GOTTESDIENST FÜR SILVESTER

Talkirche, 31.12. 2014

Text: Mt 13,24-30

In den letzten Tagen und Wochen haben sie wieder die Zeitungen und das Fernsehprogramm gefüllt: die allfälligen Rückblicke auf das Jahr 2014. Menschen und Ereignisse, Sieger, Verlierer, Verstorbene – an sie alle wurde noch mal erinnert, Trends und Entwicklungen wurden auf den Punkt gebracht, Hoffnungen und Gefahren für die Zukunft analysiert. Bei dem, was ich davon zur Kenntnis genommen habe, hatte ich den Eindruck, dass es immer schwieriger wird, ein sol­ches Kalenderjahr zusammenzufassen oder gar zu deuten. Denn es wird ja alles immer unübersichtlicher: Die Ereignisse jagen einan­der, die öffentliche Aufmerksamkeit kommt kaum noch mit – immer neue Krisen, Kriege, Katastrophen, dass man gar nicht mehr weiß, worum man sich zuerst Sorgen machen soll.

Noch schwieriger wird es, wenn man das, was geschieht, auch noch zu bewerten versucht: Was ist eigentlich richtig, was ist falsch? Wer sind die Guten, wer die Bösen? Oder sind alle irgendwie beides? Wie kann man dann aber überhaupt noch das Böse überwinden und dem Guten zum Durchbruch verhelfen?

Diese Fragen mögen brennend und hochaktuell sein, aber neu sind sie nicht. Schon in der frühen Christenheit wurden ähnliche Beobach­tungen gemacht. In der Welt gibt es Wohl- und Übeltäter, stellte man fest, und oft sind sie kaum zu unterscheiden. Und die christli­chen Gemeinden sind davon nicht ausgenommen. Auch da gibt es Gute und Böse, echte Christen und bloße Heuchler, solche, die im­mer nur fromm daherreden, und solche die wirklich Gottes Willen tun. Wie soll man damit umgehen?

Jesus hatte sich das noch recht einfach vorgestellt. „Mit dem Reich Gottes“, hatte er gesagt, „ ist es, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft. Er schläft und steht auf, und der Same geht auf und wächst – er weiß nicht, wie. Denn von selbst bringt die Erde Frucht. Wenn sie aber Frucht gebracht hat, so schickt er alsbald die Sichel hin; denn die Ernte ist da.“ (Mk 4,26-29) Große Zuversicht spricht aus diesen Worten, die uns beim Evangelisten Markus überliefert sind. Wenn die Saat erst einmal ausgebracht ist, wenn das Evange­lium von Jesus Christus seinen Lauf um die Welt angetreten hat, dann kommt die Frucht, das Reich Gottes, ganz von allein, ohne menschliches Zutun.

Aber auf das, was die Gemeinden einige Jahrzehnte später erlebten, schien dieses optimistische Gleichnis nicht mehr zu passen. Es war eben – im Bild gesprochen – nicht nur gute Frucht gewachsen, son­dern auch eine Menge schädliches Unkraut. Also nahm man sich die Freiheit, das Gleichnis noch einmal neu und anders zu erzählen. Mat­thäus hat diese Version in sein Evangelium übernommen. Sie ist heute Predigttext und steht In Kapitel 13:

Das Himmelreich gleicht einem Menschen, der guten Samen auf sei­nen Acker säte. Als aber die Leute schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut zwischen den Weizen und ging davon. Als nun die Saat wuchs und Frucht brachte, da fand sich auch das Unkraut. Da traten die Knechte zu dem Hausherrn und sprachen: „Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher hat er denn das Un­kraut?“ Er sprach zu ihnen: „Das hat ein Feind getan.“ Da sprachen die Knechte: „Willst du denn, dass wir hingehen und es ausjäten?“ Er sprach: Nein! Damit ihr nicht zugleich den Weizen mit ausrauft, wenn ihr das Unkraut ausjätet. Lasst beides miteinander wachsen bis zur Ernte; und um die Erntezeit will ich zu den Schnittern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündel, damit man es verbrenne; aber den Weizen sammelt mir in meine Scheune.“

Was besagt nun dieses Gleichnis, und was können wir für uns daraus lernen? Ich denke, es ist dreierlei. Erstens: Gut und Böse lassen sich unterscheiden. Zweitens: Gut und Böse lassen sich nicht säuberlich voneinander trennen. Und daraus folgt drittens: Die endgültige Schei­dung von Gut und Böse müssen wir dem Urteil Gottes überlas­sen.

Zunächst zum Ersten: Gut und Böse lassen sich unterscheiden. Das muss, glaube ich, noch mal deutlich gesagt werden in unserer freiheitli­chen Gesellschaft und unserer liberalen Volkskirche, so sehr ich beide schätze. Denn so, wie es heute ja kein Unkraut mehr gibt, sondern nur noch Wildkräuter, die mindestens so viel Daseinsberechti­gung haben wie der gezüchtete Weizen, so neigen wir heute dazu – gerade in unserer evangelischen Kirche –, dass wir jedes menschliche Verhalten, auch jede Art von Weltanschauung, irgendwie „okay“ zu finden, solange es nicht gerade gesetzlich verbo­ten ist. Aber wo alles gleich gültig ist, da wächst die Gefahr, dass alles gleichgültig wird, dass unser Glaube alle klaren Konturen verliert und sich in ein bisschen Religiosität und Mitmenschlichkeit auflöst.

Also sollten wir endlich wieder genauer hinsehen – so wie die Knechte im Gleichnis. Denn der Taumellolch, von dem da die Rede ist, gehört zwar auch zu Gottes Schöpfung, aber wegen Pilzbefalls ist er oft giftig und deshalb eine echte Gesundheitsgefahr, wenn er zwischen den Weizen gerät. Und er sieht dem Weizen zwar anfangs sehr ähnlich, aber je größer er wird, desto besser lassen sich beide unterscheiden.

Übertragen heißt das: Ein jeder prüfe sich und sein Verhalten zu­nächst mal selber! Ist das, was ich denke, sage und tue eigentlich mit dem Glauben an Jesus Christus und seiner Liebe zu den Men­schen vereinbar? Entspricht es dem, was die Bibel mir als den Willen Gottes bekundet? Die ganze Bibel meine ich damit, nicht einzelne Stellen, die ich willkürlich aus dem Zusammenhang reiße. Und wo ist es angebracht, dass ich auch andere – in aller Liebe und ohne Selbstge­rechtigkeit – auf Glaubensirrtümer und Fehlverhalten hin­weise?

Wenn ich das tue, dann könnte ich zum Beispiel darauf kommen, dass es nicht okay ist, den christlichen Glauben mit allem möglichen esoterischen Blödsinn zu vermengen. Dass es nicht okay ist, nur we­gen einer neuen „Beziehung“ meine Familie zu verlassen. Dass es nicht okay ist, dem Leben eines Behinderten, Schwerkranken oder Sterbenden den Wert abzusprechen – weder für mich selber, noch für mein ungeborenes Kind noch für irgendjemanden sonst. Dass es aber auch nicht okay ist, wenn ich es mir mit dem Bösen zu leicht zu mache und es auf simple und damit falsche Feindbilder reduziere – seien es „die“ Schwulen, „die“ Muslime, „die“ Asylanten oder wer auch immer.

Allerdings: Nicht immer wird sich das Böse, das Falsche klar benen­nen lassen. Denn Böses kann auch mal das notwendige kleinere Übel sein. Gu­tes kann zum Bösen missbraucht werden. Und in mir selber finde ich ohnehin immer beides vor. Deshalb ist es gut, dass das Gleichnis auch das Zweite sagt: Gutes und Böses lassen sich nie säuberlich voneinander trennen. Wer den Lolch ausjäten wollte, würde dabei zwangsläufig viel guten Weizen mit ausreißen. Der Scha­den wäre also viel größer als der Nutzen.

Die Kirchen haben auf diese Mahnung oft nicht hören wollen und haben es trotzdem mit dem Jäten versucht: Sie haben so genannte „Ketzer“ ausgeschlossen oder gar ums Leben gebracht, haben Kriege gegen „Ungläubige“ geführt, haben vieles als „Sünde“ gebrand­markt, was einfach nur von der selbstgesetzten Norm abwich. So haben sie genau das erreicht, was der Hausherr im Gleichnis vermei­den wollte: Sie haben Menschen verloren, die ein­fach nur auf an­dere Weise Christ sein wollten. Und sie haben vielen Christen wegen belangloser Dinge ein schlechtes Gewissen ge­macht, bis die sich schließlich abgewendet haben und vom Glauben nichts mehr wissen wollten.

Also: Wir sollten auf das Böse durchaus hinweisen, wo es sich zeigt, aber wir sollten über keinen Menschen ein Urteil sprechen. Denn wir können mit unserer Sicht der Dinge immer auch irren. Und wir übersehen gern, dass wir immer im Glashaus sitzen, wenn wir auf andere mit Steinen werfen.

Ja, aber wird es denn dann immer so bleiben? Werden wir das Böse nie los, weil es so unauflöslich mit dem Guten verwachsen ist? Und werden viele Böse ihrer Strafe entgehen, nur weil wir ihrer nicht rechtzeitig habhaft werden? Nein, sagt das Gleichnis, und das ist mein dritter und letzter Punkt: Wir müssen das endgültige Urteil Gott überlassen, aber wir können es auch getrost. Denn er vermag das, was wir nicht vermögen. Er weiß, was gut und was böse ist. Er kann und wird über jeden Menschen ein gerechtes Urteil fällen. Und er wird sich dabei nicht nach einem oberflächlichen Buchstaben des Gesetzes richten, sondern jedem Menschen in die Tiefe seiner Seele schauen, die innersten Beweggründe offenlegen und auch berücksichti­gen, wie sie zustande gekommen sind, was einen Men­schen zu dem gemacht hat, was er im Leben gewesen ist und getan hat. Durchdringend und unbestechlich wird dieser Blick in unser Innerstes sein, aber auch barmherzig und voller Liebe – um Christi willen. Ob es dann wirklich Menschen geben wird, die nur Unkraut sind, das verbrannt gehört? Vielleicht. Aber sicher gibt es viel mehr Menschen, in denen beides gewachsen ist, Unkraut und Weizen, mal mehr vom einen, mal mehr vom anderen, und oft ungefähr gleich viel. Da wird, so stelle ich es mir vor, das Verbrennen des Un­krauts ein reinigendes Feuer sein, aus dem wir als die Menschen hervorgehen, die Gott gewollt hat und liebt. Wir können von uns aus so nicht werden, aber Gott kriegt das hin, da bin ich sicher.

Und so mögen wir getrost ins neue Jahr gehen. Gutes und Böses wird es für uns und unsere Welt bereithalten, genauso wie all die Jahre davor. Möge Gott geben, dass wir das Gute erkennen und dafür dankbar sind, und dass wir das Böse erkennen, um es zu überwin­den, wo wir können – in uns selber, um uns herum, in unse­rer Welt. Möge er uns auch Geduld geben, damit wir es ertragen können, dass Unkraut und Weizen immer noch miteinander verwach­sen sind, dass Gut und Böse nicht wie Schwarz und Weiß zu trennen sind. Möge er uns helfen, dass wir uns alles Verurteilen und Verdammen verkneifen. Und möge er uns die Hoffnung schenken, dass Gottes Ernte, dass seine Herrschaft kommt und dass dann alles gut sein wird. In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein gutes und gesegnetes Jahr des Herrn 2015. Amen.