GOTTESDIENST ZUR DIAMANTENEN KONFIRMATION

Talkirche, 3. Sonntag nach Trinitatis (20.6. 2021)

Text: Lk 15,1-7

Liebe diamantene Konfirmandinnen und Konfirmanden!

Ich weiß nicht, ob Sie sich noch erinnern, mit welchen Gefühlen Sie vor sechzig Jahren in diese Kirche eingezogen sind, damals, im Früh­jahr 1961. Sicher waren Sie aufgeregter als heute. Sicher war Ihnen der Anzug oder das Kleid noch ein ungewohntes und darum unbeque­mes Kleidungsstück. Sicher waren Sie froh, dass die viele Lernerei – Ka­techismus rauf und Gesangbuch runter – nun eine Ende hatte. Und sicher war es für Sie alle, egal wie Sie an­sonsten zur Kirche und zum Glauben standen, ein ganz besonderer, ein bedeutsa­mer Augenblick – man könnte auch sagen: ein Moment, in dem Ihnen Gott ganz nahe war.

An alledem hat sich übrigens die letzten sechzig Jahren nichts Grundle­gendes geändert. Die Konfirmanden von 2021 könn­ten zwar Ihre Enkel sein – vielleicht ist es der eine oder die andere sogar – aber ansonsten wird es ihnen nicht wesentlich anders ergehen als Ihnen, wenn sie mit pandemiebedingter Verzögerung im September endlich in diesen Bänken sitzen werden.

Natürlich war damals trotzdem vieles anders als heute. Das Wirt­schaftswun­der war zwar schon passiert, aber die Verhältnisse waren meist noch bescheidener. Und die Atombombe war zwar eine hand­feste Bedrohung im Kalten Krieg, aber sie war Ihnen persönlich doch ferner als der Klimawandel oder die Pandemie für die heutige Ju­gend. Andererseits haben damals in Kirche und Gesellschaft Entwicklun­gen schon begonnen, deren Folgen wir heute spüren. Das „fromme Siegerland“ wurde zwar vor 60 Jahren seinem Ruf noch gerecht – im Guten wie im Schlechten. Die Traditionen des christli­chen Glaubens waren hier noch sehr lebendig, und es war einerseits leichter, sie zu vermitteln, aber andererseits auch dringlicher, sich von ihnen abzusetzen. Denn der Trend weg von beengenden Traditio­nen hin zu mehr Freiheit und Individualität, der fing ja da­mals schon an.

Es hängt wohl auch mit diesen Dingen zusammen, dass mehr als die Hälfte der noch lebenden Konfirmandinnen und Konfirmanden von 1961 heute nicht hier sind. Und dieser Trend wird sich in den nächs­ten Jahren fortsetzen – das merken wir bei den Goldenen Konfirmatio­nen schon deutlich.

Nun hilft es freilich nichts, darüber zu klagen, denn es ist ja einfach der Lauf der Dinge. Wenn Menschen heute einen Zugang zum Glau­ben finden sollen, dann muss das eben auf der Grundlage ihrer eige­nen Erfahrungen und Vorstellungen geschehen, und die sind nun mal ganz andere als die von früheren Generationen. Und dass es jedenfalls vorschnell wäre, irgendjemanden für den Glauben verlo­ren zu geben, daran erinnert uns nicht zuletzt der Pre­digttext des heutigen Sonntags, auf den ich nun nach langer Einleitung komme:

Es nahten sich Jesus aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und spra­chen: „Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.“

Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: „Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er’s findet? Und wenn er’s gefunden hat, so legt er sich’s auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.

Dieser Text war für den heutigen dritten Sonntag nach Trinitatis vor­geschlagen. Ich habe ihn also nicht eigens aus Anlass der Diamante­nen Konfirmation ausge­sucht. Und ich habe durchaus überlegt: Passt der Text überhaupt zu denen, die heute Morgen hier sitzen? Denn Sie, liebe diamantene Konfirmandinnen und Konfirmanden, gehören ja gerade nicht zu den verlorenen Schafen, die man suchen muss, weil sie von allein nicht zur Herde zurückfinden. Sie haben sich ein­laden lassen zu Ihrem Jubelfest, Sie sind gern gekommen, die meis­ten waren auch schon bei der Goldenen Konfirmation vor zehn Jah­ren dabei und haben sich zwischendurch wahrscheinlich auch schon mal blicken lassen. Und man­che waren oder sind noch in der Gemeinde aktiv, hier oder woanders. Die verlorenen Schafe, das sind doch wohl eher die anderen. Die schon damals nur wi­derwillig zum Un­terricht gegangen sind und sich mit der Konfirmation von der Kirche verabschiedet haben. Oder die zwar zunächst ernsthaft bei der Sa­che waren, aber in der Zwischenzeit vom eingeschlagenen Weg abgekommen sind, aus welchen Gründen auch immer. Und natürlich die, die zwar nicht für Gott, aber für uns verlo­ren sind, weil sie inzwischen verstorben sind.

Doch Jesus erzählt dieses Gleichnis ja auch gar nicht den verlorenen Schafen, den „Zöllnern und Sündern“. Er erzählt es der braven Herde: den Pharisäern und Schriftgelehrten. Für uns hat das Wort „Pharisäer“ einen negativen Klang. Für uns sind das die Selbstge­rechten, die Hochmütigen, die mit der extra Portion Frömmigkeit, auf die sie sich ordentlich was einbilden. Aber Jesus sieht sie gar nicht so negativ. Er nennt sie „Gerechte“ am Ende des Gleichnisses, und er meint das anerkennend, ganz ohne Ironie. Es ist den Pharisä­ern wichtig, nach der Bibel zu leben, und das wirklich konsequent. Sie lieben ihre Tora, Gottes gute Weisung für Israel. Es liegt ihnen viel daran, mit ihrem Leben ein glaubwürdi­ges Zeugnis für den Gott Israels abzulegen und keine halben Sachen zu machen. Und natür­lich halten sie sich an das Gebot der Nächsten­liebe mindestens ge­nauso sehr wie an Speise- oder Reinheitsgebote.

Im Grunde unterscheidet sie gar nicht viel von einem guten Sieger­länder Pietisten, und auch das meine ich nicht ironisch, sondern an­erkennend. Wenn sich jemand seit der Konfir­mandenzeit oder noch davor seine Liebe zu Gottes Wort und seine per­sönliche Beziehung zu Jesus Christus bewahrt hat und ernsthaft bestrebt ist, danach zu leben, auch in den kleinen Din­gen des Alltags, dann freue ich mich darüber. Und wenn jemandem die pietistische Art nicht so liegt, er oder sie aber trotzdem sagt: „Ja, ich habe aus meinem Elternhaus, meiner Jugend, meiner Konfirmanden­zeit in Glaubensdingen vieles mitgenommen, und das war gut für mich und hat mir geholfen, die guten und die schweren Zeiten meines Lebens zu bewältigen“, dann freue ich mich auch darüber, und die Engel im Himmel freuen sich mit.

Allerdings, sagt Jesus: Über das eine verlorene Schaf, das wieder gefunden wird, über den einen Sünder, der umkehrt, freuen sich die Engel im Himmel noch mehr. Und das ist ja eigentlich ganz logisch: Nach einem schon verloren geglaubten Fußballspiel, das dann doch noch gewonnen wird, ist der Jubel der Fans viel größer als nach ei­nem perfekten Zu-Null-Sieg. Und den lang vermissten Überra­schungs­gast begrüße ich überschwänglicher als die Gäste, die ich jedes Mal einlade. In der Regel verstehen die das ja auch und fühlen sich deshalb nicht gleich zurückgesetzt.

Und genau um dieses Verständnis wirbt Jesus bei den Pharisäern, indem er ihnen dieses Gleichnis erzählt. „Ihr habt’s doch gut“, gibt er ihnen zu verstehen, „ihr gehört zur Herde, ihr habt einen guten Hir­ten, der für euch sorgt, und euch wird nichts mangeln. Aber es muss euch doch auch wehtun, wenn die Herde nicht vollzählig ist! Das verlorene Schaf gehört doch auch zu euch, und es braucht den guten Hirten genauso wie ihr. Nichts anderes tue ich, Jesus, wenn ich bei denen einkehre, die ihr Zöllner und Sünder nennt: Ich suche und finde die, die verloren sind, und genau dazu bin ich da.“

Was folgt daraus – für Sie als Jubelkonfirmanden, aber auch für alle anderen, die heute hier sind? Ich finde, es sind zwei Dinge:

Erstens sollten uns die, die heute nicht hier sind, nicht egal sein. Sicher kennen Sie den einen oder die andere von ihnen. Ich denke, es wäre gut, wenn wir wüssten, warum sie nicht da sind: War die Reise zu weit oder zu beschwerlich oder die Sorge vor Ansteckung noch zu groß? Dann könnten wir ihnen schreiben oder telefonieren. Sind sie vielleicht zu krank oder zu be­lastet an Leib und Seele, um kommen zu können? Dann würden sie sich wohl freuen, wenn wir sie besuchen. Wollen sie mit Glauben, mit Kirche nichts mehr zu tun haben? Dann könnten wir mal behut­sam nachfragen, warum das so ist, und Mut dazu machen, schlechte Erfahrungen, die oft lange zurück­liegen, durch gute neue Er­fahrungen zurechtzurücken. Oder wissen wir schlicht nicht, wo sie abgeblieben sind und was aus ihnen geworden ist? Dann können wir zumindest für sie beten und sie der Fürsorge Gottes anbefehlen.

Und zweitens sind es ja nicht immer nur die anderen, die verloren gehen. Wenn Sie heute an die letzten sechzig Jahre zurückdenken, wird Ihnen sicher manche Situation einfallen, in der Sie sich verloren gefühlt haben. Ist Gott eigentlich noch da, haben Sie vielleicht ge­dacht, oder hat er mich längst vergessen, so elend, wie es mir geht? Bin das eigentlich noch ich oder habe ich mich selber verloren: an die Arbeit, die mich verschlingt, oder an die innere Leere, weil mir jetzt die Arbeit fehlt; an schlechte Gewohnheiten, die ich nicht las­sen kann, obwohl ich immer mehr spüre, wie sie meiner Gesundheit schaden; an die vielen Sorgen, die mich niederdrücken und mir Fes­seln anlegen? Und ist das um mich herum noch die Welt, die mir vertraut war, in der ich mich eingerichtet und meinen Platz hatte, oder hat sie alle ver­trauten Konturen verloren und ist völlig aus den Fugen geraten?

Ich glaube, in der einen oder anderen Form überkommt diese Verloren­heit jeden irgendwann. Aber dann dürfen wir eines wissen: Gott ist schon auf der Suche nach uns, ja er hat uns längst gefunden, und er lässt uns nicht los, wie verloren wir uns auch fühlen. Das hat er uns wirksam zugesprochen, hat uns mit der Taufe als seine Kinder angenommen. Das hat er bekräftigt durch den Segen, den wir bei der Konfirmation empfangen haben. Und das bleibt gültig, solange wir leben. Jeder Gottesdienst, jedes Abendmahl, jedes gute Wort, das uns jemand im Namen Jesu zusagt, kann uns dessen wieder neu gewiss machen. Und wenn das auch heute geschieht, wenn die große Freude im Himmel uns hier auf Erde ansteckt und froh macht, dann hat diese diamantene Konfirma­tion über alle Wiedersehens­freude hinaus ihren tiefsten Sinn erfüllt. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein