Predigt Tal- und Wenschtkirche, Sonntag, 1. März 2020

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG INVOKAVIT

Text: Gen 3,1-19.23

Und die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott der Herr gemacht hatte, und sprach zu der Frau: „Ja, sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Gar­ten?“Da sprach die Frau zu der Schlange: „Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten;aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esst nicht davon, rührt sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbt!“ Da sprach die Schlange zur Frau: „Ihr wer­det keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“

Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von seiner Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon und er aß. Da wurden ihnen beiden die Au­gen aufge­tan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Fei­genblätter zusammen und machten sich Schurze.

Und sie hörten Gott den Herrn, wie er im Garten ging, als der Tag kühl geworden war. Und der Mensch versteckte sich mit seiner Frau vor dem Angesicht Gottes des Herrn zwischen den Bäumen im Gar-ten.Und Gott der Herr rief den Menschen und sprach zu ihm: „Wo bist du?“ Und er sprach: „Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich.“ Und er sprach: „Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du geges­sen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon es­sen?“Da sprach der Mensch: „Die Frau, die du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum und ich aß.“ Da sprach Gott der Herr zur Frau: „Warum hast du das getan?“ Die Frau sprach: „Die Schlange be­trog mich, sodass ich aß.“

Da sprach Gott der Herr zu der Schlange: „Weil du das getan hast, seist du verflucht vor allem Vieh und allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauch sollst du kriechen und Staub fres­sen dein Leben lang. Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau und zwi­schen deinen Nachkommen und ihren Nach­kommen; sie werden dir den Kopf zertreten, und du wirst sie in die Ferse stechen.“

Und zur Frau sprach er: „Ich will dir viel Müh­sal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Mann sein, aber er soll dein Herr sein.“

Und zu dem Menschen sprach er: „Weil du gehorcht hast der Stimme deiner Frau und gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen -, ver­flucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tra­gen, und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde wirst, davon du genommen bist. Denn Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück.“

Und Gott der Herr wies ihn aus dem Garten Eden, dass er die Erde bebaute, von der er genommen war.

In der Luther-Bibel heißt diese Geschichte „Der Sün­denfall“. Unter diesem Titel ist sie berühmt geworden – in allen Kir­chen und Syn­agogen und weit darüber hinaus. Sogar in den Niederungen der Fern­sehwer­bung sind ihre Nachwirkungen spürbar. Die Älteren erin­nern sich doch gewiss noch an „die zarteste Versuchung, seit es Schoko­lade gibt“! Aber Berühmt-Werden tut nicht immer gut. Und so ist es auch dieser Geschichte ergangen. Man hat so viel in sie hin­ein oder aus ihr heraus gelesen, dass ihre ursprüngliche Aussage da­bei ziem­lich verschüttet wurde.

Die einen haben sie verharmlost und verniedlicht und sie damit be­langlos gemacht: Wenn der „Sündenfall“ nur noch darin besteht, dass man seinen Gelüsten nachgibt – „heute sündige ich mal, sprach die beleibte Dame und nahm sich ein Stück Sahnetorte“ –, dann taugt das Thema wirklich nur noch für die Werbepause.

Aber auch das Gegenteil tut der Ge­schichte nicht gut. Wenn man zu viel in sie hineinliest und sie mit Bedeutsamkeit überfrachtet, dann kommt sie auch nicht mehr selber zu Wort. Und das passiert gerade ernsthaften Christenmenschen leicht, wenn sie das Stichwort „Sün­denfall“ hören. Sie glauben dann schon zu wissen, was da steht, ohne überhaupt richtig hingeschaut zu haben.

Genau das möchte ich aber heute tun. Ich möchte die Ge­schichte ein­fach so wahrnehmen, wie sie da steht, und mir über­legen, wie und warum sie zum ersten Mal erzählt worden ist.

Ich stelle mir dazu einen Menschen im alten Israel vor, der einen rei­chen Erfahrungsschatz besitzt und viel über Gott und die Welt nach­gedacht hat. Dabei ist ihm aufgefallen, dass Gegen­sätze im Leben nah beieinander liegen: Zum Bei­spiel be­trachten sich die Männer in der Liebe als Part­ner ihrer Frauen, aber in der Gesell­schaftsordnung als ihre Herren. Frauen erle­ben bei der Ge­burt eines Kindes gleich­zeitig höchstes Glück und ent­setzliche Schmerzen. Ar­beit muss sein und kann Freude machen, aber sie bedeutet auch viel Mühe und Plage. Je mehr ein Menschen­leben sei­ner Erfüllung entgegengeht, desto näher ist der Tod. Und je mehr die Menschen wissen und kön­nen, desto schlimmer wird der Missbrauch, den sie damit treiben. Es gäbe noch mehr Beispiele – heute ge­nauso aktuell wie damals.

Der Mensch, den ich mir vorstelle, fragt sich nun: Warum ist das so? Warum ist das Leben auf dieser Erde nicht einfach nur schön und voller Sonnenschein? Warum gibt es neben dem Glück auch das Un­glück, neben dem frohen Schaffen auch die üble Maloche, neben der Freude auch das Leid, neben der Partnerschaft auch die Unter­drü­ckung, neben der Liebe auch den Hass? Der Mensch ist doch ein Ge­schöpf Gottes, und Gott hat die Welt doch gut erschaffen. Wieso er­fahren wir dann so viel Böses und bringen selber so ­viel Böses her­vor? Und er kommt zu dem Schluss: Irgendetwas stimmt da nicht! Da ist etwas nicht in Ordnung zwischen Gott und den Men­schen, zwischen den Geschöpfen und ihrem Schöpfer. Wir haben dafür den Begriff Sünde, Trennung von Gott. Aber die Menschen im alten Is­rael dach­ten nicht in abstrakten Begriffen. Sie erzählten lieber Ge­schichten. Und so macht es der Erzähler von 1. Mose 3 auch. Er er­zählt eine Geschichte darüber, wie es dazu kam, dass die Menschen und die Welt so sind, wie sie sind. Bei dieser Art Geschichten kommt es nicht darauf an, dass sie irgendwann einmal so passiert sind. Ent­scheidend ist, dass es stimmt, was sie über Gott und die Menschen zu sagen haben. Um herauszubekommen, was das ist, möchte ich nun noch ein wenig an der Geschichte entlanggehen.

Es fängt an mit der Schlange. Sie ist kein Teufel und kein mythisches Ungeheuer, sondern einfach eins der Tiere, die Gott geschaffen hat. Sie ist nur etwas schlauer und hinterlistiger als die anderen Tiere. Wie das kommt, darüber schweigt der Erzähler. Wo­her das Böse kommt und warum Gott es zugelassen hat, das weiß er genauso we­nig wie wir. Deshalb versucht er gar nicht erst, das Böse zu erklären. Er kann nur erzählen, wie es wirkt, und das geht so:

Eines Tages begegnet die Schlange der Frau, die hier noch nicht Eva heißt. Und sie stellt ihr scheinbar ganz harmlos eine Frage: „Sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von allen Bäu­men im Gar­ten?“ Hat er natürlich nicht gesagt. „Wir dürfen von den Früch­ten der Bäume im Garten essen“, antwortet die Frau; „nur von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esst nicht davon, rührt sie auch nicht an, sonst müsst ihr sterben!“

Die Frau macht also eigentlich alles richtig. Sie stellt sich auf Gottes Seite und wiederholt genau, was er gesagt hat. Aber trotz­dem hat die Schlange jetzt schon einen Fuß in der Tür. Es ist ihr ge­lungen, das Gebot Gottes zur Diskussion zu stellen. Und damit steht die Frage im Raum, was dieses Gebot ei­gentlich soll: Warum ist die­ser eine Baum tabu, wenn doch von allen anderen ge­gessen werden darf? Die Schlange weiß es: „Ihr werdet keineswegs des Todes ster­ben, son­dern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen auf­getan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“ Auch das ist alles nicht falsch, wie sich dann heraus­stellt. Aber so wie die Schlange es sagt, gerät Gott ins Zwielicht: Er gönnt den Men­schen die verbotenen Früchte nicht, er enthält ihnen etwas vor. Wenn sie nämlich über Gut und Böse Be­scheid wissen, wenn sie beurteilen können, was gut und was schlecht für sie ist, dann können sie ihr Le­ben auch selbst in die Hand neh­men. Dann brauchen sie keinen Gott mehr, der sie zwar gut versorgt aber auch bevormundet. Sie sind dann sozusagen ihr eigener Gott. Verlockende Aussichten! Und deshalb reagiert die Frau wie ein Kind, das besonders anziehend findet, was die Eltern verboten haben:„Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und ver­lockend, weil er klug machte. Und sie nahm von der Frucht und aß.“ Und damit wir Män­ner nicht denken, uns wäre das alles nicht passiert, fügt der Erzähler noch hinzu: „Und sie gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon und er aß.“ Der Mann muss also noch nicht mal um­ständlich verführt wer­den – er macht einfach mit, ohne nachzudenken. Und schon ist das pas­siert, was wir den „Sün­denfall“ nennen.

Der Erzähler nennt die handelnden Personen „der Mensch“ – auf Heb­räisch ’adam – und „die Frau“. Er will also nicht sagen: Zwei be­stimmte Menschen haben eines Tages Gottes Gebot übertreten, und deshalb sind alle Menschen Sünder. Stattdessen will er sagen: So sind die Menschen; sie nützen jede Gelegenheit, um sich von ihrem Schöpfer unabhängig zu machen und ihr eigener Herr zu sein. Kein Mensch kann diesem Drang widerstehen. Irgendwann ist es zum ers­ten Mal passiert, aber seitdem geschieht es immer und immer wieder. Und so ist es bis zum heutigen Tag. Wir brauchen dabei nicht gleich an jenen Gentechniker zu denken, der öffentlich davon träumte, Gott zu spielen und Menschen nach seinem Bilde zu schaffen. Wir können ruhig bei uns selber bleiben. Wir wollen doch alle das Beste aus un­serem Leben machen, uns selbst verwirklichen, selbst bestimmen kön­nen, was wir tun und lassen. An Gott denken wir dabei besten­falls als Zweites. Und selbst wenn wir uns entschlie­ßen sollten, bei allem, was wir tun, auf Gott zu hö­ren, sind es immer noch wir, die diesen Ent­schluss fassen. Und damit ist schon klar, dass daraus nichts werden kann.

So sieht es also aus. Der „Sündenfall“ ist geschehen und geschieht immer wieder, und soweit es an uns liegt, wird sich das nicht ändern. Aber welche Konsequenzen hat es, dass wir Menschen immer wieder Gottes Gebot übertreten? Wer behält recht mit seiner Vorhersage für diesen Fall, Gott oder die Schlange?

Zunächst anscheinend die Schlange. Der Mensch und die Frau fal­len nicht sofort tot um, sondern sie wissen nun tatsäch­lich, was gut und böse ist. Aber der Preis dafür ist hoch. Denn das erste, was ihnen das neue Wissen einbringt, ist die Erkenntnis, dass sie nackt sind, und sie schämen sich dafür. Sie wissen nämlich jetzt auch, dass es falsch war, was sie getan haben, und deshalb können sie sich nicht mehr gerade in die Augen schauen – und vor Gott müssen sie sich erst recht ver­ste­cken. Es ist etwas zerbrochen im Verhältnis zwischen Mensch und Gott, und deshalb auch zwischen Mensch und Mensch. Man schämt sich voreinander, man misstraut und beschul­digt sich gegenseitig, man sucht den eigenen Vorteil auf Kosten des anderen. Was das für Folgen hat bis hin zu Mord und Totschlag, da­von erzäh­len die näch­sten Ka­pitel des ersten Mosebuchs, und die Bestätigung davon erleben wir Tag für Tag bis heute.

Gott, so sieht es aus, behält nicht recht. Der Mensch und die Frau müssen nicht an dem Tag sterben, wo sie von den verbotenen Früch­ten essen. Aber weil sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, wissen sie nun, dass sie überhaupt sterben müssen, dass ihr Leben begrenzt ist wie bei allen anderen Ge­schöpfen auch: Sie sind Staub und werden wieder zum Staub zurückkehren. Und deshalb ist ihnen klar, dass sie in dieser Hinsicht nie wie Gott sein werden. Der Tod setzt die Grenze für all un­sere Bemühungen unser Leben selber zu meistern. Das zu wissen und erleben zu müssen, ist Strafe genug, auch wenn Gott seine ursprüngliche Drohung nicht wahr macht.

An dieser Stelle könnte die Geschichte zu Ende sein. Das Malheur ist passiert, alle haben ihre gerechte Strafe bekommen, und dabei bleibt es bis zum Ende der Zeiten. Kein Paradies mehr, nirgends. Aber Gott wäre nicht Gott, wenn die Vertreibung aus dem Garten Eden sein letztes Wort wäre. Der Mensch und die Frau müssen das Paradies verlassen. Aber immerhin: sie dürfen weiterleben, sie dürfen die Erde bewohnen und beackern, Kinder und Enkel bekommen. Und Gott ist auch jen­seits von Eden in ihrer Nähe und sorgt für sie. Die Ge­schichte Gottes mit den Menschen geht also weiter. Und als Gott schließlich selber Mensch wird, als Jesus den Verlockungen wider­steht, denen wir alle erlegen sind, da beginnt die Geschichte noch mal ganz neu. Seit­dem steht die Tür zum Paradies wieder offen, und Gott erwartet uns dort mit offe­nen Armen. Amen

Ihr Pastor Martin Klein