Predigt Tal- und Wenschtkirche, Sonntag, 05. November 2023

Gottedienst für den zweiundzwanzigsten Sonntag nach Trinitatis

Text: 1. Joh 2,12-17

Liebe Kinder, ich schreibe euch, dass euch die Sünden vergeben sind um seines Namens willen. Ihr Väter, ich schreibe euch, dass ihr den erkannt habt, der von Anfang an ist. Ihr jungen Männer, ich schreibe euch, dass ihr den Bösen überwunden habt. Liebe Kinder, ich habe euch geschrieben, dass ihr den Vater erkannt habt. Ihr Väter, ich habe euch geschrieben, dass ihr den erkannt habt, der von Anfang an ist. Ihr jungen Männer, ich habe euch geschrieben, dass ihr seid stark seid und das Wort Gottes in euch bleibt und ihr den Bösen über­wunden habt.

Habt nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist. Wenn jemand die Welt lieb hat, in dem ist nicht die Liebe des Vaters. Denn alles, was in der Welt ist, die Begierde des Fleisches und die Begierde der Augen und das Prahlen mit Besitz, ist nicht vom Vater, sondern von der Welt. Und die Welt vergeht mit ihrer Begierde; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in Ewigkeit.

Wer ein Freund von klaren Alternativen ist und das schlichte Entwe­der-Oder schätzt, der wird diesen Text mögen. Denn er zieht deutli­che Grenzen: Hier die Gemeinschaft der Glaubenden, vom Verfasser mit „liebe Kinder“ angeredet, dort die „Welt“. Hier gibt es Erkennt­nis Gottes, Vergebung der Sünden, Überwindung des Bösen; dort regiert die Gier nach vergänglichen Freuden und Gütern. Hier lebt man vom Wort und von der Liebe des Vaters im Himmel und tut seinen Willen; dort ist man von all dem weit weg und wird mit der Welt untergehen.

Aber sind die Verhältnisse wirklich so klar? Ist die Welt wirklich nur böse und dem Untergang geweiht? Oder ist sie nicht auch immer noch Gottes gute Schöpfung, trotz aller Entstellung? Und anderer­seits: Wieviel „Welt“ im negativen Sinne klebt dann eben doch noch an den „lieben Kindern“? Müssten sie denn noch ermahnt werden, die Welt nicht liebzuhaben, wenn sie das Böse wirklich ein für alle Mal überwunden hätten?

Wir merken: So glatt ist die Trennung dann doch nicht hinzubekom­men zwischen der „Welt“ und dem „Reich Gottes“, jedenfalls nicht hier auf Erden. Nicht, dass man’s nicht immer wieder versucht hätte – vom Mönchtum des Mittelalters über den Pietismus und die Erwe­ckungsbewegung bis in unsere Tage. Aber es hat nie auf Dauer funktio­niert. Selbst die frömmsten und abgeschiedensten Gemein­schaf­ten von Christen sind immer auch „Welt“ geblieben. Denn auch sie setzen sich aus Menschen zusammen, die in diesem Leben gar nicht anders können, als zugleich Teil der Welt zu sein – im Guten wie im Bösen. Die Folgen davon kennen wir zur Genüge – aus unserem Alltag, auch aus unserer Kirche und Gemeinde.

Aber was fangen wir dann an mit solchen Bibeltexten? Legen wir sie einfach beiseite? Oder haben sie uns trotzdem etwas zu sagen? Ich glaube, ja. Und zwar sind das für mich zwei Dinge, den beiden Teilen des Textes entsprechend:

Das erste entnehme ich der ersten Hälfte. Da erinnert nämlich der Verfasser seine „lieben Kinder“ gleich doppelt an das, was sie sind: Eure Sünden sind euch vergeben, schreibt er, denn ihr gehört zu Gott, zu Jesus Christus. Sein Name ist über euch ausgerufen, seit ihr getauft worden seid und zur Gemeinschaft der Christen gehört. Dadurch habt ihr erkannt, dass da ein Vater im Himmel ist, der von Anfang an da war und der euch liebt. Dadurch habt ihr den Teufel, das personifizierte Böse, überwunden. Und das macht euch stark: Ihr müsst euch vom Bösen nicht mehr beherrschen lassen, ihr könnt Gottes Willen tun, und all das wird sich in Ewigkeit nicht mehr än­dern. Es gilt bleibend für alle, die zu euch gehören: für Väter und junge Männer, natürlich auch für Mütter und junge Frauen, für Alte und Junge.

Das muss man wohl auch uns doppelt und dreifach sagen. Denn so, wie ich es wahrnehme, sind sich viele heute ihres Christseins nicht mehr gewiss. „Glaube ich überhaupt richtig?“, fragen sie sich. „Ich hab doch so viele Zweifel und ich weiß so wenig über Glaubens­dinge! Kann ich da überhaupt für mich in Anspruch nehmen, Gott erkannt zu haben? Ja, ich bin getauft – aber da war ich ein kleines Kind und ich habe keine Erinnerung daran! Gilt das dann überhaupt? Und sind meine Sünden wirklich vergeben? Da gibt es noch so vie­les, was mein Gewissen belastet, und ich mache immer noch so viel verkehrt!“

Natürlich sind solche Zweifel nicht neu. Sicher gab es sie auch schon bei den Empfängern des ersten Johannesbriefs. Deshalb gibt er es ihnen schriftlich, und das in doppelter Ausfertigung: Ja, ihr seid Got­tes geliebte Kinder! Alles, was Gott euch schenkt, gehört euch, und niemand kann es euch nehmen. Ihr seid frei vom Bösen, und nichts trennt euch mehr von Gottes Liebe. Und wenn euch mal wieder Zweifel kommen, dann haltet euch vor Augen, was ich euch geschrie­ben habe!

Martin Luther hat es auch so gemacht. Wenn ihn die Anfechtung plagte, wenn der Teufel ihm mal wieder weismachen wollte, dass ein armer, elender, sündiger Mensch wie er es Gott nie würde recht machen können, dann schrieb er in großen Buchstaben vor sich hin: „ICH BIN GETAUFT!“ Gott hat sein Ja zu mir gesprochen, er lässt mich ihm recht sein, und er nimmt das niemals zurück. Und weil das so ist, kann ich mich jetzt nach seinem Willen richten und mich da­mit unterscheiden von der „Welt“, die das nicht tut.

Und damit bin ich beim Zweiten: „Habt nicht die Welt lieb noch was in der Welt ist!“ Für mich heißt das nicht: Zieht einen absoluten Trenn­strich zwischen euch und der Welt. Denn das geht nicht, wie gesagt. Auch die strengsten Asketen haben das nicht hinbekommen, weil sie sich ja nicht von sich selber trennen konnten. Wir sind nun mal Teil dieser Welt, und soweit sie Gottes Schöpfung ist, ist das auch gut so. Trennung funktioniert also nicht, aber Unterscheidung geht sehr wohl: Wir müssen nicht mitmachen bei dem, was diese Welt weithin prägt und sie zu einem Ort macht, der von Gottes Schöp­ferwillen weit entfernt ist.

Der Verfasser gebraucht dafür drei Begriffe: „Begierde des Flei­sches“, „Begierde der Augen“ und „Prahlerei mit Besitz“. Luther hat es anders übersetzt: „des Fleisches Lust, der Augen Lust und hoffärti­ges Leben“. Aber das greift zu kurz. Denn dabei denken wir an Sex, vielleicht noch an Völlerei, und dann geraten wir unwillkür­lich ins Fahrwasser einer Lust- und Genussfeindlichkeit, die weder biblisch ist noch je jemandem gut getan hat.

Nein, die Begierde ist hier das entscheidende Stichwort, und die ist ganz umfassend gemeint. „Du sollst nicht begehren“ – das war nach jüdischer Tradition das Grundgebot überhaupt. Und wer wollte es bestreiten: Die Gier nach immer mehr, egal wovon, beherrscht unsere Welt und treibt sie auf den Abgrund zu. „Wachstum“ heißt zum Beispiel der Götze unseres Wirtschaftssystems. Ohne Wachs­tum geht es angeblich nicht, aber seine Folgen sind fatal: immer höherer Verbrauch von Energie und Ressourcen, immer größere Vernichtung natürlicher Lebensräume, immer schlimmere Erwär­mung des Erdklimas. Weil sich das inzwischen herumgesprochen hat, preist man uns heute „nachhaltiges Wirtschaftswachstum“ an. Aber ob es das wirklich gibt oder ob es ein Widerspruch in sich selbst ist, weiß noch keiner. Begierde treibt auch all die Kriege und gewaltsamen Auseinandersetzungen an. Immer geht es dabei um Gier nach Macht, nach Land, oder nach Vergeltung. Und Begierde prägt weithin auch unser persönliches Streben nach Glück. Da prah­len die einen mit dem, was sie sich alles leisten können, und wecken damit bei den anderen die Gier, es ihnen gleich zu tun. Aber weil das nun mal nicht allen gelingt, wird aus Gier schnell Neid, aus Neid Missgunst, aus Missgunst Hass und aus Hass Gewalt.

Aus diesem Karussell, diesem Strudel gibt es scheinbar kein Entkom­men. Aber da erhebt der erste Johannesbrief Einspruch. Wenn ihr Kinder Gottes seid, sagt er, wenn ihr zu Gott gehört und von seiner Liebe lebt, dann müsst ihr da nicht mehr mitmachen. Denn dann könnt ihr dem gelassen ins Auge sehen, was die anderen meistens verdrängen, dass nämlich alles vergänglich ist, was uns dieser Welt als begehrlich hingestellt wird. Selbst wenn es jemandem gelingt, soviel anzuhäufen, dass er damit prahlen kann, wird er doch nichts davon mitnehmen können, wenn sein irdisches Dasein zu Ende ist. Er schadet letztlich sich selbst mit seiner Gier, und er schadet ande­ren, denen damit ihr Teil der irdischen Güter vorenthalten wird.

Da müsst ihr nicht mitmachen, sagt der Johannesbrief. Eure Stärke liegt woanders. Also freut euch ruhig an den guten Gaben, die Gott euch zuteilwerden lässt, aber vergesst dabei nicht, dass es Gaben zum Weitergeben sind. Und dann überlegt, wem ihr mit dem, was ihr seid und habt, Gutes tun könnt. Darauf richtet euer Augenmerk, nicht darauf, wie ihr von dem, was ihr habt, immer noch mehr bekom­men könnt oder wie ihr es schafft, davon zumindest nichts abgeben zu müssen. Seid offen für die Erfahrung, dass Verzichten und Sich-Bescheiden auch gut tun kann – weil das Leben dann zum Beispiel weniger stressig wird. Und macht die Erfahrung, dass Liebe, die man weitergibt, sich niemals verbraucht.

Nochmal zum guten Schluss: Christen die so leben, trennen sich nicht von der Welt, aber sie unterscheiden sich von ihr – jedenfalls von den schädlichen Prinzipien, die sie weithin beherrschen. Und sie können das, weil sie zu Gott gehören. Denn auch Gott ist von der Welt unterschieden, natürlich. Und doch hat er die Welt so sehr geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben ha­ben. Das ist die wahre Liebe zur Welt. Und überall, wo sie auf­scheint, da berühren sich jetzt schon Himmel und Erde. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein