Predigt GZ „mittendrin“, Sonntag, 5. Februar 2023

Gottesdienst für den Sonntag Septuagesimae

Text: Mt 9,9-13

Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sit­zen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: „Folge mir!“ Und er stand auf und folgte ihm.

Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jün­gern: „Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?“ Als das Jesus hörte, sprach er: „Nicht die Starken bedürfen des Arztes, son­dern die Kranken. Geht aber hin und lernt, was das heißt: »Barmherzig­keit will ich und nicht Opfer.« Ich bin nicht gekom­men, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.“

„Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder“: Das ist so einer von den Sätzen, mit denen Jesus sich um Kopf und Kra­gen geredet hat. Ein Satz mit Sprengkraft. Ein Satz, der bei den Gu­ten und Anständigen nur Kopfschütteln und Befremden auslösen konnte.

Denn gut und anständig, das waren sie ja tatsächlich, die Pharisäer. Sie waren eben nicht durch die Bank selbstgerechte Heuchler, wie man es ihnen immer noch nachsagt. Sie wollten nur konsequent nach den Geboten Gottes leben, wie die Thora, unsere fünf Bücher Mose, sie überliefert. Sie taten das nicht, um aus eigenem Verdienst vor Gott als Gerechte dazustehen, sondern um sich dankbar zu zei­gen dafür, dass sie zu Gottes erwähltem Volk gehören durften. Sie wollten in der gleichen Reinheit zu Gott gehören, die für die Priester im Tempel galt. Dazu gehörte allerdings auch, sich abzugrenzen von allen Dingen und al­len Menschen, die diese Reinheit gefährden könn­ten. Alle Nicht-Isra­eliten zählten dazu, aber auch alle gebore­nen Juden, die nicht nach der Thora lebten. Und Zolleinnehmer wie Matthäus wa­ren zweifellos solche: Sie machten sich gemein mit der verhassten, halbheidnischen Regierung des Vierfürsten Herodes, für den sie die Steuern eintrieben. Sie lebten von Wucher und Betrug – oder jeden­falls sagte man ihnen das nach, weil ihre Gewinnspanne beim Zoll-Kassie­ren nicht festgelegt war. Und sie lebten gut davon, wäh­rend viele andere kaum über die Runden kamen. Ein solches „unrei­nes“ Leben gegen die Gebote der Thora betrachteten die Phari­säer als eine Art ansteckende Krankheit, von der man sich fern zu halten hatte.

Und dann kommt dieser Jesus daher und tut genau das Gegenteil. Obwohl er den Pharisäern eigentlich nahe steht, ruft er Zöllner und andere „Sünder“ in seine Nachfolge, setzt sich mit ihnen an einen Tisch, isst und trinkt mit ihnen. Da schlagen die Frommen die Hände über dem Kopf zusammen: „Wie kann der nur? Warum macht der so was?“ Und genau das fragen sie Jesus. Oder nein: sie fragen lie­ber erst mal seine Jünger – da trauen sie sich eher: „Wa­rum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?“ Ich weiß gar nicht, ob sie das gleich mit vorwurfsvollem Unterton gesagt haben. Vielleicht klang es auch erst mal nur verwirrt. Oder besorgt. Oder es ging um eine Warnung: „Lass dich bloß nicht mit solchen Typen ein – wir meinen es nur gut mit dir!“

Aber wenn die Pharisäer ihm Ratschläge erteilen wollten, konnte Jesus nicht darauf hören. Er musste seine Kritiker enttäuschen. Denn gerade das, was sie nicht verstehen konnten, war seine Mis­sion: Die Kranken heilen, nicht die Gesunden. Die Barmherzigkeit Gottes un­ters Volk bringen, ungehindert von Opfergeboten und Reinheitsre­geln. Die Sünder rufen, nicht die Gerechten. Rufen wohlge­merkt. Nicht: einer der Ihren werden, mit ihnen gemeinsame Sache ma­chen, ihnen nach dem Mund reden. Sondern zu ihnen ge­hen und sie heraus­rufen aus ihrer Trennung von Gott. Sie so anneh­men wie sie sind, damit sie nicht so bleiben, wie sie sind. Damit sie mit Gott ein neues Leben beginnen. Und wenn es soweit ist, darf dieses neue Leben auch gefeiert werden – mit Essen und Trinken und allem, was dazu gehört. So war es bei Matthäus, bei Levi, bei Zachäus. So war es auch bei Maria Magdalena oder bei der so genann­ten „großen Sünde­rin“. So war es aber auch bei Petrus, Jako­bus und Johannes. Jesus sagte „Folge mir!“ – und sie standen auf und folgten ihm. Natürlich könnte man das ausführlicher erzäh­len, mit Vor- und Nachge­schichte, mit allen Beweggründen, Gedanken und Gefühlen, die damit verbunden waren. Aber dem Evangelisten kommt es offenbar nur auf das Wesentliche an: auf den Ruf Jesu und auf die Nachfolge als Antwort.

Die Sünder rufen. Dazu ist Jesus gekommen. Und dazu sind wir, die ihm nachfolgen, beauftragt bis zum heutigen Tag. Man fragt sich nur: Warum findet dieser Ruf hier und heute so wenig Gehör? Wa­rum findet Jesus kaum jemanden, bei dem er einkehren kann?

Es muss wohl daran liegen, dass es heute keine Sünder mehr gibt. Soweit man sehen und hören kann, nur noch Gerechte! Nur noch Ge­sunde, die keinen Arzt brauchen! So klang es zum Beispiel jüngst wieder bei der Ministerin, die zurücktreten musste: natürlich lag das an der Berichterstattung der Medien, nicht an eigenen Fehlern. So klingt es auch nach jeder Wahl: Alle haben immer irgendwie gewon­nen und empfin­den das als gerechten Lohn für ihre erfolgreiche Politik, ihr gutes Spitzenpersonal und ihren engagierten Wahlkampf. Wenn’s dann doch zum Regieren nicht reicht, lag es an den Wäh­lern, bei denen das seltsamerweise so nicht angekommen ist.

Aber lassen wir die Politik und bleiben lieber in unserem persönli­chen Umfeld: Auch da gibt es nur Gute und Anständige, soweit man schaut: Kaum eine Todes­anzeige, in der die Väter nicht treu sor­gend, die Mütter nicht liebevoll und die Kinder nicht dankbar sind. Alle haben immer ehrlich und hart gearbeitet – im Gegensatz zu diesen Sozialschmarotzern und Faulpelzen, von denen man komischer­weise nie einen trifft. Alle rauchen und trinken wenig, essen kaum noch Fleisch und tun viel für ihre Gesundheit. Alle sa­gen, Kinder sind un­sere Zukunft, natürlich sind wir kinderlieb, und was haben die armen Kinder unter der Pandemie gelitten – nur der Kleine von nebenan, der nervt halt furchtbar mit seinem Geschrei. Niemand hat etwas gegen Ausländer, wirklich nicht – schließlich sind die Nachbarn doch so nett, und das obwohl sie Türken oder Afrikaner sind. Alle glauben an Gott, auch wenn sie nie in die Kirche gehen. Und damals, 33 bis 45, hat na­türlich keiner was gewusst und niemand sich was zuschulden kom­men lassen. Okay, diese Genera­tion stirbt jetzt langsam aus. Aber ansonsten höre ich solche Sprü­che weiterhin, tagein, tagaus. Und ich will ja auch keinem unterstel­len, dass das alles nicht stimmt und nicht ehrlich ge­meint ist. Aber trotz­dem frage ich mich manchmal, wie es kommt, dass auch bei uns so viel Schlimmes geschehen ist und weiter geschieht, wenn doch alle immer so gut und anständig waren.

Aber jetzt wird es natürlich Zeit, dass ich mich an die eigene Nase fasse: Ich stehe ja selber auch lieber als Gerechter da. Doch wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass das auch bei mir nicht stimmt. Auch die frömmsten Menschen, sagt der Heidelberger Kate­chismus, kommen in diesem Leben nicht über einen geringen An­fang des Gehor­sams gegen Gottes Gebot hinaus (Frage 114) – und zu diesen Frömmsten wage ich mich nicht zu zählen. Aus dem Blickwin­kel Jesu betrachtet, bin ich also genauso ein Sünder wie alle anderen. Ich bin höchstens besser dran: Dann nämlich, wenn ich mich von ihm rufen und verändern lasse. Dann bin ich tatsächlich ein Gerechter: Nicht weil ich ein guter Mensch bin, sondern weil Gott gut zu mir ist. Nicht, weil ich recht habe, sondern weil Gott mir gerecht wird. Gut, wenn ich das nie vergesse. Gut, wenn ich mir bewusst bleibe, dass ich von mir aus die Trennung von Gott nie über­winden kann. Gut, wenn mir klar ist, dass ich deshalb ständig gegen alle zehn Gebote verstoße – vielleicht nicht immer mit Taten, wohl aber mit Worten und ganz bestimmt mit Gedanken. Und gut, wenn ich weiß, dass ich deshalb jeden Tag neu Gottes Vergebung brauche. Denn das hat Jesus auch gesagt: Im Himmel wird mehr Freude herrschen über einen Sünder, der umkehrt, als über zehn Gerechte, die glauben, dass sie das nicht nötig haben.

Dann allerdings sollten wir es auch wie Jesus machen: als gerechtfer­tigte Sünder hingehen zu den Sündern, die Gottes Verge­bung noch nicht erfahren haben. Sie rufen und einladen – nicht mit drohendem Zeigefinger, sondern mit offenen Armen. Es gäbe ja ganz konkret um die Talkirche herum genug Menschen, die sie fül­len könnten, so dass es sich lohnen würde, sie auch im Winter zu heizen: die Jugendlichen, die hier schon mal herumlungern und ih­ren Dreck hinterlassen. Die Spieler, die die vielen Geisweider Casi­nos bevölkern. Die Alten und Gebrechli­chen, aber auch die Arbeits- und Antriebslosen, die kaum noch ihre Wohnung verlassen. Die vie­len Kunden in den Geschäften und auf den Trödelmärkten – alles Leute, die selten oder nie eine Kirche von innen sehen, aber sich vielleicht trotzdem nach einem Ort sehnen, wo sie Gott begegnen können. Können wir etwas für sie tun? Wollen wir sie überhaupt hier bei uns haben? Sind wir bereit und in der Lage, auf ihre ganz anderen Bedürfnisse und Verstehensmöglichkei­ten einzugehen – in Glaubensdingen und in Lebensfragen?

Als dieses Gemeindezentrum gebaut wurde, haben wir uns solche Fragen ja durchaus gestellt. Und wir haben uns vorgenommen, dass es wirklich ein Haus für alle werden sollte – „mittendrin“ in Geis­weid. An einigen Stellen gelingt das ja auch: beim Weihnachtsmarkt zum Beispiel, beim Mittagstisch, bei den Angeboten des Familien­zen­t­rums. Dafür bin ich dankbar. Aber ich glaube, wir brau­chen in Zukunft noch mehr davon – und zwar nicht nur auf der sozia­len und diakonischen Ebene, sondern auch auf der geistlichen, bei der Weitergabe der Botschaft Jesu. Darüber müssen wir, glaube ich, noch weiter nachden­ken – „hingehen und lernen“, wie Jesus sagt. Und dann mö­gen viele Zöllner und Sünder kommen und mit Jesus und seinen Jün­gern – also mit uns – zu Tisch sitzen – beim Gottes­dienst ebenso wie beim Dienst am Nächsten. Denn wenn es so ist, dann sind wir wirk­lich mit unserm Herrn zusammen „mitten­drin“, und dann besteht jeden Tag Anlass zu neuer Freude im Him­mel. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein