Predigt, Tal- und Wenschtkirche, Sonntag, 15. Januar 2017

Text: Ex 33,17

Gestern war mal wieder Konfi-Blocktag, und es ging um Gott: Wer ist er? Wie ist er? Und wie kann ich mit ihm in Verbindung treten? Die Konfis hatten unter anderem die Aufgabe, ihre Vorstellungen und Fragen dazu aufzuschreiben. Und da kam einiges zusammen: „Wie sieht Gott aus? Wo wohnt er? Wirklich im Himmel? Wie alt ist er und wie ist er entstanden? Lebt er allein? Hat er Geschwister? Sind Gott und der Teufel Brüder? Hat er auch andere Namen als einfach nur „Gott“? Stimmt alles, was die Bibel über ihn sagt? Hat er die Welt erschaffen? Kennt er jeden von uns? Wann hilft er uns dann? Ist er gerecht? Kann er wirklich alles? Wenn ja, warum lässt er dann soviel Hass und Leid und Schmerz zu? Wie kommt er klar mit allem, was in der Welt so passiert? Warum müssen Menschen sterben? Muss man den Tod fürchten? Wie lange wird die Welt noch bestehen, und was kommt danach? Wenn wir beten, hört er uns dann? Hört er mich, wenn ich weine?“

Fragen über Fragen. Manche klingen für uns Erwachsene vielleicht naiv. Aber die meisten dürften uns selber auch beschäftigen. Und wer von uns hat sich nicht schon mal gewünscht, er könnte Gott einmal so sehen, wie er ist, von Angesicht zu Angesicht mit ihm reden und Antwort auf all die vielen Fragen bekommen.

Der heutige Predigttext handelt von einem, der diesen Wunsch auch hatte. Und er bekam ihn sogar erfüllt – jedenfalls in gewissem Sinne. Das Ganze ist ziemlich rätselhaft. Trotzdem gibt es, denke ich, auf unsere Fragen nach Gott eine gute Antwort. Hören wir zunächst mal, was da steht, im zweiten Buch Mose, im 33. Kapitel:

Der Herr sprach zu Mose: „Auch das, was du jetzt gesagt hast, will ich tun; denn du hast Gnade vor meinen Augen gefunden, und ich kenne dich mit Namen.“ Und Mose sprach: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“ Und er sprach: „Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will ausrufen den Namen des Herrn vor dir: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“ Und er sprach weiter: „Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.“ Und der Herr sprach weiter: „Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen.“

Am Anfang des Textes treten wir ein in ein Gespräch, das schon länger im Gange ist: Mose und Gott reden miteinander, und das auf ganz besondere Art und Weise. Begonnen hat es schon damals, als Mose zum ersten Mal zum Berg Gottes kam. Als der Herr ihm im brennenden Dornbusch erschien, sich als Gott seiner Väter vorstellte und ihm den Auftrag gab, Israel aus der Sklaverei in Ägypten herauszuführen. Schon damals hatte Mose mehr wissen wollen. Er hatte Gott nach seinem Namen gefragt. Und der hatte geantwortet: „Ich bin, der ich bin“ oder „ich werde sein, der ich sein werde“ oder freier wiedergegeben: „ich bin immer derselbe, und ich bin immer für euch da“. Keine Antwort eigentlich, und doch Antwort genug.

Und jetzt ist Mose wieder hier, am Horeb oder Sinai. Er hat Gottes Auftrag befolgt, hat sein Volk in die Freiheit geführt. Und er hat die Befreiten hierher gebracht. Hier sollten sie ihrem Gott begegnen und Weisung von ihm empfangen. Und wieder ist Mose auf einmalige Weise Gottes Gesprächspartner gewesen. Er ist allein auf den Berg gestiegen und hat von Gott die Zehn Gebote und andere Regeln für die Freiheit empfangen. Aber als er mit den Gebotstafeln vom Berg zurückgekehrt ist, hat er eine bittere Erfahrung machen müssen: Das Volk hatte es nicht lange ausgehalten, einen Gott zu haben, den man nicht sehen und von dem man sich kein Bild machen kann. Kaum war Mose weg gewesen, hatten sie sich ein Stierbild gegossen, um einen Gott zum Anfassen zu haben. Voller Zorn hat Mose die steinernen Tafeln zerschmissen, hat das Stierbild eingeschmolzen und ist auf den Berg zurückgekehrt, um bei Gott Fürbitte für sein abtrünniges Volk einzulegen.

Noch ist nicht klar, wie das ausgehen wird. Mose bewegt die bange Frage, ob Gott trotz allem weiter zu seinem Volk stehen wird, ob er mit ihnen ziehen wird in das Land, das er ihnen versprochen hat und in dem sie in Freiheit leben sollen. Oder ob sie es sich mit dem Gott ihrer Väter endgültig verdorben haben und nun ohne ihn klar kommen müssen. Bis jetzt hat Gott sich noch nicht deutlich erklärt. Noch ist nicht sicher, ob „ich bin für euch da“ weiterhin sein Name bleiben wird. Im ersten Zorn hat er davon gesprochen, dieses halsstarrige, undankbare Volk zu vernichten und mit Mose, dem einzigen Getreuen, noch mal von vorn anzufangen. Und diese finstere Drohung steht noch im Raum.

Mit dem ersten Satz des Predigttextes gibt Gott auf Moses Bitten und Fragen endlich eine positive Antwort: „Auch das, was du jetzt gesagt hast, will ich tun“, nämlich mit Israel ins Gelobte Land ziehen, „denn du hast Gnade vor meinen Augen gefunden, und ich kenne dich mit Namen.“ Um Moses Treue willen bleibt Gott bei seiner Zusage für das ganze Volk. Seine Fürbitte hatte also Erfolg.

Aber Mose ist – wieder einmal – damit noch nicht zufrieden. So wie er einst zur Bestätigung für seinen Auftrag Gottes Namen wissen wollte, so möchte er jetzt Gottes Herrlichkeit sehen, um gewiss zu sein, dass der Herr wirklich mit ihnen ziehen wird.

Kenner der biblischen Materie könnten diese Bitte unverschämt finden. Ist auf Gottes Wort denn nicht genug Verlass? Hat Mose und hat sein Volk das nicht immer wieder erlebt? Kann ein kleiner sterblicher Mensch seinen Schöpfer und Herrn überhaupt in seiner ganzen Größe und Majestät erfassen? Und selbst wenn er es könnte: Müsste er davon nicht blind oder verrückt werden – oder gleich zu Staub zerfallen? Nun ist Mose zwar nicht irgendwer. Von keinem anderen Menschen der Bibel heißt es, dass Gott mit ihm auf Augenhöhe redet „wie mit einem Freund“. Und Gott hat ihm gerade erst zugesagt, dass er Gnade vor ihm gefunden hat. Muss ihm das nicht reichen? Gefährdet er nicht seine Sonderstellung bei Gott, wenn er noch mehr verlangt – mehr als einem Sterblichen zusteht?

Aber man staunt: Gott lehnt Moses Bitte nicht ab! Zwar darf er Gottes Angesicht nicht sehen. Hier bleibt eine unüberwindbare Grenze zwischen Gott und Mensch, und Gott sorgt mit seiner schützenden Hand dafür, dass sie nicht überschritten wird. Aber er zieht in seiner ganzen Güte und Schönheit, in seiner Macht und Herrlichkeit an Mose vorüber – und er darf hinter ihm her schauen.

Können wir mit dieser rätselhaften Episode auf dem Berg Horeb noch etwas anfangen? Das Gottesbild, von dem sie ausgeht, ist uns jedenfalls fremd geworden. Hier scheint Gott eine Gestalt zu haben. Sie lässt sich zwar nicht darstellen, weder in einem Stier noch in einem anderen irdischen Götterbild. Aber es ist eben doch eine Gestalt, die man grundsätzlich sehen kann, wenn Gott sie einem Menschen enthüllt. Sie mag in ihrer Schönheit und Schrecklichkeit unbeschreiblich sein, aber sie hat doch Hand und Gesicht und bewegt sich in Raum und Zeit. Sie zieht an Mose vorüber und geht – verhüllt in Wolken und Feuer – mit Israel ins verheißene Land.

Wir dagegen stellen uns Gott grundsätzlich unsichtbar vor. Für uns ist er den Dimensionen von Raum und Zeit enthoben, weil er sie geschaffen hat und sie wie alles andere umfasst und umfängt. Er ist für uns nicht an einem bestimmten Ort, sondern überall. Er wohnt für uns nicht auf einem heiligen Berg oder in einem heiligen Zelt, sondern in unseren Herzen. Und dort können wir ihn vielleicht manchmal spüren und mit ihm reden, aber ganz bestimmt nicht sehen.

Das ist ja auch alles gar nicht verkehrt. Trotzdem sei mir eine Frage erlaubt: Welche Vorstellung kommt dem Gott der Bibel, an den wir glauben, eigentlich näher – die relativ handfeste, greifbare von 2. Mose 33 oder die abstrakte, unanschauliche Vorstellung, die wir mit uns herumtragen? Immerhin glauben wir doch an einen Gott, der in Jesus selber Mensch wurde – nicht abstrakt, sondern ganz konkret. Einen Gott, der sich in Raum und Zeit sichtbar und berührbar gemacht hat, und damit auch verletzbar und angreifbar. Einen Gott, der sich ohne Not, aber aus lauter Gnade und Barmherzigkeit dem Leid und dem Tod ausgeliefert hat. Zwar wissen wir auch nicht, wie Jesus ausgesehen hat. Aber ihn dürfen wir uns getrost als Menschen wie du und ich vorstellen: mit einer Stimme, die man hören, mit Händen, die man berühren, mit einem Gesicht, in das man schauen kann. Menschliche Hände, menschliche Stimme, menschliches Gesicht, und doch zugleich Gesicht, Stimme und Hände Gottes. Das Johannesevangelium drückt es so aus: „Das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“ (Joh 1,14)

So verstanden haben wir von Gottes Herrlichkeit mehr gesehen als Mose. Er durfte Gottes Angesicht nicht sehen und durfte seiner Herrlichkeit nur hinterher schauen. Wir dagegen dürfen Gott ins Gesicht blicken, weil es das Gesicht Jesu ist. Und wir können und dürfen darauf ablesen, dass Gott uns liebt: dass er auch für uns „ich bin für euch da“ heißt. Dass wir Gnade vor seinen Augen gefunden haben und er uns mit Namen kennt wie Mose damals. Und dass er uns treu bleiben und weiter mit uns gehen wird, so oft wir ihn auch enttäuschen mögen.

Sind damit all die vielen Fragen beantwortet, die ich am Anfang aufgezählt habe? Haben wir damit Gottes Wesen erfasst und wissen alles über ihn? Natürlich nicht. Auch das, was wir an Jesus ablesen können, ist nur ein Bild von Gott, und es zeigt uns nur einen kleinen Ausschnitt der Herrlichkeit Gottes. Denn die können wir genauso wenig in ihrer ganzen Größe erfassen, wie ein Fisch das Meer erfassen kann, in und von dem er lebt. Aber Jesus zeigt uns das Bild von Gott, auf das Gott sich festgelegt hat. Er zeigt uns alles, was wir von und über Gott wissen müssen, um im Frieden mit ihm leben und sterben zu können. Er beantwortet nicht alle unsere Fragen, aber er sagt uns genug, um auch mit ungelösten Fragen leben zu können. Ob Gott noch andere Namen hat? Weiß ich nicht – aber „ich bin, der ich bin“ ist mir Name genug. Wie Gott das gemacht hat mit der Schöpfung? Weiß ich auch nicht – aber mir reicht es zu wissen, dass ich sein Geschöpf bin und dass er mich liebt. Warum es Leid, Gewalt und Tod in der Welt gibt? Auch darauf habe ich keine Antwort – aber ich vertraue darauf, dass Gott, der in Jesus selber Gewalt und Tod erlitten hat, auch im Leid an meiner Seite ist. Und ob er mich hört, wenn ich zu ihm bete? Kann ich gleichfalls nicht beweisen – aber ich kann die Erfahrung des Mose bestätigen, dass man mehr Erfahrungen mit Gott macht, wenn man mit ihm im Gespräch bleibt. Und so wie Mose der Herrlichkeit Gottes hinterher sehen durfte, so geht mir manchmal im Nachhinein auf: Ja, da hat Gott mein Gebet erhört und mir geholfen – wenn auch vielleicht anders als ich mir das zuvor gedacht hatte.

Und noch ein Letztes können wir von Mose lernen: Es gibt in Bezug auf Gott keine Fragen, die man nicht stellen darf, und keine Bitten, die sich nicht gehören. Menschen, die Gnade vor Gott gefunden haben – und dazu gehören wir, wie gesagt, alle – dürfen ihm mit allem kommen, was ihnen auf dem Herzen liegt. Wie er uns darauf antwortet, müssen wir freilich ihm überlassen – aber auf jeden Fall dürfen wir darauf gespannt sein. Amen.

Ihr Pastor Dr. Martin Klein