Predigt, Tal- und Wenschtkirche, Sonntag, 10.04.2017

Gottesdienst für den Palmsonntag

 
Text: Mk 14,3-9

Und als Jesus in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Alabastergefäß mit unverfälschtem, kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Gefäß und goss das Öl auf sein Haupt.
Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: „Was soll diese Vergeudung des Salböls? Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben.“ Und sie fuhren sie an.
Jesus aber sprach: „Lasst sie! Was bekümmert ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit. Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt zu meinem Begräbnis. Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.“
 
Der Evangelist Markus liebt Kontraste. Nicht lange vor dieser Begebenheit in Betanien erzählt er uns von dem berühmten „Scherflein der Witwe“ – ich denke, viele kennen die Geschichte: Nur zwei armselige Kupfermünzen hatte diese Witwe in den Opferstock geworfen und bekam von Jesus doch hohes Lob dafür: „Wahrlich, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Gotteskasten gelegt als alle, die etwas eingelegt haben. Denn sie haben alle von ihrem Überfluss eingelegt; diese aber hat von ihrer Armut ihre ganze Habe eingelegt, alles, was sie zum Leben hatte.“
Im heutigen Predigttext geschieht nun genau das Gegenteil. Wieder geht es um eine Frau. Aber sie kommt nicht mit einem Pfennigsbetrag, sondern mit einem Fläschchen Nardenöl, das mehr als 300 Silber-Denar wert ist – sagen wir, etwa 20 000 € nach heutiger Rechnung. Sündhaft teuer nennt man sowas wohl. Judas hat Jesus für ein Zehntel dieser Summe verraten. Die Frau ist also entweder selber stinkreich oder sie hat einen reichen Liebhaber. Und anders als die arme Witwe tut sie mit ihrem Reichtum ganz und gar nicht, was von ihr erwartet wird – bescheiden bleiben, sparen, Almosen geben – sondern sie tut etwas völlig Verrücktes, um nicht zu sagen Skandalöses: Sie platzt mit ihrem Salböl gegen alle Sitte in eine Männerrunde, bricht der Flasche den Hals ab und leert sie Jesus über den Kopf.
Köstlicher Duft verbreitet sich im Raum, aber die Anwesenden rümpfen die Nase: „Was macht die hier?“ – „Wie kommt die hier rein?“ – „Schämt die sich denn gar nicht?“ – „So eine Verschwendung! Da muss der kleine Mann ein ganzes Jahr für arbeiten!“ – „Was hätte man damit alles Gutes tun können!“ – „Und Jesus lässt sich das gefallen.“ – „Ich dachte immer, Jesus ist für die kleinen Leute. Hat er nicht mal einem reichen jungen Mann gesagt: Verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen?“ – „Stimmt! Er hat sogar die Armen selig gepriesen – hab ich selbst gehört!“ – „Aber wie kann er dann so was mit sich machen lassen? Wir sind hier schließlich bei einem anständigen jüdischen Gastmahl und nicht bei einer heidnischen Orgie!“ – „Vielleicht weiß er gar nicht, was für ein Vermögen da gerade auf seinem Kopf gelandet ist.“ – „Na, dann müssen wir’s ihm halt sagen!“
Und sie sagen es ihm. Aber Jesus macht nun auch etwas völlig Verrücktes. Er, der das Scherflein der Witwe gepriesen hat, preist nun auch die Verschwendung dieser Frau: „Lasst sie! Was bekümmert ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit. Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt zu meinem Begräbnis. Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.“
Was für die anderen Verschwendung ist, ist für Jesus also ein gutes Werk. Und ein „gutes Werk“ ist nach jüdischer Tradition mehr als ein Almosen für die Armen. Ein Almosen ist es, wenn ich zehn oder auch hundert Euro für „Brot für die Welt“ gebe. Ich tu’s gern, und das Geld wird auch gebraucht, aber mir tut es nicht weh, und es verlangt auch keinen besonderen persönlichen Einsatz von mir. Ein „gutes Werk“ dagegen tue ich nach dieser Definition für jemanden, an dem mir wirklich etwas liegt. Und ich tue es mit innerer Beteiligung – so, dass es mich auch etwas kosten darf.
So ist es auch bei dieser Frau, sagt Jesus. Er muss ihr unheimlich viel bedeutet haben. Sie muss erkannt oder wenigstens gespürt haben, dass er jemand ganz Besonderes ist. Jemand, der es wert ist, dass man etwas für ihn tut, was alle anderen für völlig daneben halten. Ob sie ihn reden gehört hat? Ob er sie geheilt hat oder jemanden, der ihr nahe stand? Ob sie dabei war, als Jesus in Jerusalem einzog? Ob Jesus für sie der Messias war? Ob sie ihn gar zum Messias salben wollte? Ob sie geahnt oder gewusst hat, dass er sterben muss, und ihn wirklich im Voraus zum Begräbnis salben wollte? Wir wissen es nicht, und vielleicht war sie sich nicht einmal selbst im Klaren über ihre Motive. Aber sie musste für ihn das Größte tun, das sie tun konnte. Und sie tat es – ohne zu zögern, ohne darauf zu achten, was andere über sie denken.
Apropos: Was denken wir eigentlich über diese Frau? Und über ihre Kritiker? Ich denke, die verstehen wir auf jeden Fall sehr gut. Auf Verschwendung reagieren wir auch gern allergisch. Wenn der Bund der Steuerzahler sein jährliches Schwarzbuch veröffentlicht und die Verschwendung öffentlicher Gelder anprangert, kann er auf unsere Zustimmung rechnen. Und wenn ein katholischer Bischof sich in Zeiten knapper Kassen einen Prachtbau von Residenz bauen lässt, treten auch evangelische Christen aus der Kirche aus.
Aber wir sollten ehrlich bleiben: Was würden wir denn machen, wenn wir so ein Fläschchen Nardenöl hätten – im wörtlichen oder im übertragenen Sinne? Würden wir es verkaufen und das Geld für arme Leute spenden? Oder würden wir es doch eher unserer Liebsten zum Geburtstag schenken bzw. es selber behalten und uns zu feierlichen Anlässen mal ein Tröpfchen davon hinters Ohr tupfen, bis es irgendwann alle ist? Oder wenn wir als Gemeinde Geld übrig haben (im Moment geht es uns ja wieder ganz gut) – tun wir damit lieber uns selber was Gutes oder denken wir auch an die, die ärmer dran sind als wir? Also sollten wir den Rat Jesu beherzigen: Ehe ihr über Verschwendung klagt, packt euch erst mal an eure eigene Nase und überlegt, was ihr selber erübrigen könnt und wer die Armen sind, denen ihr damit Gutes tun könnt – wenn ihr denn wollt!
Aber nun zu der Frau, und was wir über sie denken: Jesus wollte uns mit seinen Worten für sie einnehmen. Und das ist ihm auch gelungen, denn heute wird in der Tat überall von ihr erzählt, wo seine frohe Botschaft verkündigt wird. Aber was fangen wir mit ihr an? Zum konkreten Vorbild für unser Handeln taugt sie nicht so recht. Denn ihre Tat können wir ja nicht wiederholen. Jemanden zum Begräbnis salben, das kann man nur einmal. Wir haben Jesus eben nicht mehr so von Mensch zu Mensch bei uns wie damals. Und die Tat der Frau lässt sich auch nicht ohne weiteres auf etwas anderes übertragen. Der Kirchenvater Johannes Chrysostomus hat mit dieser Geschichte Christen verteidigt, die aus Liebe zu Gott und Jesus Christus kostbare Gerätschaften für Kirche und Gottesdienst stifteten statt Geld für die Armen zu geben. Und auch heute hört man noch manchmal, dass eine Spende für die Orgel oder für die Glocken doch auch ein Ausdruck des Glaubens sei, nicht nur die Fürsorge für die Bedürftigen. Darüber kann man natürlich nachdenken. Aber mit der Salbung in Bethanien hat das alles nichts zu tun. Die konkrete Anweisung für uns steckt in den Worten: „Arme habt ihr allezeit, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun.“ Und mit der Umsetzung dieser Anweisung dürften wir noch ein Weilchen zu tun haben.
Das, was die Frau tut, konfrontiert uns dagegen mit einer Frage, die viel tiefer geht. Ihr war Jesus so viel wert, dass sie an ihn das Kostbarste „verschwendete“, was sie hatte. Aber was ist uns Jesus eigentlich wert? Sind er und seine Botschaft für uns nur die Begründung für ein bisschen Mitmenschlichkeit und ein wenig christliche Traditionspflege? Oder akzeptieren wir, dass uns in Jesus Gott begegnet, dass uns in ihm unser Schöpfer in menschlicher Gestalt gegenübertritt und uns seine Liebe schenkt? Damals leibhaftig und heute im heiligen Geist, wann immer wir uns in seinem Namen versammeln? Ist er für uns das, was das Glaubensbekenntnis von ihm sagt, nämlich Gottes eingeborener Sohn, unser Herr, oder ist er uns nur ein Vorbild unter vielen?
Für die Frau mit dem Salböl war Jesus einmalig und unvergleichlich, obwohl ihr vielleicht die Ausdrücke „Sohn Gottes“ und „Herr“ gar nichts gesagt hätten. Sie spürt einfach, dass sie ihm alles verdankt, und tut deshalb, was sie kann, um ihm ihre Liebe und Verehrung zu zeigen. Und wir? Wer ist Jesus für uns? Und wer sind wir für ihn? Meinen wir, dass das nur Fragen für Theologen sind, mit denen sie uns mal in Frieden lassen sollen, weil wir doch ganz andere Sorgen haben? Oder erkennen wir die Frage, wer Jesus für uns ist, noch als das, was sie ist, nämlich die Alles-oder-Nichts-Frage für unseren Glauben? Denn wenn wir nicht mehr wissen, wer Jesus für uns ist, dann wissen wir auch nicht mehr, in wessen Namen wir eigentlich auftreten als Kirche, als Gemeinde, als Christenmenschen. Dann fehlt uns der innerste Beweggrund für alles, was wir Gutes tun – und wir werden es wohl nicht mehr lange durchhalten. Wenn wir dagegen wissen, wer Jesus für uns ist, dann wissen wir wofür wir stehen. Dann können wir uns darauf verlassen, dass wir den Menschen anderes und mehr zu bieten haben, als wenn wir nur ein Anbieter sozialer Dienstleistungen unter vielen wären. Dann müssten wir auch keine Angst haben, dass wir weniger werden, weniger Geld und Einfluss haben und andere Religionen neben uns Platz finden. Denn dann wüssten wir, dass unser Glaube von all diesen Dingen nicht abhängt.
Vielleicht nutzen wir die Karwoche und die Osterzeit dazu, uns darüber Gedanken zu machen: Was ist uns Jesus wert? Was bedeutet uns der Glaube an ihn? Denn diese Frage ist wichtig, lebenswichtig – für uns persönlich, für die Kirche und für die Welt. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein