GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG INVOKAVIT
Text: Gen 3,1-19.23
Und die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott der Herr gemacht hatte, und sprach zu der Frau: „Ja, sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten?“Da sprach die Frau zu der Schlange: „Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten;aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esst nicht davon, rührt sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbt!“ Da sprach die Schlange zur Frau: „Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“
Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von seiner Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon und er aß. Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.
Und sie hörten Gott den Herrn, wie er im Garten ging, als der Tag kühl geworden war. Und der Mensch versteckte sich mit seiner Frau vor dem Angesicht Gottes des Herrn zwischen den Bäumen im Gar-ten.Und Gott der Herr rief den Menschen und sprach zu ihm: „Wo bist du?“ Und er sprach: „Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich.“ Und er sprach: „Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon essen?“Da sprach der Mensch: „Die Frau, die du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum und ich aß.“ Da sprach Gott der Herr zur Frau: „Warum hast du das getan?“ Die Frau sprach: „Die Schlange betrog mich, sodass ich aß.“
Da sprach Gott der Herr zu der Schlange: „Weil du das getan hast, seist du verflucht vor allem Vieh und allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauch sollst du kriechen und Staub fressen dein Leben lang. Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau und zwischen deinen Nachkommen und ihren Nachkommen; sie werden dir den Kopf zertreten, und du wirst sie in die Ferse stechen.“
Und zur Frau sprach er: „Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Mann sein, aber er soll dein Herr sein.“
Und zu dem Menschen sprach er: „Weil du gehorcht hast der Stimme deiner Frau und gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen -, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde wirst, davon du genommen bist. Denn Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück.“
Und Gott der Herr wies ihn aus dem Garten Eden, dass er die Erde bebaute, von der er genommen war.
In der Luther-Bibel heißt diese Geschichte „Der Sündenfall“. Unter diesem Titel ist sie berühmt geworden – in allen Kirchen und Synagogen und weit darüber hinaus. Sogar in den Niederungen der Fernsehwerbung sind ihre Nachwirkungen spürbar. Die Älteren erinnern sich doch gewiss noch an „die zarteste Versuchung, seit es Schokolade gibt“! Aber Berühmt-Werden tut nicht immer gut. Und so ist es auch dieser Geschichte ergangen. Man hat so viel in sie hinein oder aus ihr heraus gelesen, dass ihre ursprüngliche Aussage dabei ziemlich verschüttet wurde.
Die einen haben sie verharmlost und verniedlicht und sie damit belanglos gemacht: Wenn der „Sündenfall“ nur noch darin besteht, dass man seinen Gelüsten nachgibt – „heute sündige ich mal, sprach die beleibte Dame und nahm sich ein Stück Sahnetorte“ –, dann taugt das Thema wirklich nur noch für die Werbepause.
Aber auch das Gegenteil tut der Geschichte nicht gut. Wenn man zu viel in sie hineinliest und sie mit Bedeutsamkeit überfrachtet, dann kommt sie auch nicht mehr selber zu Wort. Und das passiert gerade ernsthaften Christenmenschen leicht, wenn sie das Stichwort „Sündenfall“ hören. Sie glauben dann schon zu wissen, was da steht, ohne überhaupt richtig hingeschaut zu haben.
Genau das möchte ich aber heute tun. Ich möchte die Geschichte einfach so wahrnehmen, wie sie da steht, und mir überlegen, wie und warum sie zum ersten Mal erzählt worden ist.
Ich stelle mir dazu einen Menschen im alten Israel vor, der einen reichen Erfahrungsschatz besitzt und viel über Gott und die Welt nachgedacht hat. Dabei ist ihm aufgefallen, dass Gegensätze im Leben nah beieinander liegen: Zum Beispiel betrachten sich die Männer in der Liebe als Partner ihrer Frauen, aber in der Gesellschaftsordnung als ihre Herren. Frauen erleben bei der Geburt eines Kindes gleichzeitig höchstes Glück und entsetzliche Schmerzen. Arbeit muss sein und kann Freude machen, aber sie bedeutet auch viel Mühe und Plage. Je mehr ein Menschenleben seiner Erfüllung entgegengeht, desto näher ist der Tod. Und je mehr die Menschen wissen und können, desto schlimmer wird der Missbrauch, den sie damit treiben. Es gäbe noch mehr Beispiele – heute genauso aktuell wie damals.
Der Mensch, den ich mir vorstelle, fragt sich nun: Warum ist das so? Warum ist das Leben auf dieser Erde nicht einfach nur schön und voller Sonnenschein? Warum gibt es neben dem Glück auch das Unglück, neben dem frohen Schaffen auch die üble Maloche, neben der Freude auch das Leid, neben der Partnerschaft auch die Unterdrückung, neben der Liebe auch den Hass? Der Mensch ist doch ein Geschöpf Gottes, und Gott hat die Welt doch gut erschaffen. Wieso erfahren wir dann so viel Böses und bringen selber so viel Böses hervor? Und er kommt zu dem Schluss: Irgendetwas stimmt da nicht! Da ist etwas nicht in Ordnung zwischen Gott und den Menschen, zwischen den Geschöpfen und ihrem Schöpfer. Wir haben dafür den Begriff Sünde, Trennung von Gott. Aber die Menschen im alten Israel dachten nicht in abstrakten Begriffen. Sie erzählten lieber Geschichten. Und so macht es der Erzähler von 1. Mose 3 auch. Er erzählt eine Geschichte darüber, wie es dazu kam, dass die Menschen und die Welt so sind, wie sie sind. Bei dieser Art Geschichten kommt es nicht darauf an, dass sie irgendwann einmal so passiert sind. Entscheidend ist, dass es stimmt, was sie über Gott und die Menschen zu sagen haben. Um herauszubekommen, was das ist, möchte ich nun noch ein wenig an der Geschichte entlanggehen.
Es fängt an mit der Schlange. Sie ist kein Teufel und kein mythisches Ungeheuer, sondern einfach eins der Tiere, die Gott geschaffen hat. Sie ist nur etwas schlauer und hinterlistiger als die anderen Tiere. Wie das kommt, darüber schweigt der Erzähler. Woher das Böse kommt und warum Gott es zugelassen hat, das weiß er genauso wenig wie wir. Deshalb versucht er gar nicht erst, das Böse zu erklären. Er kann nur erzählen, wie es wirkt, und das geht so:
Eines Tages begegnet die Schlange der Frau, die hier noch nicht Eva heißt. Und sie stellt ihr scheinbar ganz harmlos eine Frage: „Sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten?“ Hat er natürlich nicht gesagt. „Wir dürfen von den Früchten der Bäume im Garten essen“, antwortet die Frau; „nur von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esst nicht davon, rührt sie auch nicht an, sonst müsst ihr sterben!“
Die Frau macht also eigentlich alles richtig. Sie stellt sich auf Gottes Seite und wiederholt genau, was er gesagt hat. Aber trotzdem hat die Schlange jetzt schon einen Fuß in der Tür. Es ist ihr gelungen, das Gebot Gottes zur Diskussion zu stellen. Und damit steht die Frage im Raum, was dieses Gebot eigentlich soll: Warum ist dieser eine Baum tabu, wenn doch von allen anderen gegessen werden darf? Die Schlange weiß es: „Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“ Auch das ist alles nicht falsch, wie sich dann herausstellt. Aber so wie die Schlange es sagt, gerät Gott ins Zwielicht: Er gönnt den Menschen die verbotenen Früchte nicht, er enthält ihnen etwas vor. Wenn sie nämlich über Gut und Böse Bescheid wissen, wenn sie beurteilen können, was gut und was schlecht für sie ist, dann können sie ihr Leben auch selbst in die Hand nehmen. Dann brauchen sie keinen Gott mehr, der sie zwar gut versorgt aber auch bevormundet. Sie sind dann sozusagen ihr eigener Gott. Verlockende Aussichten! Und deshalb reagiert die Frau wie ein Kind, das besonders anziehend findet, was die Eltern verboten haben:„Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von der Frucht und aß.“ Und damit wir Männer nicht denken, uns wäre das alles nicht passiert, fügt der Erzähler noch hinzu: „Und sie gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon und er aß.“ Der Mann muss also noch nicht mal umständlich verführt werden – er macht einfach mit, ohne nachzudenken. Und schon ist das passiert, was wir den „Sündenfall“ nennen.
Der Erzähler nennt die handelnden Personen „der Mensch“ – auf Hebräisch ’adam – und „die Frau“. Er will also nicht sagen: Zwei bestimmte Menschen haben eines Tages Gottes Gebot übertreten, und deshalb sind alle Menschen Sünder. Stattdessen will er sagen: So sind die Menschen; sie nützen jede Gelegenheit, um sich von ihrem Schöpfer unabhängig zu machen und ihr eigener Herr zu sein. Kein Mensch kann diesem Drang widerstehen. Irgendwann ist es zum ersten Mal passiert, aber seitdem geschieht es immer und immer wieder. Und so ist es bis zum heutigen Tag. Wir brauchen dabei nicht gleich an jenen Gentechniker zu denken, der öffentlich davon träumte, Gott zu spielen und Menschen nach seinem Bilde zu schaffen. Wir können ruhig bei uns selber bleiben. Wir wollen doch alle das Beste aus unserem Leben machen, uns selbst verwirklichen, selbst bestimmen können, was wir tun und lassen. An Gott denken wir dabei bestenfalls als Zweites. Und selbst wenn wir uns entschließen sollten, bei allem, was wir tun, auf Gott zu hören, sind es immer noch wir, die diesen Entschluss fassen. Und damit ist schon klar, dass daraus nichts werden kann.
So sieht es also aus. Der „Sündenfall“ ist geschehen und geschieht immer wieder, und soweit es an uns liegt, wird sich das nicht ändern. Aber welche Konsequenzen hat es, dass wir Menschen immer wieder Gottes Gebot übertreten? Wer behält recht mit seiner Vorhersage für diesen Fall, Gott oder die Schlange?
Zunächst anscheinend die Schlange. Der Mensch und die Frau fallen nicht sofort tot um, sondern sie wissen nun tatsächlich, was gut und böse ist. Aber der Preis dafür ist hoch. Denn das erste, was ihnen das neue Wissen einbringt, ist die Erkenntnis, dass sie nackt sind, und sie schämen sich dafür. Sie wissen nämlich jetzt auch, dass es falsch war, was sie getan haben, und deshalb können sie sich nicht mehr gerade in die Augen schauen – und vor Gott müssen sie sich erst recht verstecken. Es ist etwas zerbrochen im Verhältnis zwischen Mensch und Gott, und deshalb auch zwischen Mensch und Mensch. Man schämt sich voreinander, man misstraut und beschuldigt sich gegenseitig, man sucht den eigenen Vorteil auf Kosten des anderen. Was das für Folgen hat bis hin zu Mord und Totschlag, davon erzählen die nächsten Kapitel des ersten Mosebuchs, und die Bestätigung davon erleben wir Tag für Tag bis heute.
Gott, so sieht es aus, behält nicht recht. Der Mensch und die Frau müssen nicht an dem Tag sterben, wo sie von den verbotenen Früchten essen. Aber weil sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, wissen sie nun, dass sie überhaupt sterben müssen, dass ihr Leben begrenzt ist wie bei allen anderen Geschöpfen auch: Sie sind Staub und werden wieder zum Staub zurückkehren. Und deshalb ist ihnen klar, dass sie in dieser Hinsicht nie wie Gott sein werden. Der Tod setzt die Grenze für all unsere Bemühungen unser Leben selber zu meistern. Das zu wissen und erleben zu müssen, ist Strafe genug, auch wenn Gott seine ursprüngliche Drohung nicht wahr macht.
An dieser Stelle könnte die Geschichte zu Ende sein. Das Malheur ist passiert, alle haben ihre gerechte Strafe bekommen, und dabei bleibt es bis zum Ende der Zeiten. Kein Paradies mehr, nirgends. Aber Gott wäre nicht Gott, wenn die Vertreibung aus dem Garten Eden sein letztes Wort wäre. Der Mensch und die Frau müssen das Paradies verlassen. Aber immerhin: sie dürfen weiterleben, sie dürfen die Erde bewohnen und beackern, Kinder und Enkel bekommen. Und Gott ist auch jenseits von Eden in ihrer Nähe und sorgt für sie. Die Geschichte Gottes mit den Menschen geht also weiter. Und als Gott schließlich selber Mensch wird, als Jesus den Verlockungen widersteht, denen wir alle erlegen sind, da beginnt die Geschichte noch mal ganz neu. Seitdem steht die Tür zum Paradies wieder offen, und Gott erwartet uns dort mit offenen Armen. Amen
Ihr Pastor Martin Klein