen finden sich auch heute in Todesanzeigen, und das nicht nur bei besonders frommen Leuten. Aber Paulus ist keineswegs sterbenskrank, auch wenn ihn ein uns unbekanntes Leiden plagt. Ihm droht auch keine akute Gefahr durch Verfolgung. Eine solche Situation hat er vielmehr gerade hinter sich, sagt selber, dass er da fast am Leben verzagt wäre. Aber nun kann er wieder reisen und schreiben, hat auch Ziele, die er noch erreichen will. Er ist also keineswegs in dem Sinne lebensmüde, wie wir das meist verstehen. Wenn er trotzdem lieber „daheim“ sein möchte, dann nicht deshalb, weil ihm das Weiterleben unerträglich wäre, sondern weil er sich nach dem sehnt, was danach kommt.
Wenn Leidende sich heute das Leben nehmen oder den Wunsch danach haben, dann sehen sie es in der Regel nicht so. Sie wollen, dass Schmerzen, Einsamkeit und Würdelosigkeit ein Ende haben. Sie wollen, dass das Sterben, das sie nicht mehr aushalten, im Tod sein Ende findet. Paulus hat eine andere Hoffnung. Er sehnt sich danach, dass das Sterben eben nicht vom Tod, sondern vom Leben verschlungen wird – einem Leben, das kein Leid, keinen Schmerz, keine Vergänglichkeit mehr kennt – im Bild gesprochen: „einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel“. Im Einzelnen ist seine schillernde Bildersprache schwer zu deuten. Möchte er noch leben, wenn Christus wiederkommt, und dass sein Leib dann direkt und ohne Tod aus einem sterblichen in einen unsterblichen verwandelt wird? Meint er das mit „überkleidet, nicht entkleidet werden“? Oder rechnet er hier damit, schon gleich nach dem Tod bei Christus zu sein? Wir wissen es nicht so genau. Aber eins ist klar: Paulus ist sicher, dass Tod und Vergänglichkeit nicht das letzte Wort haben werden – nicht über ihn selber und nicht über alle anderen, die an Jesus Christus glauben. Denn an Jesus Christus glauben heißt an seine Auferstehung glauben. Es heißt glauben, dass Gott in Christus dem Tod die Macht genommen hat: „Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Stachel? Tod, wo ist dein Sieg? Dank aber sei Gott, der uns den Sieg gibt durch unseren Herrn Jesus Christus!“ So hat Paulus es den Korinthern schon geschrieben. Und so sieht er es noch immer. Das Leben, das kommt, ist viel größer und herrlicher als alles, was wir hier auf Erden verlieren könnten.
Aber wenn das so ist, so könnten wir jetzt sagen, dann macht es ja – jedenfalls für Christen – erst recht keinen Sinn, vor dem Tod noch sinnloses und unerträgliches Leid zu erdulden. Dann lasst uns doch, wenn wir das Leben leid sind, der Lust nachgeben, abzuscheiden und beim Herrn zu sein. Aber diese Konsequenz zieht Paulus gerade nicht. Denn er weiß darum, dass das Leben, sowohl das sterbliche, als auch das ewige, ein Geschenk Gottes ist. Wir können uns dieses Geschenk nicht selber geben und sollen es uns darum auch nicht nehmen. Also ist die Konsequenz des Paulus eine andere: „Darum setzen wir auch unsre Ehre darein, ob wir daheim sind oder in der Fremde, dass wir ihm wohl gefallen.“ Mit anderen Worten: „Ich möchte mich des großen Geschenks, das Gott mir macht, auch würdig erweisen. Darin sehe ich meine Pflicht, und deshalb tue ich alles, um nach Gottes Willen zu handeln.“ Denn Gott ist es nicht egal, wie wir als Christen leben. Wir sind für unser Tun und Lassen verantwortlich und werden vor dem „Richterstuhl Christi“ dafür Rechenschaft ablegen müssen.
Was heißt das nun für die schwierigen Fragen, mit denen wir heute beim Thema „Sterben“ konfrontiert sind? Natürlich können wir die Antworten darauf weder einfach aus der Bibel ablesen, noch sie perfekt daraus herleiten. Aber ein paar Schlüsse glaube ich, für mich doch daraus ziehen zu können, und wenn Sie Ihnen brauchbar erscheinen, dann mögen Sie sie übernehmen.
Erstens: Ich verdanke mein Leben nicht mir selber. Das gilt selbst dann, wenn ich Gott gar nicht ins Spiel bringe – schließlich habe ich mich ja nicht selber zur Welt gebracht –, aber es gilt dann erst recht. Also sollte ich dieses Leben achten – bei anderen, aber auch gegenüber mir selbst. Und ich sollte mich hüten, über den Wert eines bestimmten Lebens zu urteilen. Weder kann und darf ich anderen absprechen, dass ihr Leben Wert und Sinn hat, noch sollte ich über mein eigenes Leben ein abschließendes Urteil fällen, indem ich es mir nehme.
Zweitens: Von dem großen Geschenk des Lebens, das Gott mir macht, ist das irdische Leben nur ein kleiner Teil. Es ist, wie es Paulus vom Geist Gottes sagt, nur eine Anzahlung auf das, was noch kommt. Dadurch wird natürlich noch nicht alles Leiden hier auf Erden erträglich. Es kann trotzdem so schlimm sein, dass ich am Leben verzweifle. Es kann sein, dass sich das Warten auf das neue, ewige Leben quälend in die Länge zieht. Trotzdem kann mir die Hoffnung darauf helfen, „getrost zu sein“, wie Paulus sagt. Und das heißt: auch in Leid und Schmerzen einen festen Halt zu haben und daraus Geduld und Kraft zu schöpfen, bis das Ende kommt.
Und drittens: Wir sind Gott für unser Leben verantwortlich. Er wird uns danach fragen, was wir daraus gemacht haben – für uns selber, aber auch für andere. Deshalb ist es wichtig, dass wir auch im Blick auf Schwerkranke und Sterbende nicht danach schauen, was möglichst schnell ihr Leiden beendet, oder gar danach, was uns Mühe und Kosten spart. Stattdessen müssen wir darauf achten, was ihrem Leben dient. Das tut zum Beispiel die Hospizbewegung, wenn sie dem Motto ihrer Begründerin Cicely Saunders folgt: „Wir können dem Leben nicht mehr Tage geben, aber den Tagen mehr Leben.“ Wir können dafür sorgen, dass auch Sterbende in Würde leben können bis zum Schluss. Und schon viele, denen solche Hilfe zuteil wurde, hatten dann eben nicht mehr den Wunsch, sich selber das Leben zu nehmen. Das heißt sicher auch, dass wir nicht immer alles tun, was medizinisch möglich wäre, wenn wir damit nur noch das Leiden verlängern. Dass wir Apparate abstellen, wenn sie ihren Sinn verloren haben. Dass wir Schmerzen bekämpfen, auch wenn wir damit die Lebenszeit verkürzen. Dass wir letztlich auch respektieren, wenn jemand trotz aller Hilfe und Fürsorge nicht mehr leben will. In jedem Fall bleiben die Entscheidungen, die dann zu treffen sind, schwer. Oft wird es bestenfalls ein kleineres Übel geben. Aber gesetzliche Regelungen und Erlaubnisse würden da nur eine Sicherheit vortäuschen, die es nicht gibt. Mir scheint, es ist der bessere Weg, wenn ich Leben und Sterben ganz in Gottes Hand lege – so¬wohl, was mich selber angeht, als auch bei den Menschen, die mir anvertraut sind – und dass ich dann mit meinem Handeln oder Unterlassen im Vertrauen auf Gottes Vergebung meinem Gewissen folge.
Alle Menschen müssen sterben. Und uns sind dabei heute oft Entscheidungen auferlegt, die vielleicht besser nicht in unserer Hand lägen. Aber es bleibt dabei, dass wir auch damit nicht tiefer fallen können, als in Gottes Hand. Ihm gehören wir im Leben und im Sterben. Und das ist gut so. Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein