Predigt Tal- und Wenschtkirche, Sonntag, 04.12.2016

GOTTESDIENST FÜR DEN ZWEITEN ADVENT

Text: Mt 24,1-14

Mal angenommen, Sie wüssten, dass es ein Weihnachtsfest gibt, aber sie wüssten nicht, wann genau es gefei­ert wird. Woran könnten Sie dann erkennen, dass es Weihnachten wird? Blöde Frage, denken Sie jetzt vielleicht. Es weihnachtet schließlich hierzulande dermaßen zeitig und heftig, dass man gar nicht daran vorbei kommt – von den Gebäck-Stapeln in den Supermärkten kurz nach den Sommerferien bis zum Einschalten der kompletten Weihnachtsbeleuchtung gleich am Montag nach dem Totensonntag! Da müsste doch spätestens heute am zweiten Advent auch der unaufmerksamste Zeitgenosse bemerkt haben, was die Stunde geschlagen hat. Die Zeichen der Zeit sind so eindeu­tig, dass man Weihnachten gar nicht verpassen könnte, selbst wenn man es wollte.

Auch im heutigen Predigttext geht es um Zeichen: Zeichen der Ad­ ventszeit, Zeichen für die nahende Ankunft Jesu. Aber diese Zeichen haben mit Zimt- und Kerzenduft herzlich wenig zu tun. Ich lese ei­nen Abschnitt aus Matthäus 24:

Die Jünger traten zu Jesus und sprachen: „Sage uns, was wird das Zeichen sein für dein Kommen und für das Ende der Welt?“

Jesus antwortete ihnen: „Seht zu, dass euch nicht jemand verführe. Denn es werden viele kommen unter meinem Namen und sagen: Ich bin der Christus, und sie werden viele verführen. Ihr werdet hören von Kriegen und Kriegsgeschrei; seht zu und erschreckt nicht. Denn das muss so geschehen; aber es ist noch nicht das Ende da. Denn es wird sich ein Volk gegen das andere erheben und ein Königreich gegen das andere; und es werden Hungersnöte sein und Erdbeben hier und dort. Das alles aber ist der Anfang der Wehen. Dann wer­den sie euch der Bedrängnis preisgeben und euch töten. Und ihr wer­det gehasst werden um meines Namens willen von allen Völkern. Dann werden viele abfallen und werden sich untereinander verraten und werden sich untereinander hassen. Und es werden sich viele falsche Propheten erheben und werden viele verführen. Und weil die Ungerechtigkeit überhand nehmen wird, wird die Liebe in vielen erkalten. Wer aber beharrt bis ans Ende, der wird selig werden. Und es wird gepredigt werden dies Evangelium vom Reich in der ganzen Welt zum Zeugnis für alle Völker, und dann wird das Ende kommen.“

Wie gesagt: auch hier ist vom Advent die Rede, von den Zeichen der Ankunft Jesu. Aber es weihnachtet ganz und gar nicht in diesem Ad­vent. Denn Jesus kommt hier nicht, um uns das schönste Fest des Jahres zu bescheren, sondern er kommt zum Gericht über die Leben­den und die Toten. Wenn wir Christen von Advent sprechen, dann gehört dieser Aspekt immer dazu. Ursprünglich stand er sogar im Mittelpunkt; deshalb war die Adventszeit eine Buß- und Fastenzeit: Vorbereitung auf das Weltende und auf die Begegnung mit Christus, dem Weltenrichter.

Nun könnte man natürlich sagen: Okay, das war einmal. Wer rechnet schon noch ernsthaft damit, dass morgen die Welt untergehen und das Jüngste Gericht anbrechen könnte? Deshalb geht es doch wohl in Ordnung, wenn wir die Adventszeit zur Weihnachtszeit umfunk­ tioniert haben. Schließlich braucht man doch was Helles, Süßes und Warmes in dieser kalten und dunklen Jahreszeit. Schön und gut. Aber unter all der Glühwein- und Lebkuchenseligkeit bleibt irgend­wie ein gewisses Unbehagen. Und dieses Unbehagen hat durchaus Hand und Fuß; denn die Zeichen der Zeit, die der Bibeltext nennt, die sind ja so aktuell wie eh und je. Ja, sie sind wohl aktueller als je zuvor.

Kriege und Kriegsgeschrei“? Davon hallt die Welt wieder: nicht nur in Syrien, wo gerade alle hinschauen, sondern noch an vielen ande­ren Orten, die gerade nicht in den Nachrichten vorkommen. Das war schon immer so. Aber heute wird die Lage immer verworre­ner. Kei­ner hat mehr die Übersicht, wer wo gegen wen kämpft und warum. Keiner weiß mehr, wie man Kriege beenden kann, bevor mindestens ein Gegner völlig am Boden liegt. Und keiner weiß Rat gegen Terroris­ten, die ihren Krieg jederzeit an jeden Ort der Erde tragen können.

Hungersnöte“? Die waren tatsächlich schon mal verheerender als im Moment. Und doch gibt es immer noch die Fernsehbilder von den ausge­mergelten Kindern mit den aufgequollenen Bäuchen. Und die Probleme bleiben immens: Noch nie musste die Erde gleichzeitig sieben Milliarden Menschen ernähren und noch nie war die Kluft zwischen reich und arm so groß. Auch hierzulande wächst sie, und doch ist sie klein im Vergleich zu der Kluft zwischen unserem Wohl­stand und dem Elend anderswo auf der Welt. Es sollte uns nicht wun­dern, dass immer mehr Menschen es dort nicht mehr aushalten und sich trotz aller Gefahren auf den Weg ins reiche Europa machen.

Erdbeben“? Naturkatastrophen? Auch davon haben wir reichlich: Erdbe­ben in Italien, Überschwemmung in Bangladesh, Wirbelsturm in Haiti, Dürre in Afrika. Gab es auch alles schon immer. Aber je mehr wir Menschen die Natur misshandeln, desto verheerender wir­ken sich solche Katastrophen aus. Nicht nur notorische Pessimisten sind heute der Meinung, dass das ökologische Gleichgewicht der Erde schon unwiderruflich zerstört ist. Ganz zu schweigen davon, was passiert, wenn wir weiterhin nur halbherzig dagegen angehen.

Und Christenverfolgungen? Wir können uns nicht beklagen, aber in über fünfzig Ländern der Erde werden Christen brutal unterdrückt und müssen oft um ihr Leben fürchten. So viele waren es noch nie. Aber es gab weltweit auch noch nie so viele Christen. Heute wird tatsächlich allen Völkern auf der ganzen Welt das Evangelium gepre­digt. Auf der anderen Seite war aber auch das Angebot der Konkur­renz noch nie so groß. Für jedes religiöse Bedürfnis gibt es die passen­den Erlöser und Propheten mit den passenden Heilslehren. Inzwischen gibt es sogar so etwas wie Gottesdienste für Atheisten. Kommt nun tatsächlich bald das Ende?

Das alles sind Zeichen der Zeit. Adventszeichen im Sinne des Predigt­textes, wenig weihnachtlich, aber sehr nah und sehr bedrän­gend. Die Frage ist nur: Was fangen wir mit diesen Zeichen an?

Jesus beginnt die Rede an seine Jünger mit den Worten: ,,Seht zu, dass euch nicht jemand verführe.“ Und das möchte ich aufgreifen. Ich verstehe diesen Satz als eine Ermahnung zur Vorsicht, und sie durchzieht den ganzen Text. Denn der nennt wohl die Zeichen der Zeit. Aber er warnt auch immer wieder, daraus vorschnelle Schlüsse zu ziehen: ,,Das ist noch nicht das Ende“, heißt es da, ,,das ist erst der Anfang“, ,,danach erst kommt das Ende“. Und später kommt noch die Ermahnung: ,,Seid wachsam, denn ihr wisst weder Tag noch Stunde.“ Und deshalb gilt: Jeder, der es ganz genau zu wissen behauptet, womöglich mit exaktem Datum, der ist ein falscher Pro­phet, ein Verführer. Und verführen lässt sich auch jeder, dem alles egal ist, weil sowieso bald alles den Bach runter geht. Denn das ist ja noch nicht gesagt. Dass die Welt, wie wir sie kennen, eines Tages untergeht, das können wir uns heute wieder vorstellen. Aber ob das auch tatsächlich eintritt und, wenn ja, wann und wie, das wissen wir nicht und können es auch nicht wissen. Darin sind sich die Bibel und der gesunde Menschenverstand völlig einig.

Aber was bedeuten dann die Zeichen des Advents, von denen Jesus spricht? Ich glaube, sie zeigen uns vor allem eines, nämlich wie bitter nötig der Advent ist. Sie zeigen, was passiert, wenn Gott nicht zu uns in diese Welt kommt. Sie zeigen, was passiert, wenn er uns unserem Schicksal überlässt. Dann gibt es kein Ende der Spirale von Gewalt und Gegengewalt, kein Mittel gegen das Auseinanderklaffen von Reichtum und Elend, keinen Ausweg aus der fortschreitenden Zerstö­rung unserer Lebensgrundlagen. Dann hängt die Zukunft unse­rer Welt allein von unseren Friedensbemühungen, unserem sozia­len Engagement und unserem Umweltbewusstsein ab. Und wenn das so ist, dann gute Nacht!

Aber nun gehört es ja zu den Überzeugungen des christlichen Glau­bens, dass es diesen Advent gibt. „Unser Herr kommt!“ Das ist eines der ältesten Bekenntnisse der Christenheit. Gott kommt zur Welt – darum geht es, wenn wir von Advent reden. Er kommt zur Welt als hilfloser Säugling im Futtertrog von Bethlehem. Und er kommt zur Welt als machtvoller Richter über alles Recht und Unrecht dieser Welt. Das Kind in der Krippe und der Richter auf dem Thron – zwei Bilder, die verschiedener nicht sein könnten. Und doch ist es beide Male der gleiche Gott, der zu uns kommt. Darin liegen die Zumutung und das Geheimnis unseres Glaubens. In dem Menschen Jesus begeg­net uns der allmächtige Gott und schafft die Trennung zwi­schen Himmel und Erde aus der Welt. Und in dem allmächtigen Welten­richter begegnet uns kein anderer als der Mensch Jesus, für den die Liebe der Maßstab der Gerechtigkeit ist. Wenn das so ist, dann müssen wir nicht wie gebannt auf die Zeichen der Zeit und ihre Schrecken starren. Wir müssen auch nicht auf die hören, die behaup­ten, dass es nur mehr Zäune, mehr Abschiebungen und mehr Zollschran­ken braucht, damit die Übel der Welt vor der Tür bleiben und alles wieder so gut wird, wie es früher war – angeblich jeden­falls. Und wir müssen erst recht nicht das, was uns Angst macht, müh­sam durch ein bisschen Weihnachtsstimmung übertünchen. Son­dern wir können den Zeichen der Zeit ins Auge sehen, weil wir wis­sen, dass nicht sie das letzte Wort über unsere Welt sprechen. Dieses Wort spricht der Gott, der uns in Jesus ganz nahe gekommen ist und uns nahe bleibt, bis er kommt in Herrlichkeit. Wohl dem, der darauf hoffen und war­ten kann. Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein