Predigt Tal- und Wenschtkirche, 11. Oktober 2015

GOTTESDIENST FÜR DEN NEUNZEHNTEN SONNTAG NACH TRINITATIS

 

Text: Joh 5,1-16

Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem.

Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebrä­isch Betesda. Dort sind fünf Hallen, in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte. Es war aber dort ein Mensch, der lag achtunddreißig Jahre krank. Als Jesus den liegen sah und vernahm, dass er schon so lange gelegen hatte, spricht er zu ihm: „Willst du gesund werden?“ Der Kranke antwortete ihm: „Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich be­wegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hin­ein.“ Jesus spricht zu ihm: „Steh auf, nimm dein Bett und geh um­her!“ Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging umher.

Es war aber an dem Tag Sabbat. Da sprachen die Juden zu dem, der gesund geworden war: „Es ist heute Sabbat; du darfst dein Bett nicht tragen.“ Er antwortete ihnen: „Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh umher!“ Da fragten sie ihn: „Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh umher?“ Der aber gesund geworden war, wusste nicht, wer es war; denn Jesus war entwichen, da so viel Volk an dem Ort war. Danach fand ihn Jesus im Tempel und sprach zu ihm: „Siehe, du bist gesund geworden; sündige hinfort nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimme­res widerfahre.“ Der Mensch ging hin und berichtete den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe. Darum verfolgten die Juden Jesus, weil er dies am Sabbat getan hatte.

Achtunddreißig Jahre – das ist eine verdammt lange Zeit! Würde die Geschichte heute spielen, wäre der Mann seit 1977 krank gewesen. Da war mancher, der heute hier ist, noch gar nicht geboren, und die anderen erinnern sich, dass das damals noch eine ganz andere Welt war – ohne Internet, Handy und „Islamischen Staat“, dafür mit Selbst­schussanlagen an der deutsch-deutschen Grenze und RAF-Terror.

Achtunddreißig Jahre liegt er da also schon auf seiner Matte am Teich Betesda – in einer der fünf Säulenhallen, die das große Wasserbe­cken umgeben und in der Mitte teilen. Liegt dort zwischen anderen Gelähmten, Blinden, Krebskranken. Liegt dort und wartet auf ein Wunder. Denn das ist das Geheimins des Teiches, das sie alle anzieht: Von Zeit zu Zeit bewegt sich das Wasser: es sprudelt und schlägt Wellen, aber schon bald ist es wieder vorbei. Wer es rechtzei­tig vorher ins Wasser schafft, so heißt es, der wird gesund.

Heute können die Geologen das Phänomen erklären: Offenbar wurde der Teich außer durch Regenwasser auch durch eine unterirdi­sche Quelle gespeist, die nur gelegentlich überlief und Was­ser von sich gab. So etwas kommt in und um Jerusalem häufiger vor. Damals hatte man allerdings eine andere Erklärung: Es ist ein Engel Gottes, der von Zeit zu Zeit herabsteigt und den Teich in Bewegung bringt, und das verleiht dem Wasser heilende Kraft.

Aberglaube, sagt der gebildete Mensch von heute. Aber seien wir nicht überheblich: Mit angeblich heilsamen Wässerchen wird bei uns immer noch viel Geld verdient – auch, weil viele Stein und Bein darauf schwören, dass es ihnen wirklich geholfen habe. Nicht an­ders war es damals auch. Und was hatten chronisch Kranke und Behinderte denn sonst für eine Chance? Also kamen sie von überall her in Scharen zum Teich Betesda, starrten aufs Wasser und hofften, irgendwann bei den Glücklichen zu sein, die schnell genug drin sind.

Gelähmte hatten da natürlich schlechte Karten. Es sei denn, sie la­gen direkt am Beckenrand und konnten sich hineinplumpsen lassen. Oder sie hatten Leute, die sie im richtigen Moment zum Wasser trugen. Aber beides ist dem Kranken in unserer Geschichte nicht vergönnt. Er liegt zu weit weg, und er hat keinen Menschen. Und so passiert für ihn 38 Jahre lang gar nichts. Langsam wird er alt und immer schwächer, und sicher hat er längst aufgegeben. Für andere mag es hier ja Heilung geben, aber nicht für ihn. Immerhin versorgt man ihn notdürftig mit Essen und Trinken. Also bleibt er dort – wo soll er auch hin? Und er rechnet damit, seine Tage am Teich Betesda zu beschließen.

Aber dann passiert doch etwas. Da kommt einer, schaut ihm ins Gesicht und sagt: „Willst du gesund werden?“ Blöde Frage, hat der Kranke wahrscheinlich gedacht, warum bin ich denn wohl hier? Aber dann hat er sich vielleicht gefragt: Will ich denn wirklich noch ge­sund werden? Ich hab mich doch längst damit abgefunden, dass daraus nichts wird. Ich versuch doch schon gar nicht mehr, zum Was­ser zu kommen, wenn es sich bewegt. Es hat ja eh keinen Zweck! Und immerhin ist das hier für einen alten Krüppel wie mich ein besserer Ort als jeder andere. Also antwortet er auf die Frage nicht mit Ja und nicht mit Nein, sondern schildert einfach seine Lage. Damit ist doch wohl alles gesagt, oder?

Nicht, wenn der Fragesteller Jesus heißt. Der will anscheinend gar nicht unbedingt ein Ja oder Nein hören. Es geht ihm also gar nicht darum, dass zum Gesundwerden auch der nötige Wille gehört. Wich­tig ist nur, dass er den Kranken heilen will. Also befiehlt er: „Steh auf, nimm dein Bett und geh umher“, und sogleich geschieht es. Später wird er dazu sagen: „Mein Vater wirkt bis auf diesen Tag, also wirke ich auch.“ (V.17) Mit anderen Worten: Gott will in Jesus den Menschen Heil und Leben bringen. Also geschieht es auch, und die wunderbare Heilung eines Gelähmten nach 38 Jahren ist ein Zeichen dafür.

Schauen wir zwischendurch mal auf uns: Finden wir uns wieder in dieser Geschichte? Schleppen wir womöglich auch seit 38 Jahren und länger Dinge mit uns herum, die uns fesseln und lähmen – unbewäl­tigte Schuld vielleicht, alte Kränkungen und Verletzungen, Eigenschaften, die wir an uns hassen, oder Versagensängste, die unser Selbstvertrauen klein halten? Wenn es so ist, dann denken wir vielleicht auch: Eigentlich müsste ich das alles mal loswerden. Ins Wasser springen und geheilt wieder rauskommen. Den ganzen Bal­last abwerfen und wieder aufrecht durchs Leben gehen. Aber ich habe ja keinen Menschen! Keinen jedenfalls, dem ich mein Innerstes offenbaren könnte. Denn gerade meinen Allernächsten, meinem Eheparner, meinen Eltern, meinen Kindern, meinen besten Freun­den, habe ich vielleicht ein ganz anderes Bild von mir vermittelt als ich es im Herzen trage. Und es wäre entsetztlich peinlich und beschä­mend, wenn ich ihnen zeigen würde, wie es tatsächlich in mir aussieht. Also versuche ich es erst gar nicht.

Und wenn da nun einer käme und fragte: „Willst du gesund wer­den?“ Nun, wollen würde ich schon wollen, aber können könnte ich nicht. Also müsste eher einer kommen, der von sich aus will, dass ich gesund werde, und der auch die Macht dazu hat, dass es gelingt. Jesus Christus hat diese Macht, die Macht Gottes, seines Vaters im Himmel. Er heilt auch hoffnungslose Fälle, und er heilt sie wirklich. [Er sieht unser Herz an, wie es Leons Taufspruch sagt.] Er kann Schuld vergeben. Er kann mir helfen Verletzungen zu überwin­den und mich so anzunehmen, wie ich bin, auch mit meinen Fehlern und Schwächen. Ich muss ihn nur lassen. Und dann kann ich wieder be­freit durchs Leben gehen.

„Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett ging umher.“ Damit könnte die Geschichte zu Ende sein. Sie ist es aber nicht, denn jetzt haben die Erbsenzähler ihren Auftritt. Da kann ein Mensch nach 38 Jahren wieder laufen, und das einzige, was ihnen dazu einfällt, ist: „Der trägt am Sabbat sein Bett – das ist doch verbo­ten!“ Da schickt Gott wirklich mal einen, nicht nur einen Engel, sondern seinen Sohn. Und der bringt nicht nur Wasser in Bewegung, sondern einen Menschen, der sich längst aufgegeben hat. Aber statt Gott dafür zu loben und zu preisen, verklagen sie seinen Heiler we­gen Anstiftung zu verbotener Tätigkeit am Sabbat, Fallgruppe 39: Tragen eines Gegenstands über längere Strecken. Wie kann man nur so borniert und kleinkariert sein!

Aber kennen wir das nicht auch? Auch heute gilt Gottes Liebe uneinge­schränkt und jederzeit allen Menschen, und doch gibt es Leute, die meinen, man müsse dieser Liebe Bedingungen stellen und sie in Vorschriften pressen. Ehe ich einem Flüchtling Liebe erweise, sagen die dann zum Beispiel, muss ich erst mal wissen, ob der denn wirklich vor Krieg und Verfolgung geflohen ist und ob der auch kein böser Islamist ist, der seine Frau unters Kopftuch zwingt und in Deutschland die Scharia einführen will. Oder sie sagen: Ein Mensch ist für mich nur ein Christ, wenn er erstens eine Bekehrung nachwei­sen kann und zweitens einen Lebenswandel führt, der dem ent­spricht, was ich unter einem christlichen Lebenswandel verstehe. Oder sie sagen: Gott kann doch nicht einfach so Menschen retten und ihnen das ewige Leben schenken – die müssen doch auch irgend­was dafür getan haben!

Nun, bei dem Gelähmten vom Teich Betesda jedenfalls gab es all diese Bedingungen nicht. Jesus hat sich nicht erst mal erkundigt, ob der Mann da wirklich schon so lange lag und ob es nicht noch hoff­nungslosere Fälle gab. Er hat nicht danach gefragt, ob der Mann denn auch ein gläubiger und rechtschaffener Israelit war. Er hat nicht gedacht: „Oh, heute ist Sabbat! Darf ich das dann überhaupt? Und kriegt der Mann auch keinen Ärger?“ Und er hat auf seine Frage „Willst du geheilt werden?“ noch nicht mal ein klares „Ja, ich will“ abgewartet. Nein, er hat diesen Mann einfach geheilt. Weil er das wollte und weil es dem Willen seines Vaters im Himmel ent­sprach. Und erst dann fordert er ihn auf: „Sündige hinfort nicht mehr!“ So und nicht anders wird auch uns allen Gottes Liebe zuteil. So und nicht anders sollten wir sie also auch weitergeben – an alle, die sie nötig haben. Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein