Predigt, ökumenischer Gottesdienst zum Wenschter Siedlerfest, Sonntag, 12.06.2016

Text: Lk 10,25-37

Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, prüfte ihn und sprach: „Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“ Er aber sprach zu ihm: „Was steht im Gesetz geschrieben? Wie liest du?“ Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst«. Er aber sprach zu ihm: „Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du le­ben.“ Er aber wollte sich rechtfertigen und sprach zu Jesus: „Wer ist denn mein Nächster?“ Da antwortete Jesus und sprach: „Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester die­selbe Straße hinab zog; und als er ihn sah, ging er vor­über. Desglei­chen auch ein Levit: als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vo­rüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s be­zahlen, wenn ich wiederkomme. Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?“ Er sprach: „Der die Barmherzigkeit an ihm tat.“ Da sprach Jesus zu ihm: „So geh hin und tu desgleichen!“

Wir haben eben als Lesung das Gleichnis vom barmherzigen Samari­ter gehört, und ich soll jetzt darüber predigen. Aber muss ich das eigentlich noch tun? Jeder, der über­haupt noch irgendwas aus der Bibel kennt, hat doch diese Geschichte schon mal ge­hört oder gele­sen, und die meisten, die heute Morgen hier im Gottes­dienst sind, kennen sie wahrscheinlich in- und auswendig. Aber selbst wenn Sie die Geschichte vom „barmherzigen Samariter“ heute zum ersten Mal gehört haben sollten, konnten Sie ihr sicher problem­los folgen – klar und schnörkellos, wie sie formuliert ist. Demnach müsste ich mich jetzt eigentlich nur noch dem Schlusswort Jesu anschließen: „Geht hin und handelt genauso!“ Dann könnten Sie nach Hause ge­hen oder hier weiter Siedlerfest feiern, und am besten gleich damit anfan­gen, Ihren Nächsten mitmenschlich zu begegnen. Wozu noch lange re­den, wenn doch eigentlich klar ist, was wir zu tun haben?

Es gibt da nur ein Problem, und das steckt, wie so oft, in dem Wört­chen „eigentlich“. Denn das, was eigentlich selbstverständlich ist, das tun wir dann eben doch nicht. Beispiel gefällig? Bitte sehr:

Wenn ich mit Konfirmanden über dieses Thema geredet habe, dann habe ich Ihnen öfter mal dieses Foto gezeigt (hochhalten). Da ist ein Mann zu sehen, der irgendwo in einer Fußgän­gerzone auf der Straße liegt. Einfach so. Auf dem Foto ist nicht ein­deutig zu erken­nen, was das für einer ist und warum der da liegt. Es könnte ein Pen­ner sein, der seinen Rausch ausschläft. Es könnte aber auch einer sein, der auf der Straße zu­sammengebro­chen ist und einen Arzt braucht. Es könnte sogar sein, dass jemand diesen Mann zusammenge­schlagen und ausgeraubt hat. Und es ist nicht einmal klar, ob der Mann noch lebt.

All diese Mög­lichkeiten fallen natürlich auch den Konfis ein. Aber interes­sant wurde es immer, wenn ich sie die Szene habe nachspie­len lassen: Einer musste sich auf den Boden legen, und die anderen sollten die zufälligen Pas­santen spielen. Daraus ergab sich in der Regel ein gutes Spiegelbild der Wirklichkeit: Einige machten einen weiten Bogen um den, der am Boden lag. Andere schauten kurz hin und schüttelten dann im Weitergehen den Kopf oder machten eine wegwerfende Handbewegung. Manche lachten drüber, gelegentlich versetzte einer dem, der am Boden lag sogar einen Fußtritt. Und nur selten blieb jemand stehen, beugte sich herunter und fragte: „Kann ich Ihnen helfen?“

Kommt Ihnen bekannt vor, oder? Wahr­scheinlich haben Sie alle schon ähnliche Situationen erlebt. Auch in Geisweid in der Rathaus­straße, auch an einer Bushaltestelle im Wenscht würden wohl die meisten Passanten an jeman­dem, der da liegt, vorbeigehen – darun­ter vielleicht sogar Pfarrer, Presbyter und Pfarrgemeinde­rats­mitglie­der, mit Sicherheit aber jede Menge anständiger Bürge­rin­nen und Bürger. Und sie hätten sicher alle eine passende Ausrede parat: „Keine Zeit!“ – „Dem ist eh nicht zu helfen!“ – „Was sollte gerade ich für den tun können?“ – „Und wenn das nun eine Falle ist?“ – „Es gehen doch genug andere hier vorbei, da muss doch nicht ausgerech­net ich …“ – „Wenn ich dem jetzt helfe, dann hab ich ihn am Hals und werde ihn nicht wieder los!“ Und so weiter.

Was da im Kleinen passiert, das geschieht gerade im Großen in ganz Europa. Da ertrinken jede Woche mehrere Hundert Menschen im Mittelmeer. Oder sterben im syrischen Bürgerkrieg. Oder hausen irgendwo in elenden Flüchtlingscamps – ohne irgendeine Zukunfts­per­spek­tive. Und was machen wir, inzwischen wieder einschließlich Deutschlands? Vorbeigehen. Am besten nicht hinschauen. Grenzen dicht machen. Immer mehr „sichere Herkunftsländer“ kreieren. Und Ausreden erfinden: „Wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen.“ – „Wir dürfen nicht das Geschäft der Schlepperbanden fördern.“. – „Die meisten sind doch nur Wirtschaftsflüchtlinge.“ – „Noch mehr Flüchtlinge, noch mehr Muslime gefährden den inneren Frieden, bedeuten noch mehr Stimmen für die Rechten.“ Und so fort.

Alle diese Ausreden – im Großen wie im Kleinen – laufen auf ein und dasselbe hinaus: Wenn ich so rede, dann habe ich nicht erkannt, dass der Mann auf der Straße, dass der Flüchtling in seinem überfüll­ten Boot mein Nächster ist. Denn ich hätte es gern wie der Schrift­ge­lehrte, mit dem Jesus diskutiert: Ich würde die Welt gern säuberlich in „Nächste“ und „Nicht-Nächste“ unterteilen. Ich wüsste gern gene­rell, wer mein Nächster ist und wer nicht, um wen ich mich küm­mern muss und wen ich anderen überlassen kann. Und noch lieber würde ich mir meine Nächsten aussuchen: meine Fami­lie und meine Freunde na­türlich, vielleicht noch meine Kirchenge­meinde und meine nette Nachbarschaft, eventuell sogar ein paar Hilfsbedürftige, die mir aus irgendwelchen Gründen sym­pathisch sind. Ein nettes Patenkind bei der Kindernothilfe zum Bei­spiel, das jedes Jahr zu Weih­nachten brav einen Dankesbrief schreibt. Oder die Oma von nebenan, die sich ja so freut, wenn ich für sie einkau­fen gehe, und die dafür auch immer gern was springen lässt. Oder der verfolgte Christ aus Syrien, am besten noch gut ausgebildeter Akademiker, der vielleicht sogar in Polen oder Ungarn eine Chance auf Asyl hätte, wenn er es denn bis dorthin schafft und dort bleiben möchte. Jugendli­che, die mit Krawall nach Liebe und Anerkennung schreien, obdachlose Alkoholiker oder muslimische Roma aus dem Kosovo sind dagegen als „Nächste“ sehr viel schwerer vermittelbar. Die überlas­sen wir lieber den Profis, den sozialen Einrichtungen und Hilfsorganisationen – oder wir überlassen sie gleich ihrem Schicksal.

Aber wie auch immer: Sobald ich anfange das Wort „Nächster“ zu definieren oder meine Nächsten aufzuzählen, gerate ich ins falsche Fahrwasser. Deshalb macht Jesus auch nichts dergleichen, sondern erzählt eine Geschichte: eine zufällige Begebenheit, in der zwei Men­schen sich zu Nächsten werden. Wäre der Samariter dem Mann auf dem Weg nach Jericho begegnet, bevor er unter die Räuber fiel, hätte er ihn sicher nicht zu seinen „Nächsten“ gerechnet: „Ein Wild­fremder, noch dazu ein Jude, der uns Samariter zutiefst verachtet? Nie würde ich dem helfen – um nichts auf der Welt!“ Aber dann kommt alles anders: „Da liegt ein Mensch halbtot am Straßenrand, und ich bin der, der ihm helfen kann, ja helfen muss!“ Und dann tut der Samariter das, was nötig ist – nicht mehr und nicht weniger: er leistet erste Hilfe und sorgt dafür, dass sich jemand weiter um den Verletzten kümmert. Hätte der ihn gefragt: „Warum tust du das für mich?“ hätte er vielleicht nur mit den Achseln gezuckt und gesagt: „Ich konnte dich doch nicht einfach da lie­gen lassen!“

Ich denke, uns ergeht es auch nicht anders. Gott schickt uns unsere Nächsten über den Weg, und ich glaube wir merken dann auch: Jetzt bin ich gefragt, jetzt muss ich helfen, so gut ich kann – ganz egal, was ich von dem, der meine Hilfe braucht, normalerweise zu halten pflege. Es fehlt dann nur noch der kleine Ruck, den ich mir geben muss, damit ich es auch tue.

Im Großen mögen die Dinge komplizierter liegen. Aber auch da gilt: die Flüchtlinge, egal, wovor sie fliehen, sind nun einmal da. Entwe­der leben sie schon unter uns oder sie warten südlich und östlich des Mittelmeers auf eine günstige Gelegenheit. Wie man sieht, hal­ten auch geschlossene Grenzen sie nicht davon ab, jede Chance zu ergreifen, auch wenn’s gefährlich ist. Und dabei haben sie genau das gleiche Recht auf ein gutes Leben in Freiheit und Frieden wie wir. Sie sind unsere Nächsten und brauchen unsere Hilfe. Natürlich heißt das nicht, dass wir alle Elenden der Welt einfach bei uns aufnehmen können. Natürlich dürfen wir uns mit unserer Hilfsbereitschaft nicht übernehmen, unsere Kräfte und Ressourcen nicht überfordern. Der Samariter hat das, wie gesagt, auch nicht getan. Aber das derzeitige Verhalten der europäischen Regierungen und auch großer Teile der europäischen Bevölkerung ist schlicht und einfach nicht barmherzig sondern erbärmlich.

Vielleicht fällt uns allen das mit der Nächstenliebe leichter, wenn wir zum Schluss die Geschichte vom barmherzigen Samariter noch ein­mal aus einem anderen Blick­winkel betrachten. Lange Zeit hat man sie nämlich gar nicht in erster Linie als ein Beispiel für Mitmensch­lich­keit gelesen, son­dern als Geschichte über Jesus Chris­tus. Man hat ihn selbst als den barmher­zigen Samariter gesehen, dem die Not der Menschen ans Herz geht und der alles tut – bis hin zu seinem Tod am Kreuz – um diese Not zu überwinden. Vielleicht trifft diese Deutung nicht den ursprüngli­chen Sinn der Geschichte, aber es steckt eine tiefe Wahr­heit darin: Bevor wir überhaupt anfan­gen kön­nen, unsere Nächsten zu lieben, hat Christus uns längst zu seinen Nächsten gemacht. Er liebt den, der hilft, und den, der Hilfe braucht, und wo die beiden sich begegnen und zu Nächsten werden, da ist er mit dabei. Er ist in dem, der unsere Hilfe braucht, und hilft uns, ihn mit seinen Augen zu sehen. Wer das wirklich begreift, dem wird es nicht mehr schwer fallen, hinzugehen und das Gleiche zu tun, was Jesus an unserer Stelle tun würde. Amen.

Pfr. Dr. Martin Klein