Predigt für den Ökumenischen Gottesdienst zum Pfingstmontag, 05.06.2017

St. Marien Wenscht, Thema: „Du siehst mich“ (Gen 16,1-14)

Sarai, Abrams Frau, hatte ihm keine Kinder geboren. Sie hatte aber eine ägyptische Magd namens Hagar. Sarai sagte zu Abram: „Der Herr hat mir Kinder versagt. Geh zu meiner Magd! Vielleicht komme ich durch sie zu einem Sohn.“ Abram hörte auf sie. Sarai, Abrams Frau, nahm also die Ägypterin Hagar, ihre Magd – zehn Jahre, nachdem sich Abram in Kanaan niedergelassen hatte -, und gab sie ihrem Mann Abram zur Frau. Er ging zu Hagar, und sie wurde schwanger. Als sie merkte, daß sie schwanger war, verlor die Herrin bei ihr an Achtung. Da sagte Sarai zu Abram: „Das Unrecht, das ich erfahre, komme auf dich. Ich habe dir meine Magd überlassen. Kaum merkt sie, daß sie schwanger ist, so verliere ich schon an Achtung bei ihr. Der Herr entscheide zwischen mir und dir.“ Abram entgegnete Sarai: „Hier ist deine Magd; sie ist in deiner Hand. Tu mit ihr, was du willst.“ Da behandelte Sarai sie so hart, daß ihr Hagar davonlief.

Ein Bote des Herrn fand Hagar an einer Quelle in der Wüste, an der Quelle auf dem Weg nach Schur. Er sprach: „Hagar, Magd Sarais, woher kommst du, und wohin gehst du?“ Sie antwortete: „Ich bin meiner Herrin Sarai davongelaufen.“ Da sprach der Bote des Herrn zu ihr: „Geh zurück zu deiner Herrin, und ertrag ihre harte Behandlung!“ Der Bote des Herrn sprach zu ihr: „Deine Nachkommen will ich so zahlreich machen, daß man sie nicht zählen kann.“ Weiter sprach der Bote des Herrn zu ihr: „Du bist schwanger, du wirst einen Sohn gebären und ihn Ismael (Gott hört) nennen; denn der Herr hat auf dich gehört in deinem Leid. Er wird ein Mensch sein wie ein Wildesel. Seine Hand gegen alle, die Hände aller gegen ihn! Allen seinen Brüdern setzt er sich vors Gesicht.“
Da nannte sie den Herrn, der zu ihr gesprochen hatte: El-Roï (Gott, der nach mir schaut). Sie sagte nämlich: „Habe ich hier nicht den geschaut, der nach mir geschaut hat?“ Darum nennt man den Brunnen Beer-Lahai-Roï (Brunnen des Lebendigen, der nach mir schaut). Er liegt zwischen Kadesch und Bered.

Es war weit von Mamre bei Hebron bis zur ägyptischen Grenze. Weiter, als sie gedacht hatte. Und der Weg führte durch ödes Land: Felswüste und trockene Steppe, so weit das Auge reichte. Hungrig und durstig schleppte Hagar sich voran. Sie hätte mehr Vorräte mitnehmen sollen. Aber das war in der Heimlichkeit und Eile des Aufbruchs nicht möglich gewesen. Und außerdem hatte sie ja an dem Kind schon schwer zu tragen. Gerade trat es mal wieder heftig von innen gegen die Bauchdecke. Da wuchs wohl ein kleiner Wildesel in ihr heran! Und offensichtlich ging es ihm gut – wenigstens das. Aber was sollte aus ihm werden? Wo würde sie es zur Welt bringen? Und wovon sollten sie leben?
Als Sklavin hatte sie diese Sorgen nicht gehabt. Aber sie hatte es einfach nicht mehr ausgehalten. Von morgens bis abends hatte ihre Herrin sie schikaniert. Hatte sie beleidigt und geschlagen. Hatte ihr immer nur die niedrigsten und schwersten Arbeiten aufgebrummt. Und mit allem, was sie ihr antat, hatte sie ihr zu verstehen gegeben: „Du magst diejenige sein, die von meinem Mann ein Kind bekommt, aber bilde dir bloß nichts darauf ein. Denn die Herrin bin ich und werde es auch bleiben.“
Dabei war alles ihre Idee gewesen. Abraham und Sara hatten nie Kinder bekommen, und jetzt war sie zu alt dazu. Es hieß, dass ihr Gott dem Abraham einen Sohn und unzählige Nachkommen versprochen hatte. Aber auf dem normalen Weg würde daraus wohl nichts mehr. Also hatte Sara nachgeholfen. Sie hatte Abraham zu ihrer Leibmagd geschickt, zu Hagar. Sie sollte an ihrer Stelle ein Kind von Abraham bekommen, sozusagen als Leihmutter. Nach Recht und Sitte würde es dann Saras Kind sein. Abraham hörte auf seine Frau, wie immer. Und weil Hagar noch jung war und Abraham noch erstaunlich vital für sein Alter, hatte es auch bald geklappt.
Hagar hatte sich riesig gefreut. Sie würde Mutter werden, sie würde Abrahams Erben zur Welt bringen! Stolz hatte sie ihren Babybauch vor sich hergetragen. Und ja, sie hatte auf die alte, vertrocknete Sara herabgesehen. Mitleidig zwar, aber doch mit einem Gefühl der Überlegenheit: „Ich mag zwar nur eine Sklavin sein, aber ich kann Kinder bekommen und du nicht!“
Natürlich hatte die stolze Sara das nicht ertragen können. Schließlich war sie mal eine bewunderte Schönheit gewesen. Und sie hatte für Abraham alles aufgegeben, war mit ihm in dieses ferne Land gezogen, war mit ihm durch dick und dünn gegangen. Und nun stahl eine ägyptische Sklavin ihr die Schau – und womöglich die Liebe ihres Mannes. Natürlich war sie rasend eifersüchtig geworden und hatte Hagar das spüren lassen. Und Abraham? Der war auch keine Hilfe gewesen. „Es ist deine Magd“, hatte er nur zu Sara gesagt, als die sich bei ihm beklagte. „Mach mit ihr, was du willst!“ Hagar lächelte bitter, als sie daran dachte. „So sind sie, die Männer“, dachte sie, „machen dir ein Kind, und dann stehlen sie sich aus der Verantwortung!“
Also war sie geflohen. Richtung Süden, ihrer Heimat zu. Bald musste sie die ägyptische Grenzmauer erreicht haben. Aber ob man sie überhaupt durchlassen würde? Für die Ägypter war sie nun eine Fremde, und die wurden im Land der Pharaonen nicht gemocht. „Ägypten ist kein Einwanderungsland“, hatte es früher immer geheißen. Womöglich würde sie also im Niemandsland festsitzen. Und dann?
Von einer Hügelkuppe hielt Hagar Ausschau. Vor sich in der Talsenke sah sie einen kleinen grünen Fleck. „Da muss Wasser sein“, dachte sie, und ihre Lebensgeister hoben sich etwas. So rasch sie konnte, ging sie auf das Grün zu. Und dort fand sie tatsächlich eine Wasserquelle. Sie trank sich erst einmal satt. Dann aß sie das letzte trockene Stück Brot aus ihrem Beutel. Nachdem sie ein wenig ausgeruht hatte, würde sie nach etwas Essbarem suchen.
Gerade waren ihr die müden Augen zugefallen, da hörte sie, wie sie jemand ansprach: „Hagar, Saras Magd, woher kommst du, und wohin gehst du?“ Erschrocken setzte sie sich auf. Der kannte sie mit Namen! Ob Abraham und Sara jemanden hinter ihr her geschickt hatten, um sie wieder einzufangen? Aber der Mann, den sie nun sah, war ihr völlig fremd. „Woher kennt der mich bloß?“ dachte sie.
Der Mann schaute ihr in die Augen. Und Hagar war seltsam berührt von diesem Blick. So hatte sie noch niemand angesehen: so freundlich und so ernst, so streng und so gütig, so durchdringend und so liebevoll, so interessiert und so wissend. „Woher kommst du, und wohin gehst du?“ hatte er gefragt. Und Hagar erkannte, dass sie ihm besser die Wahrheit sagte – aber sie auch getrost sagen konnte. „Ich bin meiner Herrin Sara davongelaufen“, gab sie zur Antwort. Und sie sah es in den Augen des Mannes, dass er sofort alles verstand, was in diesen wenigen Worten steckte: ihren Hass auf Sara, ihre Enttäuschung über Abraham, ihre Reue über den eigenen Hochmut. Aber auch ihre Erschöpfung und ihre Angst vor der Zukunft.
„Weißt du, wer ich bin?“ fragte der Mann und hielt dabei weiter den Blick auf sie gerichtet. Hagar schüttelte den Kopf. „Ich bin ein Bote des Herrn“, sagte er.
Da ging Hagar ein Licht auf. „Der Herr“ – so hatten Abraham und Sara doch immer ihren Gott genannt! Den Gott, der ihnen das Land Kanaan und viele Nachkommen versprochen hatte. Aber was hatte sie mit diesem Gott zu tun? Als Ägypterin verehrte sie doch ganz andere Götter! Wieso sollte der Herr ihr einen Boten schicken, um mit ihr zu reden?
Sie sollte es sofort erfahren. „Geh zurück zu deiner Herrin und ertrag ihre harte Behandlung“, sagte der Bote ohne Umschweife. „Aber sei getrost: der Herr hat dich erhört in deinem Leid. Das Kind, mit dem du schwanger bist, ist ein Junge. Wenn er geboren wird, sollst du ihn Ismael nennen. Er wird ein Mensch sein wie ein Wildesel – das hast du wohl schon geahnt. Er wird als Beduine in der Wüste leben – kein Sklave wie du, sondern ungebunden und frei. Er wird viele Feinde haben, aber er wird sich durchsetzen gegen sie und sich allen vor die Nase setzen. Und seine Nachkommen wird niemand zählen können.“
Bei den ersten Worten war Hagar noch enttäuscht gewesen. Sie sollte zurück zu ihrer Herrin? Die würde sie doch nach der Flucht noch viel schlimmer behandeln als vorher! Aber dann war ihr Herz mit jedem Satz leichter und hoffnungsvoller geworden. Ja, sie hatte schon geahnt, dass da ein wilder, kräftiger Junge in ihr heranwuchs. Doch dass sie durch ihn die Stammmutter eines großen Volkes werden sollte, das übertraf alle ihre Erwartungen. Das, was der Herr Abraham versprochen hatte, das würde also auch für sie und ihren gemeinsamen Sohn gelten. Dass der nicht das fruchtbare Land Kanaan erben würde, damit konnte sie leben. Ihr gefiel das Leben der stolzen Wüstensöhne ohnehin viel besser. Ja, sie würde ihn gern Ismael nennen – „Gott hat erhört“; denn genau das hatte er getan.
„Ich gehe jetzt“, sagte der Bote und sah Hagar noch einmal tief in die Augen. „Und du machst dich am besten auch bald auf den Weg.“ Kaum hatte er ausgeredet, war er auch schon verschwunden. Aber Hagar fühlte immer noch seinen Blick auf sich ruhen. Das war nicht nur der Blick eines Boten gewesen, das wurde ihr nun klar. Es war Gott, der Herr, selbst, der sie so angesehen hatte und immer noch ansah. Und weil er das getan hatte, war er jetzt nicht mehr nur der Gott Abrahams, sondern auch ihr Gott.
Sie schloss die Augen und betete: „Danke, Gott! Lange bevor ich dich gesehen habe, hast du schon nach mir Ausschau gehalten – das begreife ich jetzt. Du bist der Gott, der mich sieht, und so will ich dich von nun an nennen. Du siehst mich, du siehst den kleinen Ismael, du siehst, was aus uns werden wird. Und deshalb bitte ich dich: Sieh weiter auf mich, wenn ich jetzt zu meiner Herrin zurückkehre! Es wird mir schwer fallen, mich ihr wieder unterzuordnen, und sie wird es mir nicht leichter machen als bisher. Aber weil du mich siehst, kann ich es ertragen.“
Hagar öffnete die Augen und stand auf. Sie suchte ein paar Früchte zusammen und füllte ihren Wasserschlauch. Dann ging sie los, den Weg zurück, den sie gekommen war. Auf der Hügelkuppe schaute sie noch mal zurück auf den kleinen grünen Fleck, an dem sich ihr Leben verändert hatte. „Der Ort sollte einen Namen haben“, dachte sie. „Und ich weiß auch schon welchen: Beer-lachai-roi – Brunnen des Lebendigen, der mich sieht. So werde ich ihn nennen. Und auch Ismael und seine Nachkommen werden diesen Namen gebrauchen, denn ich werde ihm erzählen, was ich hier erlebt habe.“
Dann ging sie zurück nach Mamre und wurde wieder eine demütige und dienstbare Magd. Aber sie wusste: In den Augen Gottes bin ich nun eine freie Herrin über alle Dinge und niemandem untertan. Denn er ist der Gott, der mich sieht. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein