Hinsehen

Stell dir vor du bist 17 Jahre alt, in einer Woche wirst du 18. Du stehst kurz vor den Abschlussprüfungen deiner Schulzeit, hast wahrscheinlich sogar schon ganz genaue Pläne für deine Zukunft. Studieren? Eine Ausbildung machen? Vielleicht erstmal ein Praktikum, weil du dir noch nicht ganz sicher bist. Stell dir vor du hast einen super Freundeskreis, ihr unternehmt viel zusammen, ihr habt Spaß, geht zusammen zum Sport und ab und zu auch mal ein Bier trinken. Stell dir vor, du hast das Gefühl die Welt steht dir offen. Du stehst sozusagen in den Startlöchern für deine Zukunft. Erinnerst du dich an das Gefühl? Gut. Dann stell dir jetzt vor, deine Mutter kommt in dein Zimmer und sagt „Pack deine Sachen! Wir müssen weg hier. Pack deine Sachen! Wir gehen nach Deutschland. Pack deine Sachen! Putin hat einen Krieg angefangen. Pack deine Sachen. Jetzt.“

Genauso ging es Denis* am 24. Februar 2022. Von jetzt auf gleich ist sein Leben ein anderes. Er kann nicht in der Ukraine bleiben, denn sobald er 18 ist, müsste er in den Krieg ziehen. Als junger Mann, der Waffen nur aus dem Fernsehen oder vielleicht auch Computerspielen kennt. Er müsste in den Krieg ziehen, um gegen Gleichaltrige zu kämpfen, die genauso wenig eine Wahl hatten wie er selbst. Er müsste einen Kampf austragen, bei dem es keine Gewinner geben kann. Dafür umso mehr Verlierer.

Kurz darauf sitzt Denis mit seiner Mutter im Auto. Im Gepäck ein paar Klamotten und seinen Computer. Er hofft, dass er darüber seine letzten Abschlussprüfungen schreiben und seinen Schulabschluss machen kann. Seinen Vater muss er zurücklassen.

Währenddessen ist für meinen Mann und mich völlig klar, dass wir geflüchtete Menschen aus der Ukraine in unsere Einliegerwohnung aufnehmen werden. Wir hatten keine Ahnung wie genau das funktioniert. Wir hatten keine Ahnung welche bürokratischen Hürden das mit sich bringt. Wir hatten keine Ahnung, welch emotionale Belastung und Herausforderung das für uns wird. Wir hatten schlichtweg keine Ahnung, was genau auf uns zukommen würde. Aber wir waren uns sicher, dass wir es schaffen werden. Gemeinsam und vor allem mit der Rückendeckung unserer Familien und Freunde.

Innerhalb weniger Stunden hatten wir durch die Hilfsbereitschaft so vieler Menschen unsere kleine Einliegerwohnung vollständig möbliert und eingerichtet. Vom Bett über gemütliche Teppiche bis hin zu Bratpfannen und Handtüchern war einfach alles dabei. Viele der Spender und Spenderinnen kannte ich nicht einmal persönlich. Durch eine kleine Geldspende konnten wir sogar eine Grundausstattung an Spülmittel, Seife, Toilettenpapier und auch einen kleinen Blumenstrauß besorgen. Ich hatte den Wunsch und auch den Anspruch, der kleinen Familie die bei uns einziehen würde, alles so angenehm wie nur möglich zu gestalten. Eine Illusion, der ich leider kurz darauf beraubt wurde.

Denn auch ich kannte den Krieg nur aus dem Fernsehen. Und auch wenn ich mich selbst als empathisch beschreiben würde, hat das Ausmaß der Verzweiflung und Angst in den Gesichtern von Denis und Sofija, alles übertroffen worauf ich jemals hätte vorbereitet sein können. Fast ein kleines bisschen lächerlich kam ich mir vor. Hatte ich ernsthaft geglaubt, dass ein kleiner Strauß Blumen und eine handgeschriebene Karte ein „zu Hause“ schaffen konnten? Gerade als wir zusammen in gebrochenem Englisch meine krakeligen ukrainischen Buchstaben analysierten sprang unsere kleine Katze Ginni auf das Fensterbrett unserer Einliegerwohnung. Sofija und Denis stiegen sofort die Tränen in die Augen und Denis fragte fast ungläubig, ob er sie streicheln dürfe. Etwas verdutzt bejahte ich natürlich seine Frage und er stürmte sofort nach draußen. Von seiner Mutter erfuhr ich, dass auch sie zu Hause eine kleine Katze hatten und sie selbstverständlich in der Ukraine zurücklassen mussten. Das kleine schwarze Kätzchen auf den Fotos war unserer Katze zum Verwechseln ähnlich. Sogar das Dutzend weiße Härchen auf der Brust war identisch. Und in diesem Moment wurde mir klar, dass wir nichts hätten tun können, um die Welt von Sofija und Denis ins Gleichgewicht zu bringen. Alles was wir tun konnten, war da zu sein und auf weitere klitzekleine Heldinnen wie Ginni zu hoffen. Und ein Blumenstrauß ist ein winzig kleines Licht in absoluter Dunkelheit. Aber es ist ein Licht. Und beides ist so wertvoll. So wahnsinnig wertvoll.

Die kommenden Wochen waren für uns extrem nervenaufreibend. Wir wollten Hilfe anbieten, aber nicht aufdringlich sein. Wir wollten Freizeitgestaltung anbieten, aber Freiraum lassen. Wir wollten Barrieren nehmen, aber Selbstbestimmtheit fördern. Wir wollten Ängste nehmen und gleichzeitig auch Ängste zulassen. Und all das geht nicht. Nichts davon. Aber wir konnten da sein. Und das ist genug.

Jetzt fragst du dich sicher, was die Moral der ganzen Geschichte sein soll. Naja, es gibt nicht immer eine Moral. Ich möchte nur unsere Geschichte mit dir teilen. Denn das alles ist leider die Realität. Eine beängstigende Realität. Eine Realität in der ein Krieg das Zentrum bildet und an deren Gesicht wir uns alle zu schnell gewöhnt haben. Den Fernseher können wir ausschalten und die Zeitungen beiseitelegen, wenn unsere Gefühle und Ängste uns übermannen. Und das ist gut und das ist auch richtig so. Wir dürfen nur nicht vergessen auch weiter hinzusehen und wahrzunehmen. Denn unsere Geschichte endet leider nicht mit einem süßen Kätzchen, das Erinnerungen weckt und Trost spendet. Unsere Geschichte, genauer gesagt die Geschichte von Denis und Sofija schreibt jeden Tag neue Kapitel. In unserer Einliegerwohnung. Ohne Perspektive. Ohne Heimat. Knapp 2.000 km von dem Ort entfernt, wo sie eigentlich hätte geschrieben werden sollen. Und so anders, als sie hätte aussehen sollen. Und bisher mit keinerlei Aussicht auf ein Happy End.

*Namen zur Wahrung der Privatsphäre geändert.