Predigt, Tal- und Wenschtkirche, Sonntag, 14.05.2017

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG KANTATE

Text: Mt 21,14-17

Vor langer Zeit lebte einmal ein Kaiser. Dem waren die Staatsgeschäfte herzlich egal – Hauptsache er war immer elegant gekleidet. Eines Tages fiel er dabei allerdings auf zwei Betrüger herein. Die kamen zu ihm und behaupten, sie könnten ihm die prächtigsten Gewänder nähen – mit erlesenen Farben und Mustern, dabei federleicht, so dass man sie auf der Haut kaum spüre, und was das schönste sei: Wer dumm sei oder für sein Amt nicht tauge, der könne sie nicht sehen! Das wollte der Kaiser natürlich gern wissen, besonders über seinen Hofstaat. Und so durften sich die beiden gleich ans Werk machen. Sie erhielten die besten Stoffe, kassierten reichlich Geld im Voraus und produzierten mit großem Brimborium – nichts. Das sahen auch alle, als der Kaiser seine neuen „Kleider“ anprobierte – einschließlich ihm selber. Aber keiner traute sich, etwas zu sagen, denn es wollte ja niemand als dumm und untauglich gelten – der Kaiser natürlich erst recht nicht. Also spazierte er bei der anstehenden Prozession mehr oder weniger nackt durch die Straßen, und seine Kammerherren trugen ihm die nicht vorhandene Schleppe. Alles Volk schaute zu, aber alle hielten die Fassade aufrecht. Alle, bis auf ein kleines Kind. „Der hat ja gar nichts an“, rief es, als es den Kaiser sah. Und damit war der Bann gebrochen. Die Wahrheit aus unschuldigem Kindermund sprach sich herum. Bald riefen alle: „Der hat ja gar nichts an“ und lachten sich schlapp. Der Kaiser bewahrte Haltung und brachte die Prozession zu Ende mit aller Würde, die er noch aufbringen konnte. Aber man kann sich gut vorstellen, dass sich seine Herrschaft von dieser Bloßstellung nicht erholt hat. Und die beiden Betrüger waren natürlich mit Geld und Seide längst über alle Berge.
Früher hat man uns diese Geschichte von Hans Christian Andersen als Märchen erzählt. Aber in Wirklichkeit ist sie natürlich eine ziemlich respektlose Satire – auch heute noch vielfältig anwendbar auf die schlecht bemäntelten Blößen der Prominenz in Poltik und Gesellschaft. Die waren es allerdings nicht, die mich heute darauf gebracht haben, sondern es war der vorgeschlagene Predigttext. Auch der liefert nämlich einen wichtigen Beitrag zum Thema „Kindermund tut Wahrheit kund“:

Und es kamen zu Jesus Blinde und Lahme im Tempel, und er heilte sie. Als aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder, die im Tempel schrien und sagten: „Hosianna dem Sohn Davids!“, entrüsteten sie sich und sprachen zu ihm: „Hörst du auch, was diese sagen?“ Jesus sprach zu ihnen: „Ja! Habt ihr nie gelesen: »Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet«?“ Und er ließ sie stehen und ging zur Stadt hinaus nach Betanien und blieb dort über Nacht.

Auch hier sprechen die angeblich Dummen und Ahnungslosen die Wahrheit aus, während die angeblich Klugen und Gelehrten sie nicht sehen oder nicht wahrhaben wollen.
Jesus, der Prediger und Wunderheiler aus Nazareth, ist in Jerusalem eingezogen. Er ist dabei auf einem Esel geritten, und seine Anhänger haben ihm zugejubelt – mit den gleichen Worten wie die Kinder jetzt: „Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn.“ Soweit die Fakten. Aber welche Wahrheit steht dahinter?
Die Wahrheit der Hohenpriester und Schriftgelehrten geht so: Jesus mag ja ein mitreißender Redner sein und auf erstaunliche Weise Kranke gesund machen können, aber er ist ein Mensch wie du und ich. Ein einfacher Mann aus einer Handwerkerfamilie im hintersten Winkel Galiläas. Und wenn hinter seinen Wundern übernatürliche Kräfte stehen sollten, dann könnten es ebensogut die des Teufels sein. Dass seine Leute ihn als „Sohn Davids“ bejubeln, und das mit einem Gebetsruf aus den Psalmen auf den Lippen – „Hoschia’nah – Herr, hilf doch!“ – das steht ihm in keiner Weise zu. Das grenzt an Gotteslästerung. Und es bringt gefährliche Unruhe nach Jerusalem. Die Römer dulden keinen „König“ in ihrem Herrschaftsbereich, erst recht keinen von Volkes Gnaden. Sie betrachten so etwas als Aufruhr und gehen brutal und rücksichtslos dagegen vor. Die mit Festpilgern überfüllte Stadt ist ein Pulverfaß. Aufgeheizte Stimmung kann da leicht zur Explosion führen und alles hinwegfegen, was den Priestern und Schriftgelehrten heilig ist.
Und Jesus selber? Der zündelt kräftig mit. Setzt sich zum Einzug extra auf einen Esel und weiß natürlich genau, was beim Propheten Sacharja steht: „Siehe, dein König kommt zu dir, arm und reitet auf einem Esel.“ Geht in den heiligen Tempel und nennt ihn eine „Räuberhöhle“. Vertreibt Händler und schmeißt Geldwechslern die Tische um, obwohl die doch nur dazu beitragen, dass die vom Herrn befohlenen Opfer dargebracht werden können. Dann vollführt er auch hier seine zweifelhaften Wundertaten und lässt sich schließlich sogar von kleinen Rotzlöffeln als Messias feiern. Da reicht es hohen Herren endgültig. Sie stellen Jesus zur Rede: „Hörst du auch, was diese sagen?“
Es wäre für Jesus ja ein Leichtes, sich da rauszureden: „Nee, hab ich nicht gehört. Was sagen sie denn? Ach so, das! Aber das sind doch bloß Kinder. Die haben halt irgendwo was aufgeschnappt. Darf man nicht so ernst nehmen. Und überhaupt: Ich hab ihnen nicht gesagt, dass sie das rufen sollen.“ Aber Jesus macht erst gar keinen Versuch in dieser Richtung. Er weiß ja, dass aus den Kindern die richtige Wahrheit spricht. Also schlägt er die Schriftgelehrten mit ihren eigenen Waffen. Er stellt eine Gegenfrage und zitiert dabei auch noch die heilige Schrift, Psalm 8,3: „Habt ihr nie gelesen: »Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet«?“ Dann dreht er sich einfach um und geht. Noch lassen sie ihn, wohl zu verdutzt, um sofort zu reagieren. Aber sie werden noch Mittel und Wege finden, um es ihm heimzuzahlen.
„Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet.“ Das ist nach der griechischen Fassung von Psalm 8 zitiert. Im hebräischen Text heißt es sogar: „Aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge hast du eine Macht zugerichtet, dass du vertilgest den Feind und den Rachgierigen.“ Ist das so? Können wir das nachvollziehen?
In der Geschichte von des Kaisers neuen Kleidern ist es so. Die schlichte Wahrheit aus Kindermund hat die Macht, selbst einen hochwohlgeborenen Monarchen bodenlos zu blamieren. In der Geschichte bei Matthäus ist es auch so. Durch die spontanen Jubelrufe der Kinder wird Gott in seinem Tempel so gelobt und gespriesen, wie es richtig ist – nicht durch die Psalmen der Tempelsänger, nicht durch die Opfer der Priester, nicht durch die Weisheit der Schriftgelehrten. Denn sie alle können und wollen nicht wahrhaben, dass dieser Jesus tatsächlich der ist, als den ihn die Kinder feiern: der Nachkomme Davids, der Messias, der Sohn Gottes. Das, was sie über Gott und über seinen Willen zu wissen glauben, verstellt ihnen die Sicht darauf, wie Gott wirklich ist und wie er zu den Menschen kommt.
Aber es ist nicht immer und nicht automatisch so. Kinder sind nicht per se die besseren Menschen. Nur weil ein Kind es sagt, muss es trotzdem nicht immer die Wahrheit sein. Auch Kinder lügen, auch Kinder ziehen über andere her, auch Kinder lassen sich für die falschen Dinge begeistern – obwohl wir ihnen mildernde Umstände zubilligen sollten, weil wir Erwachsene ihnen schlechte Vorbilder sind.
Und erst recht ist es so mit der Wahrheit über Jesus. Die weiß kein Mensch von sich aus, auch kein Kind. Die erschließt sich nicht aus dem, was man an Jesus sehen und mit ihm erleben kann. Man konnte damals viele Meinungen über Jesus haben, das machen die Evangelien immer wieder deutlich. Als Petrus dann doch einmal die ganze Wahrheit ausspricht: „Du bist der Christus, des lebendigen Gottes Sohn!“, da heißt es sofort: „Fleisch und Blut haben dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel“ (Mt 16,16f). Eben in der Lesung haben wir gehört: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies Weisen und Klugen verborgen hast und hast es Unmündigen offenbart.“ Und auch in unserem Predigttext heißt es ja: „Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du“, Gott, „dir Lob bereitet.“ Es bleibt also dabei: Die Wahrheit über Jesus erkennt nur der, dem Gott diese Erkenntnis schenkt. Auch die Hohenpriester und Schriftgelehrten haben also mildernde Umstände verdient, wenn ihnen diese Erkenntnis verschlossen bleibt. Und auch einem von ihnen kann Gott sich offenbaren – so wie dem Paulus zum Beispiel.
Trotzdem ist aber was dran: Offenbar haben es die Weisen und Klugen besonders schwer, die Wahrheit Gottes zu erkennen. Sie wissen halt einfach zu viel. Sie wissen genau, dass der Messias nicht aus einem galiläischen Kuhdorf kommt. Sie wissen genau, dass die Opfer im Tempel so und nicht anders von Gott geboten sind und dass man dafür auch Händler und Geldwechsler braucht. Und sie wissen erst recht, dass der eine und ewige Gott keinen Sohn hat. Also kann Jesus nicht der sein, den seine jubelnden Anhänger in ihm sehen. Also ist er ein Betrüger, Aufwiegler und Gotteslästerer.
Die „Unmündigen“ dagegen, von denen Jesus spricht, die wissen kaum was. Sie können weder lesen noch schreiben und haben deshalb erst recht nicht die Bibel studiert. Sie wissen nur: „Da ist endlich mal einer, der so von Gott redet, dass wir ihn verstehen. Einer, der die Kranken gesund macht und die Ausgestoßenen annimmt und dabei nicht nach Regeln und Vorschriften fragt. Einer der Vollmacht besitzt, aber sie nicht zum eigenen Vorteil missbraucht. Dem nehmen wir es ab, dass er im Namen des Herrn zu uns kommt – dafür sei er gelobt und gepriesen!“ Wohlgemerkt: Auch wer so weit ist, hat noch nicht begriffen, dass Gott selber in Jesus Mensch geworden ist. Aber der heilige Geist hat es mit ihm vielleicht doch ein bisschen leichter als mit einem bibelfesten Schriftgelehrten, der alles besser weiß.
Was heißt das nun für uns? Es heißt jedenfalls nicht, dass man dumm und naiv sein muss, um an Jesus Christus glauben zu können. Es heißt auch nicht, dass man sich als Christ vor zu viel Wissen hüten sollte, um nicht vom Glauben abzufallen. Es heißt aber, dass wir das Kind im Manne und in der Frau nicht geringschätzen sollten. Wir alle waren schließlich einmal Kinder. Wir alle waren mal fröhlich und unbeschwert, spontan und nahezu grenzenlos aufnahmefähig. Seitdem ist viel geschehen. Wir haben vieles gelernt, Wichtiges und Unwichtiges, vieles erfahren, Gutes und Schlimmes. Und das schleppen wir jetzt alles mit. Man kann das bedauern, aber so ist nun mal das Leben: Es geht immer nur vorwärts und nie zu zurück, und das ist, glaube ich, auch gut so. Trotzdem ist das, was früher war, nicht einfach weg. Unser Kinder-Ich ist noch da, wenn auch manchmal tief verschüttet. Und egal, wie alt wir sind: wir können das Kind in uns wecken und hervorholen. Wir können uns anstecken lassen, wenn Kinder fröhlich singen. Wenn sie unverblümt die Wahrheit sagen. Wenn sie einfach und bedenkenlos auf Gott vertrauen. Und wenn wir das tun, dann tut Gott gern das Seine dazu und macht aus uns fröhliche und getroste Christenmenschen. Denn für ihn bleiben wir sowieso immer dieselben, nämlich seine geliebten Kinder. Amen.

Ihr Pastor Dr. Martin Klein