Predigt Tal- und Wenschtkirche, 06. September 2015

Text: Lk 17,11-19

Und es begab sich, als Jesus nach Jerusalem wanderte, dass er zwi­schen Samarien und Galiläa hin zog. Und als er in ein Dorf kam, begeg­neten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne und erhoben ihre Stimme und sprachen: „Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser!“ Und als er sie sah, sprach er zu ihnen: „Geht hin und zeigt euch den Priestern!“ Und es geschah, als sie hingingen, da wur­den sie rein. Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund gewor­den war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter. Jesus aber antwortete und sprach: „Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde?“ Und er sprach zu ihm: „Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen.“

Undank ist der Welt Lohn! Zehn Aussätzige haben Jesus um Hilfe angefleht – Ausgestoßene, Todgeweihte, ja, lebendig Begrabene alle­samt. Jesus war ihre letzte, ihre einzige Hoffnung. Und sie wur­den nicht enttäuscht: Alle zehn wurden geheilt, konnten zurückkeh­ren in die Gemeinschaft der Lebendigen. Aber nur einer fand den Weg zu­rück zu Jesus und bedankte sich, und der war auch noch ein Auslän­der!

„Nun sag aber auch schön danke!“ – das haben wir von klein auf verinnerlicht. Also sind wir entrüstet: Wie können diese geheilten Aussätzigen nur so undankbar sein? Aber andererseits kennen wir das ja: Da hat man drei, vier, fünf Kin­der großgezogen, aber wenn sich eins davon um einen kümmert, wenn man alt und krank wird, hat man Glück gehabt. Da hat man nach dem Krieg dieses Land mit aufgebaut, für wenig Geld gerackert und ge­schuftet, und jetzt kom­men die Jungen, setzen sich ins gemachte Nest und gönnen einem die Rente nicht. Da schnüren wir ein „Ret­tungspaket“ nach dem anderen für Griechenland, und trotzdem ver­unzieren diese Griechen auf ihren Demos Schäuble oder Merkel mit Hitlerbärtchen. Also, Jesus, wir können deine vorwurfsvollen Fragen gut verstehen und können dir nur empfehlen, dir die Leute, die du gesund machst, vor­her besser anzusehen! Und du, dankbarer Sama­riter, bestätigst uns in dem Ur­teil, dass man sich je­denfalls von be­stimmten Ausländern durchaus eine Scheibe ab­schneiden kann.

Trotzdem schade, dass die neun anderen in der Geschichte gar nicht mehr zu Wort kommen. Denn die würden die Sache wohl ganz an­ders sehen. „Moment mal“, würden sie sagen, „da gibt es einiges zurechtzurücken:

Erstens haben wir genau das gemacht, was Jesus uns gesagt hat. Wir sind hingegangen und haben uns den Priestern gezeigt. Und wenn ihr mal die entsprechenden Vorschriften in 3. Mose 14 gelesen hät­tet, dann wüsstet ihr, was für eine umständliche Prozedur das ist: Einen Priester, der gerade dienstfrei hat, findet man ja vielleicht noch am Ort. Aber für die Sünd- und Brand- und Schuldopfer, die man darzu­bringen hat, um als rein anerkannt zu werden, muss man nach Jeru­salem, in den Tempel. Die Reinigungsfrist dauert sieben Tage und die Reise nach Jerusalem hin und zurück noch mal so lang. Das alles hat dieser Luftikus von Samariter sich einfach gespart. Und er soll uns nicht erzählen, dass er nichts davon wusste. Schließlich lesen die Samariter auch die Tora.

Zweitens verwahren wir uns gegen den Vorwurf, dass wir undank­bar sind. Denn schließlich haben wir uns die Opfertiere, die wir Gott dargebracht haben, einiges kosten lassen. Und natürlich gehören zu den Opferfeiern auch umfangreiche Dankgebete – schaut mal in die Psalmen, die sind voll davon! Und ihr dürft uns schon glauben: Nie war es uns mit diesen Dankgebeten so ernst wie nach unserer wun­derbaren Heilung. Außerdem haben wir im Gegensatz zu diesem ahnungslosen Samariter unseren Dank an der richtigen Stelle abge­stattet: nämlich beim Herrn, dem Gott Israels, an dem Ort, den er zu seiner Wohnung erwählt hat. Schließlich kann nur er Kranke heilen und Sünder rein machen. Stattdessen vor einem Menschen niederzu­fal­len, als ob er Gott wäre, wie dieser Samariter – das ist ge­schmacklos, wenn nicht lästerlich. Natürlich hätten wir uns auch noch bei Jesus bedankt – auf geziemende Weise, versteht sich. Aber als wir zurück­kamen, war er längst weiter gezogen, und wir haben ihn nicht mehr wieder gesehen, denn kurz drauf war er tot.

Fazit: Nur weil wir uns korrekt verhalten haben, stehen wir jetzt als undank­bares Pack da. Das finden wir nicht in Ordnung. Wir werden ge­richtlich erwirken, dass Lukas in seinem nächsten Evangelium eine Gegendarstellung schreiben muss.“

Nun, diese Gegendarstellung wurde natürlich nie geschrieben. Und der Makel der Undankbarkeit blieb bis heute an den neun anderen Geheilten haften. Aber ich glaube, mangelnde Dankbarkeit ist tat­sächlich nicht das, was man ihnen vorwerfen muss. Ihr Problem ist vielmehr, dass sie nicht erkennen, wen sie in Jesus wirklich vor sich haben. Sie reden ihn mit „lieber Meister“ an – das ist eine ehren­volle Anrede, aber sie trifft nicht den Punkt. Sie wissen nicht, dass sie in Jesus Gott in Person vor sich haben und dass damit alle altherge­brachten Bräuche und Überlieferungen überboten werden, so gut und richtig sie auch waren. Auch der Samariter weiß das nicht, als er Jesus um Erbarmen bittet. Aber als er geheilt ist, sieht er plötzlich klar – vielleicht gerade deshalb, weil er eben kein frommer Israelit war, dem Herkommen und Tradition die Sicht verstellte.

Natürlich ist das alles aus der Warte derer erzählt, denen der aufer­standene Christus begegnet ist und die deshalb glauben, dass Gott in Jesus Mensch geworden ist. Erst von Ostern her konnte man das Neue wirklich erfassen, das mit Jesus in die Welt gekommen war. Aber damit rückt die Geschichte uns auch näher, als wenn sie eine historische Begebenheit aus dem Leben Jesu schildern würde. Denn wir leben vom Standpunkt des Glaubens aus betrachtet immer noch in der gleichen Situation wie Lukas, als er sein Evangelium schrieb. Auch für uns geht es darum, nicht nur irgendwie „dankbar“ zu sein, sondern zu erkennen, wem wir alles verdanken, was wir sind und haben.

Denn durchaus viele Menschen, die ich treffe, sprechen von Dank­barkeit, wenn sie auf ihr Leben zurückblicken oder ihre gegenwär­tige Situation bedenken. Hier im friedlichen, wohlhabenden Deutsch­land haben die meisten ja auch allen Grund dazu. Und nicht wenige von ihnen machen ihre Dank­barkeit auch an „Gott“ fest. Das ist gut so. Aber die Geschichte von den zehn Aussätzigen fordert uns auf, unse­ren Dank an eine noch konkretere Stelle zu richten. Alles, wofür wir hier in diesem Leben dankbar sind – sei es Frieden, sei es Gesund­heit, sei es materielles Wohlergehen, sei es Bewahrung vor Gefahren, seien es Menschen, die uns nahe stehen – alles das wäre nichts wert, wenn zwischen Gott und uns nicht alles im Reinen wäre. Und dass zwischen Gott und uns alles im Reinen ist, dass uns nichts von ihm trennen kann, das verdanken wir weder unserer eige­nen Tüchtigkeit noch irgendeiner ominösen göttlichen Vorse­hung, sondern einzig und allein Jesus Christus, dem Mensch geworde­nen Gott. Uns an ihn zu wenden und ihm bedingungslos zu vertrauen, das allein ist der Glaube, der uns helfen kann.

Und was ist mit der Dankbarkeit, zu der wir uns so gern gegenseitig anhalten? Nun, wenn wir uns bewusst machen, wie sehr wir alles Jesus Christus verdanken, dann können wir, glaube ich, endlich auf­hören, über den Undank der Welt zu jammern. Denn dann wird das, was wir für andere tun, immer ein Ausfluss dessen sein, was Gott in Christus für uns getan hat. Das Gute, das wir tun, ist unser Dank an Gott. Wenn dann auch noch Menschen uns danken, weil wir ihnen etwas Gutes getan haben, ist das schön, und wir dürfen uns ehrlich daran freuen. Auf Floskeln wie „da nicht für“ oder „war doch nicht der Rede wert“ können wir dann auch getrost verzichten. Aber wenn der Dank aus­bleibt, muss uns das nicht ärgern oder verbittern, denn wir sind auf diesen Dank nicht angewiesen. Es war richtig, dass Jesus die zehn geheilt hat, auch wenn es ihm nur einer gedankt hat, denn es war das, was er von Gott her tun musste. So sollten wir es auch hal­ten: tun was nötig ist und uns das „nun sag aber auch Danke“ ver­kneifen. Denn, so sagte es der Schriftsteller Jeremias Gotthelf, „Dankbarkeit ist eine gar wunderliche Pflanze; sobald man ihr Wachstum erzwingen will, verdorrt sie.“ Und noch ein Tipp: Wer selbst das Danke sagen nicht vergisst, der wird wahrscheinlich auch öfter Dank zu hören bekommen. Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein