Predigt, Sonntag, 12. April 2015, Talkirche

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG QUASIMODOGENITI

Text: Joh 20,19-23

Am Abend aber dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger ver­sammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Ju­den, kam Jesus und trat mitten unter sie und spricht zu ihnen: „Friede sei mit euch!“ Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen. Da sprach Jesus abermals zu ihnen: „Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.“ Und als er das gesagt hatte, blies er sie an und spricht zu ihnen: „Nehmt hin den heiligen Geist! Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlas­sen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.“

Sie haben sich eingeigelt, die Jünger. Sie sitzen hinter verschlossenen Tü­ren und haben Angst. Angst vor „den Juden“, sagt der Evangelist und setzt dabei die Verhältnisse seiner eigenen Zeit voraus, als Juden und Christen schon klar voneinander getrennt waren und sich feind­selig gegenüberstan­den. Damals kann es höchstens die Angst vor bestimmten Juden gewissen sein: den Hohenpriestern und ihrer Tempelwache, die Jesus verhaftet hatten – und natürlich Angst vor den Römern, die ihn als Aufrührer gekreu­zigt hatten. Angst, dass man sie auch noch abholen würde. Angst, genauso am Kreuz zu enden wie ihr Herr und Meister. Dabei hatten sie objektiv wahrscheinlich gar nichts zu fürchten. Schließlich hatte man sie laufen lassen damals im Garten Getsemane. Man ging wohl davon aus, dass die Jesus-Bewe­gung sich von selbst erledigen würde, sobald man ihren charismati­schen Anführer unschädlich gemacht hatte. Und danach sah es ja auch aus: von diesem verschreckten und verzagten Häuflein drohte der Besatzungsmacht und ihren Kollaborateuren keine Gefahr mehr. Trotzdem: Subjektiv ist die Angst der Jünger echt. Sie drückt nieder und lähmt. Sie lässt schwarzsehen für die Zukunft.

Dabei haben sie die Botschaft von der Auferstehung schon gehört: Petrus und der namentlich unbekannte „Jünger, den Jesus lieb hatte,“ haben bestätigt gefunden, was Maria von Magdala ihnen berichtet hat: Das Grab war tatsächlich leer, und zumindest der Lieblingsjünger hat daraus die richtigen Schlüsse gezogen. Und gerade erst war Maria Magdalena noch einmal da und hat erzählt: „Ich habe den Herrn gesehen und mit ihm gespro­chen.“ Sie haben es zur Kenntnis genommen, die Jünger, aber die Angst ist geblieben. Die gefühlte Bedrohung erscheint viel realer als der tatsächliche Grund zur Freude.

Sie erinnern mich sehr an die Christen unserer Tage, diese Jünger, und zwar gerade an die Frommen unter ihnen, zu denen ich mich selber zähle. Auch wir verkriechen uns gern hinter verschlossene Türen, in unsere vertrau­ten Kreise, in die Geborgenheit von Gleichgesinnten, in un­sere gewohnten Glaubens- und Lebensbahnen. Und die Welt da draußen macht uns Angst mit ihren ständigen und immer rascheren Veränderun­gen, mit ihrer Unübersichtlichkeit, mit ihrer schwinden­den Rücksicht auf unsere Traditionen und Werte. Wie sollen wir da mit unserer Botschaft noch ankommen? Wie sollen wir Menschen, die mit allem möglichen beschäf­tigt sind, nur nicht mit Gott, noch für den Glauben an Jesus Chris­tus gewinnen? Wie sollen wir die Lücken in unseren Reihen noch füllen? Wie soll es unter Christen noch ver­bindliche Gemeinschaft geben, wenn jeder nur macht, was er will und wozu er Lust hat?

Wahrscheinlich ist auch unsere Angst unbe­gründet. Wahrscheinlich stimmt das Bild von der Welt gar nicht, das wir uns da machen. Wahrschein­lich ist unter der ablenkenden Oberfläche die Sehnsucht nach Gott und nach wirklich erfülltem Le­ben heute mindestens genauso groß wie eh und je – wenn nicht sogar viel größer. Und auch wir haben die Bot­schaft von der Auferstehung doch längst vernommen. Wir wissen doch eine Ant­wort auf die Fragen, die die Menschen umtreiben – wenn nicht sogar die Antwort überhaupt. Aber trotzdem werden wir unsere Angst nicht los. Angst, dass uns keiner zuhört. Angst, dass man uns auslacht. Angst, dass wir uns und unseren Glauben verlieren im rauen Wind der Wirklichkeit. Wie kommen wir da heraus?

Die Antwort lautet: Wir kommen gar nicht raus! Erst muss mal je­mand zu uns hineinkommen: „Als die Jünger versammelt und die Türen verschlos­sen waren, kam Jesus und trat mitten unter sie und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch!“ Gott sei Dank lässt Jesus sich von den verschlossenen Türen nicht abhalten. Er durchbricht den Panzer unserer Angst und spricht uns sein Heil, seinen Frieden zu. Er kommt selbst, und mit ihm kommt die große Freude, die Augen­schein und Hörensagen nicht bewirken konnten.

Es tröstet mich, das zu wissen: Wir können uns einigeln und ab­schotten, wie wir wollen, aber wir können nicht verhindern, das Jesus trotzdem zu uns kommt. Er kommt zu uns im Wort der Bibel. Er kommt zu uns im Was­ser der Taufe. Er kommt zu uns in Brot und Wein beim Abendmahl. Er ist mitten unter uns, wenn wir uns in sei­nem Namen versammeln. An jenem Sonntagabend in Jerusalem ge­schah das zum ersten Mal – sozusagen der erste christliche Gottes­dienst. Und seitdem geschieht es immer wieder, nicht nur sonntags, sondern auch werktags, und auch an diesem Sonntagmor­gen hier in der Talkirche. Jesus Christus ist hier! Er will unsere Angst in Mut und Zuversicht verwandeln, unsere Trauer in Freude, unsere Trägheit und Müdigkeit in Begeisterung. Und dann schließt er unsere ver­schlossenen Türen von innen auf. Er öffnet sie weit. Er lässt seinen guten heiligen Geist wehen. Er sorgt dafür, dass er uns ordentlich durchpustet und wachrüttelt, so dass wir tief durchatmen und uns auf den Weg ma­chen können: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch!“

Johannes, der Evangelist, lässt hier Ostern und Pfingsten auf einen Tag fallen und zeigt damit, wie eng beides zusammengehört. Jesus lebt, in ihm hat Gott den Tod besiegt, und das verwandelt die Welt. Zuerst verwandelt es seine Jünger, macht aus verzagten Angsthasen mutige Bekenner. Dann verwandelt es die Menschen, denen sie be­gegnen und sie mit ihrer Begeiste­rung anstecken. Und schließlich verwandelt sich alles, wenn Men­schen, vom Geist Gottes befreit, zu leben beginnen.

Möge das auch bei uns geschehen. Möge Gott auch die Türen unse­rer Kirchen und Gemeindehäuser weit öffnen – erst mal nicht, damit Men­schen von draußen hineinkommen, sondern damit wir zu ihnen hinausge­hen. Damit wir merken: Die sind ja gar nicht so, wie wir hinter unseren Türen immer dachten. Die wollen uns gar nichts, und wir sind ihnen auch nicht egal, sondern sie warten auf uns – genauer gesagt: nicht auf uns, sondern auf das, was wir ihnen weitergeben und vorleben können: auf den Glauben, den wir ihnen nahe bringen, auf die Liebe, die wir ihnen erweisen, auf die Hoffnung, die wir in ihnen wecken. Wir müssen sie nicht vor dem Verderben retten – dafür hat Gott längst alles getan. Aber an uns liegt es, ob das bei ihnen ankommt, ob es auch ihre Lebensangst überwin­det, sie verwandelt und froh macht. Das ist unser Auftrag, dafür tragen wir Verantwortung, und so ver­stehe ich auch den etwas schwierigen letzten Satz des Textes: „Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.“ Ich verstehe das nicht so, als ob wir es in der Hand hätten, einem Menschen Vergebung und Rettung zu- oder abzuerkennen. So hat die katholische Kirche ihr Buß­sakrament lange verstanden, und so geht es auch in manchen frommen evangelischen Kreisen zu. Aber so ist es nicht gemeint. Wir können das Heil Gottes niemandem geben und auch keinem Menschen vorenthalten, wohl aber wir können Gott im Weg stehen, wenn er bei einem Menschen ankommen will – durch unser Reden, durch unser Verhalten, und beson­ders durch den Widerspruch zwischen Reden und Verhalten. Wenn es bei uns so ist, dann haben wir Jesu Auftrag verfehlt. Aber wir müssen nicht die Angst haben, dass Menschen durch unsere Fehler verloren gehen. Denn Gott hat zum Glück noch andere Hände als die unseren.

Zum Schluss noch eine Nachbemerkung: Aufmerksame Zuhörer ha­ben vielleicht bemerkt, dass ich nur über die erste Hälfte des heuti­gen Predigttextes gesprochen habe. Danach kommt noch die Sache mit Thomas, der nicht dabei war, als Jesus zu den Jüngern kam, und der nicht glauben wollte und konnte, ehe er sich mit eigenen Augen und Händen von der Auferstehung Jesu überzeugt hatte. Jesus ge­währte ihm diese besondere Gunst, heißt es, und so konnte schließ­lich auch Thomas zu Jesus „mein Herr und mein Gott“ sagen. Aber die Geschichte von Thomas hilft uns gegen unsere Zweifel gar nichts. Keiner von uns wird während seines irdischen Lebens Jesus mit den eigenen Augen sehen und den eigenen Händen berühren können. Keiner wird auch jemals Jesu Auferstehung so beweisen können, dass der Beweis nach wissenschaftlichen Maßstäben überprüf­bar und damit stichhaltig wäre. Es gibt immer mal wieder fromme Broschüren, die es versuchen, aber sie sind zum Scheitern verurteilt.

Nein, an der Geschichte von Thomas ist nur ein einziger Satz wichtig, und nur deshalb wird sie uns überhaupt erzählt: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ Dieser Satz gilt für uns alle. Denn, so heißt es im Hebräerbrief: „Der Glaube ist eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.“ Selig ist also, wer nicht von sich aus glauben will und dann nur glauben kann, was sichtbar und beweisbar ist. Selig ist, wer er­fährt, dass der Glaube ein Geschenk ist, gegen allen Augenschein. Selig ist, wer erkennt, dass Zweifel den Glauben nicht verhindern oder von einem schwachen Glauben zeugen, sondern zum Glauben dazu gehören. Und selig ist, wer dann trotz aller Zweifel, aller Angst, aller Anfechtung das Bekenntnis des Thomas mitsprechen kann: „Jesus Christus, mein Herr und mein Gott!“

Schluss der Nachbemerkung und Ende der Predigt. Amen.

Pfr. Dr. Martin Klein