Predigt, Tal- und Wenschtkirche, Sonntag, 13.11.2016

GOTTESDIENST FÜR DEN VORLETZTEN SONNTAG DES KIRCHENJAHRS

Text: Röm 8,18-25

Vor ein paar Jahren lief im Kino „Die Konferenz der Tiere“ – ein Animations­film in 3D, lustig und nett anzusehen, aber mit ernstem Hintergrund. In der Geschichte von Erich Kästner, die dem Film zu­grunde liegt, ging es ursprünglich um den Weltfrieden, jetzt aber drängt sich das Umweltproblem in den Vordergrund. Da gräbt näm­lich ein Luxus­hotel dem paradiesischen Okawango-Becken im südli­chen Afrika das Wasser ab. Damit droht einem der letzten Rück­zugsgebiete der Tierwelt die Vernichtung. Die Tiere kämpfen um die wenigen ver­bliebenen Wasserlöcher, und natürlich setzen sich die Stärksten durch, während alle anderen vor Durst umzukommen dro­hen. Die Menschen kümmert das alles nicht. Im Gegenteil: sie besit­zen noch die Frechheit, ausgerechnet in besagtem Luxus-Hotel eine große Umweltkonferenz abzuhalten! Aber nun haben die Tiere end­gültig die Schnauze voll. Diesmal setzen sie sich zur Wehr. Sie tun sich zusammen, berufen ihre eigene Konferenz ein und geben den Men­schen so lange Saures, bis alles wieder gut ist.

Ein netter Film, wie gesagt, mit einer ökologisch korrekten Bot­schaft, aber leider doch nur ein Märchen! In Wirklichkeit kön­nen sich Tiere und Pflanzen eben nicht wehren gegen das, was wir Men­schen ihnen antun. Der Eisbär kann nicht verhindern, dass ihm der Boden unter den Füßen wegschmilzt, weil wir Menschen zu viel CO2 in die Luft pusten. Legehennen und Mastkälber können sich nicht selber aus den Gefängnissen befreien, in denen sie in drang­voller Enge billige Eier und billiges Fleisch „produzieren“ müssen. Es gibt keine Ents in den Regenwäldern, die gegen die Bulldozer und Motor­sägen in den Krieg ziehen. Und was immer Lebewesen zur Erhaltung ihrer Art tun können, ist vergebens, wenn die Menschen ihre Lebens­räume zerstören. „Im millionenfachen Experiment zum Messinstru­ment degradiert, als Nutztier zur Maschine entstellt, als Haustier ein­betoniert, als Wildtier von der Ausrottung bedroht und als Denkmal seiner selbst im Zoo aufgestellt – das ist das Schicksal, das wir den Tieren dieser Erde bereitet haben.“ So heißt es in einem Buch, das schon vor über dreißig Jahren erschienen ist. Und daran hat sich we­nig geändert – trotz allem, was seitdem für den Tier- und Arten­schutz getan oder zu tun versucht wurde.

Immerhin sind wir sensibler geworden, was unseren Umgang mit Tieren und Pflanzen angeht, auch wenn das nicht immer Konsequen­zen für unser Handeln hat. Und so haben einige Sätze des Apostels Paulus nach unglaublich langer Zeit nun endlich unsere Vorstel­lungs- und Gefühlswelt erreicht – Sätze, die fast zwei Jahrtausende lang als „dunkel“ galten, weil die Ausleger auf den Menschen und seine Welt fixiert waren und deshalb wenig damit anfangen konnten. Sie stehen im achten Kapitel des Römerbriefs und sind heute Pre­digttext:

Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. Denn das sehnsüchtige Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie un­terworfen hat -, doch auf Hoffnung; denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrli­chen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und in Wehen liegt. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes. Denn wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.

Ja, die Schöpfung seufzt und stöhnt. Solange Tiere als „Sachen“ und Pflanzen als unbelebte Materie galten, konnte man das nicht nach­vollziehen. Aber wenn wir uns heute in unserer Welt umschauen, wenn wir die Bilder sehen von verkabelten Laboraffen, von ölver­schmierten Seevögeln, von abgeholzten Waldflächen, dann leuchtet es uns unmittelbar ein. Und noch viel konkreter als Paulus steht uns vor Augen, dass wir daran schuld sind.

Denn Paulus ging es ja noch nicht um Ökologie. Es ging ihm um die Beschreibung der christlichen Hoffnung inmitten einer Welt des Lei­dens. Die Ursache des Leidens, der Vergänglichkeit und des Todes liegt für ihn in der Sünde des Menschen. Weil der Mensch seinem Schöpfer nicht die gebührende Ehre erweist, weil er lebt, als ob es Gott nicht gibt, deshalb sind Leiden, Vergänglichkeit und Tod in diese Welt gekommen. Sie sind die Konsequenzen der trennenden Kluft, die der Mensch zwischen sich und Gott aufgerissen hat. Und nun ist es bemerkenswert, dass Paulus dabei nicht nur an menschli­ches Leid denkt. Nein, die ganze Schöpfung ist durch die Sünde des Menschen in Mitleidenschaft gezogen, im wahrsten Sinne des Wor­tes. Unfreiwillig muss sie die Konsequenzen der Sünde mittragen. Ohne es zu wollen oder etwas dafür zu können, ist sie nicht mehr die Schöpfung, von der es einmal hieß: „Und siehe, es war sehr gut.“

Wie gesagt: Paulus dachte dabei noch nicht an menschliche Umwelt­zerstörung. Die gab es zwar auch schon zu seiner Zeit, sie hielt sich aber mangels Masse und Möglichkeiten der Menschen damals noch in Grenzen. Paulus dachte eher von seiner jüdischen Tradition her an die Konse­quenzen des so genannten Sündenfalls, wie sie in der Bibel beschrie­ben werden: dass Mensch und Tier nun nicht mehr von Pflanzen le­ben, sondern Menschen Tiere jagen und schlachten und Tiere sich gegenseitig auffressen. Dass Arbeit für Mensch und Tier nun kein Vergnügen mehr ist, sondern viel Schweiß und Mühe kos­tet. Und vor allem, dass alles Lebendige sterben und vergehen muss: „Es geht dem Menschen wie dem Vieh“, sagt der Prediger, „wie dies stirbt, so stirbt auch er.“

Aber was Menschen heute ihren Mitgeschöpfen antun, das hätte Paulus problemlos in seine Sicht der Dinge einfügen können. Wer nicht mehr Gott sondern sich selber für den „Meister und Besitzer der Natur“ hält, für den wird zwangsläufig alles um ihn herum zur blo­ßen Verfügungsmasse. Von „Knechtschaft“ spricht Paulus: die Schöpfung ist zum Sklaven geworden, nun nicht mehr nur zum Skla­ven der Vergänglichkeit, sondern zum Opfer der Tyrannei und Aus­beutung des Menschen: zum Opfer seiner Überheblichkeit, seiner Gedankenlosigkeit und seiner Profitgier.

Gibt es daraus einen Ausweg? Dass unsere Mitgeschöpfe aufstehen und sich selber aus ihrer Sklaverei befreien, das funktioniert, wie gesagt, nur im Kino. Aber wenn Paulus Recht hat, dann können auch wir Menschen den Schaden nicht aus eigener Kraft heilen. Denn dass wir die Schöpfung versklaven, liegt für ihn ja daran, dass wir selber Sklaven der Sünde sind, dass wir den tiefen Graben zwischen uns und Gott nicht überwinden können.

Doch in erster Linie redet Paulus in diesem Text ja von Hoffnung. Und er kann das deshalb tun, weil jemand anderes ins Geschehen eingegriffen hat. Gott selbst hat den Graben überbrückt. Er selbst ist Mensch geworden in Jesus Christus, hat sich mit unserer Schuld be­laden und sich unserer Sterblichkeit unterworfen, um sie zu überwin­den. Die tiefe Wunde, die unsere Gottlosigkeit der Schöpfung ge­schlagen hat, ist nun verbunden und beginnt zu heilen. Und für alle, die das für sich wahr sein lassen, für alle, die an Jesus Christus glau­ben, ist diese Heilung jetzt schon da. Sie sind keine Sklaven mehr, weder der Sünde noch der Vergänglichkeit, sondern freie Kinder Gottes. Und sie dürfen dessen gewiss sein durch die Gabe des heili­gen Geistes.

Das haben Christen natürlich immer gewusst und darauf vertraut im Leben und im Sterben. Aber viel zu oft haben sie es damit bewenden lassen, nach dem Motto: „Ich bin erlöst, dann ist ja alles gut!“ Nein, sagt Paulus. Es ist noch nicht alles gut. Es wird immer noch gelitten in dieser Welt: Menschen leiden, Tiere leiden, Pflanzen leiden. Das Seufzen und Stöhnen ist noch nicht zu Ende. Wir können also nicht einfach weghören und die Augen schließen und uns schon im Him­mel wähnen. Aber wir dürfen eins wissen: Wenn wir und die ganze Schöpfung noch seufzen und stöhnen, dann tun wir das wie eine Frau, die in den Wehen liegt. Leiden und Schmerz sind brutale Rea­lität, heißt das, aber am Ende werden sie vergessen sein durch das freudige Ereignis, das dann eintritt: die Geburt der neuen Welt Got­tes, die seit und durch Jesus schon „unterwegs“ ist. Dann wird die „herrliche Freiheit der Kinder Gottes“ nicht mehr nur ein Gegenstand des Glaubens und ein Grund zur Hoffnung sein, sondern sichtbare Wirklichkeit, und die ganze Schöpfung wird daran teilhaben.

Wenn es aber so ist, wenn alle Geschöpfe auf Erden der gleichen Erlösung entgegengehen wie wir Menschen und genauso sehnsüchtig darauf warten, dann muss sich an unserem Umgang mit ihnen Ent­scheidendes ändern. Dann kommt Tieren und Pflanzen eine Würde zu, die genauso unantastbar ist wie die Würde des Menschen, auch wenn sie anders geartet ist. Dann haben selbstverständlich auch Tiere eine Seele – und zwar nicht nur unsere lieben vierbeini­gen Freunde, sondern auch die sechsbeinigen Quälgeister, denen wir schon mit der Klatsche kommen, wenn sie uns nur zu laut brummen. Dann hat Al­bert Schweitzer recht, wenn er uns die „Ehrfurcht vor dem Leben“ als Grundlage des Denkens und Handelns empfiehlt: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von anderem Leben, das leben will.“

Heißt das nun, ich muss Veganer werden und darf kein Fleisch mehr essen? Nicht unbedingt. Aber Fleisch möglichst billig kaufen und gar nicht so genau wissen wollen, wo es herkommt und wie es dem Tier ergangen ist, zu dem dieses Fleisch mal gehörte, das geht dann nicht mehr.

Oder heißt das, ich muss „Robin Wood“ beitreten und um jeden Baum kämpfen, der irgendwo auf Erden gefällt werden soll? Auch das nicht unbedingt. Aber wie sehr wir nicht nur Wäldern und Tie­ren, sondern letztlich uns selber schaden, wenn wir mehr abholzen als nachwachsen kann, das sollten wir inzwischen wissen und danach handeln.

So könnte ich weiter machen und die Zahl der Beispiele beliebig vermehren. Aber es läuft immer wieder auf dasselbe hinaus: Dass Lebewesen anderen Arten von Lebewesen das Leben nehmen, um selber leben zu können, das hat der Schöpfer so eingerichtet, und es gilt natürlich auch für den Menschen. Wir verstehen ja durch die Naturforschung immer mehr davon, wie das alles funktioniert und miteinander zusammenhängt. Aber dass ich als Mensch mich über alle anderen Lebewesen erhebe, sie zur Sache degradiere und nach Gutdünken ausbeute und verbrauche, dass geht mit der „Freiheit der Kinder Gottes“ nicht zusammen. Und da muss sich wahrscheinlich jeder von uns, einschließlich mir selber, noch heftig an die eigene Nase fassen, bevor wir gegen den Walfang oder gegen Tierversuche zu Felde ziehen.

Ist unsere Welt also noch zu retten? Hat die einzigartige Vielfalt des Lebens auf unserem Planeten eine Zukunft? Wenn wir auf das ach­ten, was wir sehen und hören (einschließlich des Wahlausgangs in den USA letzte Woche), können wir da eigentlich nur schwarzsehen. Aber nach Paulus liegt unsere Hoffnung ja gerade nicht in dem be­gründet, was wir sehen, sondern in dem, was wir glauben. Und da dürfen wir darauf vertrauen, dass Gott nicht nur uns Men­schen retten will, sondern dass seine ganze Schöpfung daran Anteil haben soll. Und das ist nicht nur Zukunftsmusik, sondern es ist schon Wirklich­keit, seit Christus für uns gestorben und auferstanden ist. „Darum: Ist jemand in Christus“, so Paulus an anderer Stelle, „so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist gewor­den.“ Dass davon hier und jetzt schon etwas sichtbar wird, das liegt nun aller­dings in unserer Hand. Unsere Mitgeschöpfe warten sehnlich darauf – mögen wir sie nicht enttäuschen. Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein