Gottesdienst zur ökumenischen Bibelwoche

Talkirche, Buß- und Bettag, 16.11. 2022

Text: Daniel 5

Die Mitternacht zog näher schon;
In stummer Ruh lag Babylon.
Nur oben, in des Königs Schloss,
Da flackerts, da lärmt des Königs Tross.
Dort oben in dem Königssaal
Belsatzar hielt sein Königsmahl.
Die Knechte saßen in schimmernden Reihn,
Und leerten die Becher mit funkelndem Wein.
Es klirrten die Becher, es jauchzten die Knecht;
So klang es dem störrigen Könige recht.
Des Königs Wangen leuchten Glut;
Im Wein erwuchs ihm kecker Mut.
Und blindlings reißt der Mut ihn fort;
Und er lästert die Gottheit mit sündigem Wort.
Und er brüstet sich frech, und lästert wild;
Die Knechtenschar ihm Beifall brüllt.
Der König rief mit stolzem Blick;
Der Diener eilt und kehrt zurück.
Er trug viel gülden Gerät auf dem Haupt;
Das war aus dem Tempel Jehovahs geraubt.
Und der König ergriff mit frevler Hand
Einen heiligen Becher, gefüllt bis am Rand.
Und er leert ihn hastig bis auf den Grund,
Und rufet laut mit schäumendem Mund:
Jehovah! dir künd ich auf ewig Hohn –
Ich bin der König von Babylon!
Doch kaum das grause Wort verklang,
Dem König wards heimlich im Busen bang.
Das gellende Lachen verstummte zumal;
Es wurde leichenstill im Saal.
Und sieh! und sieh! an weißer Wand
Da kams hervor wie Menschenhand;
Und schrieb, und schrieb an weißer Wand
Buchstaben von Feuer, und schrieb und schwand.
Der König stieren Blicks da saß,
Mit schlotternden Knien und totenblass.
Die Knechtenschar saß kalt durchgraut,
Und saß gar still, gab keinen Laut.
Die Magier kamen, doch keiner verstand
Zu deuten die Flammenschrift an der Wand.
Belsatzar ward aber in selbiger Nacht
Von seinen Knechten umgebracht.

So hat Heinrich Heine vor 200 Jahren den Text nachgedichtet, der heute in unserer Bibelwoche dran ist: Daniel 5, das Festmahl der Belsazar. In dramatischer Verdichtung enthält Heines Ballade die wesentlichen Elemente der biblischen Erzählung – deshalb habe ich sie heute mal der Verlesung des langen Bibeltextes vorgezogen.

Eins allerdings hat Heine weggelassen: dass sich nämlich dann doch einer fand, der die Handschrift Gottes an der Wand lesen und deu­ten konnte. Die Königinmutter war’s, die sich erinnerte: da gab es doch zur Zeit ihres verstorbenen Gemahls einen weisen Mann aus Israel namens Daniel. Der wurde also geholt und erklärte dem Kö­nig, was er sah: „Mene, mene, tekel u parsin“, stand an der Wand „gezählt, gezählt, gewogen und zerteilt“. „Gezählt“ hat Gott die Tage von Belsazars Herrschaft, und ihre Zahl ist voll. „Gewogen“ hat er den König und für zu leicht befunden. Er ist es nicht wert, noch länger zu regieren. Und sein Reich wird „zerteilt“: die Meder und Perser werden Babylon überrennen und es ihrem Reich einverlei­ben.

Historisch zutreffend ist nur das Letzte: 539 vor Christus eroberte der Perserkönig Kyros Babylon und machte so dem Großreich Nebukad­nezars ein Ende. Belsazar allerdings war nicht Nebukad­nezars Sohn, sondern der seines Nachfolgers Nabonid. Und für die­sen hat er zwar eine Zeitlang die Regentschaft ausgeübt, aber er wurde nicht mehr König, weil das Reich vorher unterging. Von sei­nem frevelhaften Festmahl und seinem plötzlichen Tod weiß nur das Danielbuch, und das ist erst Jahrhunderte später entstanden.

Geht uns das Ganze dann überhaupt noch was an? Ist es mehr als ein dankbarer Balladenstoff? Schließlich käme heutzutage kein bra­ver Katholik auf die Idee, mit geweihten Gerätschaften aus der Kir­che eine Party zu feiern. Und kein gut evangelischer Christ würde mit der Altarbibel seinen Ofen stochen. Okay, es gibt kirchenfeindli­che Provokateure, denen wäre sowas zuzutrauen. Doch dann er­schiene vermutlich kein „Menetekel“ an der Wand, sondern es stünde eine ganz profane Strafanzeige ins Haus.

Aber schauen wir nochmal genauer hin: Worin besteht denn eigent­lich Belsazars Frevel? Nach Daniel wusste er durchaus Bescheid über den „Höchsten Gott“ und „Herrn des Himmels“, der kein anderer ist als der Gott Israels. Trotzdem missbrauchte er aus einer Weinlaune heraus die Gefäße aus dem Tempel in Jerusalem, die diesem Gott gehörten. Und gab ihm so zu verstehen: Ich pfeif auf dich, Gott! Hier, schau, was ich mit deinem Eigentum machen kann – und du kannst mich nicht davon abhalten! Unsere Götter sind stärker als du – und letztlich heißt das natürlich: Ich, Belsazar, bin stärker als du! „Jehovah! dir künd ich auf ewig Hohn – Ich bin der König von Baby­lon!“ Heinrich Heine hat das schön auf den Punkt gebracht.

Und da frage ich mich: Machen wir es nicht genauso? Nicht mit irgend­welchen goldenen oder silbernen Bechern natürlich, sondern mit etwas viel kostbarerem, nämlich mit unserem Planeten Erde. Denn auch der ist Gottes Eigentum. „Die Erde ist es des Herrn, und was darinnen ist“, heißt es in Psalm 24. Sie ist Gottes Schöpfung, und ein Großteil der Menschheit glaubt das auch – im Prinzip jeden­falls. Das hält sie, das hält uns aber nicht davon ab, Gott sein Eigen­tum zu entwenden und es für ein wüstes Gelage zu missbrauchen. Wir verschleudern die Ressourcen der Erde für kurzfristigen Kon­sum. Wir verjubeln innerhalb von Jahrzehnten Jahrmillionen alte Bodenschätze. Wir verprassen billige Lebensmittel, für die Tiere gequält, Wälder abgeholzt und Böden ausgelaugt werden. Wir jet­ten und cruisen um die Welt, bewundern ihre Natur und ihre Sehens­würdigkeiten und machen sie damit gleichzeitig kaputt. Und so geben wir dem Schöpfer zu verstehen: Du kannst uns mal! Wir sind die Könige der Welt und können mit ihr machen, was wir wol­len. Natürlich sagen wir das nicht so. Wir denken es vielleicht noch nicht mal. Aber das, was wir tun, spricht genau diese Sprache.

Das „wir“, von dem ich rede, braucht natürlich eine Einschränkung. Das einfache Volk war bei Belsazars Festmahl nicht zugegen. Und auch heute sind die kleinen Leute an der Verheerung des Planeten am wenigsten schuld. Aber ich fürchte, die meisten von uns hier im reichen Deutschland gehören zu denen, die kräftig mitfeiern – auf Kosten der Armen, auf Kosten der Natur.

Und was nun? Erscheint auch uns eine „Schrift an der Wand“, ein „Menetekel“? Sind auch unsere Tage gezählt? Wurden auch wir gewogen und zu leicht befunden – unfähig, Gottes Schöpfung zu bebauen und zu bewahren, wie er es uns aufgetragen hat? Wird auch unsere Menschenwelt zerrissen und zerstört – durch unser eigenes Verschulden? Wir brauchen jedenfalls niemanden mehr, der uns die Zeichen deutet. Die Wissenschaft sagt uns schon seit langem klipp und klar, was passiert, wenn wir so weitermachen. Und inzwi­schen mehren sich die Anzeichen, dass es schon zu spät sein könnte, um das Ruder noch herumzureißen. Dem alten Belsazar blieb auch keine Zeit mehr. Sein „Menetekel“ war keine Warnung, kein Ruf zur Umkehr, sondern ein Urteil. Noch in der gleichen Nacht wurde es vollstreckt.

Ich hoffe und bete, dass an dieser Stelle die Parallelen zum Daniel­buch enden. Dass es für uns noch nicht zu spät ist. Nicht weil ich glaube, das wir’s schon noch hinkriegen. Sondern weil es biblische Verheißungen, die meiner Hoffnung ein Fundament geben: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Tag und Nacht“ – so hat Gott es Noah nach der Sintflut zugesagt (Gen 8,22), und das obwohl er ganz genau wusste, wie wir Men­schen sind. Die Kreatur seufzt und stöhnt, sagt Paulus, aber „auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglich­keit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes“ (Röm 8,21). Und ganz am Ende der Bibel sieht Johannes in seiner Offenba­rung, wie Gott – nicht der Mensch – alles neu macht (Offb 21,5).

Auf dieses Ende aller Dinge will ich vertrauen. Denn Gott erspart den Menschen zwar nicht die Konsequenzen ihres Handelns, und die könnten auch für uns schlimm werden. Aber wenn seine Verheißun­gen wahr sind, dann sind diese Konsequenzen noch nicht die „Schrift an der Wand“, nicht Gottes letztes Wort über uns. Und das heißt: Umkehr ist immer noch möglich.

Heute ist Buß- und Bettag. Als staatlicher Feiertag wurde er vor 27 Jahren sang- und klanglos entsorgt – für die Pflegeversicherung, hieß es. Was sollte man auch anfangen mit einem Feiertag an einem Mittwoch im November, ohne Brückentag zum Wochenende? Dabei war gerade die mangelnde Freizeit-Tauglichkeit das Gute an diesem Tag. Da blieb einem gar nichts anderes übrig, als einfach mal zur Ruhe zu kommen. Und wer wollte, konnte diese Ruhe zum Nachden­ken nutzen, zu einer Zwischenbilanz des Lebens, zu Kurskorrek­turen am täglichen Trott – christlich gesprochen: ein Tag zum Gebet, zum Zwiegespräch mit Gott und mir selbst, und ein Tag zur Buße, zur Sinnesänderung, zur Umkehr. Auch wir Christen haben davon aber nicht allzu viel Gebrauch gemacht – und uns entspre­chend nicht groß gegen die Abschaffung gewehrt.

Heute bräuchten wir den Buß- und Bettag als freien Tag eigentlich dringend zurück. Denn das grundsätzliche Umdenken, das es braucht, um das „Menetekel“ noch abzuwenden, das gelingt, glaube ich, nicht aus dem laufenden Betrieb heraus. Dafür müssten wir anhalten und uns klar werden, dass es so einfach nicht weitergeht. Und dann müssten wir überlegen, was sich ändern muss und wie wir dahin kommen. Im ersten Corona-Lockdown gab es mal Ansätze dazu. Aber auch die sind weitgehend verpufft.

Auf einen staatlich geschützten „Nachdenk-und-Umkehr-Tag“ soll­ten wir also nicht warten – es wird ihn wohl nicht geben. Aber ich rate uns dringend, dass wir für uns selber so einen Tag suchen und finden – zwischen den Jahren vielleicht, im Sommerurlaub oder wann auch immer. Denn wir brauchen Einkehr und Umkehr, immer wieder. Gottes Güte leitet uns dazu an, sie gibt uns dafür Gelegen­heit – so sagt es Paulus (Röm 2,4). Wir sollten sie nicht ungenutzt verstreichen lassen. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein