Predigt, Tal- und Wenschtkirche, Sonntag, 11.07.2021

GOTTESDIENST FÜR DEN SECHSTEN SONNTAG NACH TRINITATIS

Text: Mt 28,16-20

In den Kirchen hierzulande ist vieles in Bewegung – leider in eine Richtung, die uns nicht gefällt: weniger Menschen, weniger Geld und Personal, weniger Verbundenheit mit der Tradition – das geht immer weiter, und darauf muss reagiert werden. Schon in ein paar Jahren wird es zum Beispiel nur noch so wenige Pfarrerinnen und Pfarrer geben, auch für unsere Gemeinde, dass wir schon deshalb nicht mehr so weiter ma­chen können wie bisher. Wir müssen uns also jetzt schon Gedanken darüber machen, was eigentlich als Kirche und Ge­meinde unser Auftrag ist und wie wir ihn am besten umsetzen – mit den Mitteln, die uns künftig zur Verfügung stehen. Denn einfach von allem etwas und immer noch ein bisschen mehr zu machen, das ging früher mal, aber das ist vorbei. Wir müssen nicht nur überlegen, was wir tun, sondern auch, was wir lassen.

Aber genau an dem Punkt geht immer der Streit los. Die einen sagen: „Die Aufgabe der Kirche ist die Verkündigung des Wortes Gottes. Und wenn man das unseren Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern oder auch mancher Gemeinde-Aktivität zu wenig anmerkt, dann lasst uns doch darauf ver­zichten!“ Die anderen sagen: „Jesus hat uns zur Nächstenliebe aufge­fordert. Also müssen wir so nah wie möglich bei den Menschen und ihren Nöten sein. Dazu brauchen wir keine teuren Orgeln, keine viel zu großen Kirchen und auch nicht so viele Gottes­dienste und Veranstaltungen für immer dieselben paar Leute.“ In unserer Gemeinde gab es schon manche solche Debatte, und wir sollten nicht denken, dass wir die für alle Zeiten hinter uns haben. Denn Patentlösungen, mit denen alle dauerhaft zufrieden sind, wird es auch in Zukunft nicht geben.

Kann die Bibel daran etwas ändern? Kann sie zur Klärung beitragen, uns aus fruchtlosen Entweder-Oder-Debatten befreien? Ich denke ja. Denn alt und vielstimmig wie sie ist, liefert sie uns zwar keine ferti­gen Rezepte, aber sie ist und bleibt unsere gemeinsame Basis. Und gerade weil sie so weit weg ist von unseren Tagesge­schäften, kann sie uns helfen, über den täglichen Kram hinauszu­schauen und das We­sentliche zu entdecken. Daraus Schlüsse für hier und heute zu ziehen, das ist dann wieder unsere Sache. Der heutige Predigttext, die letzten fünf Verse des Matthäusevangeliums, sind dafür ein gutes Beispiel:

Aber die elf Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, wohin Jesus sie beschieden hatte. Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber zweifelten. Und Jesus trat herzu, redete mit ihnen und sprach: „Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden. Da­rum geht hin und macht zu Jüngern alle Völker: Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehrt sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“

Das ist eine der Kern-Stel­len, wenn es um den Auftrag der Kirche geht; da sind wir uns wahrscheinlich einig. Kaum irgendwo sonst in der Bibel ist dieser Auftrag so bündig und wirkmächtig formuliert. Jedenfalls wenn man davon ausgeht, dass hier wirklich die ganze Kirche zu allen Zeiten angesprochen ist und nicht nur die elf Jünger von damals. So hat man es nämlich lange Zeit ausgelegt, und dann hat man den Text für die eigene Gegenwart nicht so wichtig ge­nom­men. Erst im 19. Jahrhundert, als christliche Missionare wirklich in alle Welt zogen, hat man ihm die grundlegende Bedeutung zuer­kannt, die er schon immer hatte.

Aber es ist paradox: Gerade das hat dem Text nicht gut getan. Man hat ihn „Missionsbefehl“ ge­nannt – plakativ, aber irreführend. Man hat ihn ehrfürchtig auf einen Sockel geho­ben und gesagt: „Jawohl, das ist es. Das ist der Auftrag der Kirche.“ Dann hat man wieder nicht mehr so genau hingeschaut. Befehl ist Befehl, hat man auch beim „Missionsbefehl“ gedacht, und Befehle müssen befolgt werden, mit allen Mitteln, die zur Verfügung stehen. Die Folgen sind be­kannt: In der Weltmission wurde die Verkündigung des Evan­geliums oft verwechselt mit der Umerziehung zur angeblich überlegenen eu­ropäi­schen Kultur. Und die wurde widerspenstigen „Eingebo­renen“ dann notfalls mit Gewalt aufgedrückt. Aber auch bei Missions-Ver­anstaltungen hierzulande ist manche so genannte „Bekehrung“ nur durch psychologischen Druck und nicht durch den heiligen Geist zustande gekommen. Kein Wunder, dass lange Zeit kaum noch je­mand von Mission reden mochte, auch innerhalb der Kirche nicht.

Erst in den letzten Jahrzehnten hat sich das wieder geän­dert. Denn die einst führenden Länder der Weltmission sind längst selber wieder Missionsgebiet. Nur noch gut die Hälfte der Menschen in Deutsch­land gehört überhaupt einer Kirche an, und selbst von denen fühlt sich nur eine Minderheit mit der Kirche eng verbunden. Das hat uns daran erin­nert, dass es zum Wesen der Kirche gehört, missionarisch zu sein. Und es wurde uns bewusst, dass wir in Sachen Mission zu schnell das Kind mit dem Bade ausgeschüttet haben. Es ist also Zeit, den so genannten „Missionsbefehl“ von seinem letztens etwas einge­staubten Sockel zu holen und noch mal genauer nachzufra­gen, was denn da wirklich steht, und was es für uns heute bedeuten könnte. An eini­gen Punkten möchte ich das jetzt tun.

Wenn ich den Text lese, dann bleibe ich zuerst an einem kurzen Halbsatz hängen: „einige aber zweifelten“ (V.17b). Das passt nicht ins gewohnte Bild. Befehlsempfänger haben keine Zweifel – die ge­horchen einfach und fragen nicht nach. Aber die Jünger, die Jesus hier in alle Welt schickt, die haben Zweifel: „Ist er das wirk­lich, der auferstandene Christus, oder bilden wir uns das nur ein? Wie soll das zugehen – wir elf in alle Welt? Sind wir überhaupt die Rich­tigen dafür?“ So, kann ich mir vorstellen, haben sie gedacht. Und ich lerne daraus: Gott braucht keine Helden für seinen Dienst an der Welt. Es dürfen und sollen durchaus Menschen sein wie du und ich: Men­schen, denen das Glauben manchmal schwer fällt. Menschen, die sich ab und zu fragen, ob es noch einen Sinn hat, in der Kirche zu bleiben oder sich gar für sie einzusetzen. Menschen, die die Wahrheit nicht für sich gepachtet haben, sondern gemeinsam mit anderen nach ihr fragen. Es sind solche Menschen, denen die schönen und kraft­vollen Worte gelten, die dann kommen. Das ist das Erste, und wir sollten es nicht vergessen.

Das zweite, woran ich hängen bleibe, ist das Wort „zu Jüngern ma­chen“. Ein ungewöhnlicher Ausdruck, schon in der Bibel. Weil wir den Text so gut kennen, überhören wir das meistens. Aber was ist denn das Besondere an dem Ausdruck „Jünger“ – etwa im Vergleich mit „Christen“, „Gläubige“ oder „Kirchenmitglieder“? Um das her­auszubekommen müssten wir eigentlich das ganze Matthäus-Evange­lium noch einmal lesen. Wir müssten nachforschen, wie das Jünger-Sein dort geschildert wird. Dann würden wir Folgendes feststellen:

Erstens: Jüngerinnen und Jünger, das sind Menschen, die Jesus zu sich gerufen hat – nicht, weil sie dafür besonders qualifiziert sind, sondern weil er sie lieb hat und weil er mit ihnen zusammen sein möchte. Nichts anderes wird uns in der Taufe zugesprochen: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“ (Jes 43,1)

Zweitens: Jüngerinnen und Jünger, das sind Menschen, die Jesus nachfolgen, die ihm zuhören und etwas von ihm lernen möchten. Darin steckt das Entscheidende: Jüngerinnen und Jünger sind keine fertigen Leute. Das griechische Wort für sie heißt eigentlich „Schü­ler“. Und diejenigen, die andere zu Jüngern machen, sind ja selbst Jünger Jesu. Dann sind sie aber auch nicht die, die alles wissen und es den anderen nur eintrichtern müssen. „Zu Jüngern machen“ heißt vielmehr: mit anderen zusammen auf Jesus hören, mit ihnen gemein­sam immer neu danach fragen, was er uns zu sagen hat. Des­halb heißt es ja auch nicht: „lehrt sie alles halten, was ihr über mich wisst“, sondern: „was ich euch befohlen habe“. Auch dazu müsste man jetzt wieder das ganze Evangelium lesen. Man müsste zum Bei­spiel die Bergpredigt noch einmal neu durchbuchstabieren. Ich denke, dass darin auch für unsere heutige Situation in Kirche und Gesellschaft viel Stoff zum Nach- und Umdenken steckt.

Und drittens: Jüngerinnen und Jünger sind Leute, die nun selber von Jesus losgeschickt werden: hin zu den Menschen, denen seine Liebe gilt. Taufen sollen sie, taufen auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Sie sollen den Menschen damit zeichenhaft deutlich machen, dass sie zu Gott gehören, und zwar zu Gott, wie er sich in Jesus Christus offenbart hat und uns durch den Heiligen Geist nahe sein will. Alles, was sie daran hindert, dürfen sie von sich abwaschen lassen. Und lehren sollen die Jünger durch Wort und Tat: predigen, aber auch Kranke heilen, von Gott reden, aber auch für die Menschen da sein. Von beidem wird die Kirche also auch mit knapperen Ressourcen nicht lassen können – weder in der Gemein­dearbeit noch in der Diakonie noch auf irgendeinem anderen Arbeitsfeld.

Und dann ist mir noch ein letztes an diesem Text wichtig: Was der auferstandene Jesus über den Auftrag seiner Jünger zu sagen hat, beginnt und endet mit einer Zusage: „Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden“ und: „Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt.“ Einer Kirche, die das nicht vergisst, der muss um ihre Zukunft nicht bange sein. Nur sollte sie sich Gedanken machen, wo denn in ihr etwas von diesem „ich bin bei euch“ spürbar wird – auch für Menschen, die nicht schon immer dazu gehören. Dazu kann sie etwas beitragen, durch die Gestaltung ihrer Gottesdienste oder ihrer Diakonie zum Beispiel, vor allem aber, indem sie Gottes Zu­sage beim Wort nimmt und immer wieder um seine Gegenwart bittet. Wir können darauf vertrauen, dass Gott solche Bitten nicht enttäu­schen wird. Amen.

Ihr Pator Martin Klein