GOTTESDIENST FÜR DAS ERNTEDANKFEST

Wenschtkirche, 4.10. 2015

Text: Jes 58,7-12

Brich dem Hungrigen dein Brot,

und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus!

Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn,

und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!

Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte,

und deine Heilung wird schnell voranschreiten,

und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen,

und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen.

Dann wirst du rufen und der Herr wird dir antworten.

Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.

Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst

und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest,

sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt

und den Elenden sättigst,

dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen,

und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.

Und der Herr wird dich immerdar führen

und dich sättigen in der Dürre

und dein Gebein stärken.

Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten

und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.

Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden,

was lange wüst gelegen hat,

und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward;

und du sollst heißen: »Der die Lücken zumauert

und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne«.

 

Nein, ich habe mir diesen Predigttext für heute nicht selber ausge­sucht. Er wird für das Erntedankfest vorgeschlagen in der dritten Predigtreihe der neuen Perikopenordnung, die ich in diesem Jahr erproben soll (in der alten Ordnung übrigens auch schon). Aber ich hätte mir, wie es aussieht, kaum einen passenderen Text aussuchen können. „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus!“ – Dieser Auftrag hat uns ja mit einer Dringlichkeit eingeholt, die wir uns Anfang des Jahres noch nicht hätten vorstellen können. „Brich dem Hungrigen dein Brot“ – das war „Brot für die Welt“, das war vielleicht noch die „Siegener Tafel“ und unser geplanter Mittagstisch, aber das waren noch nicht Hunderttausende von Flüchtlingen, die bei uns Zuflucht suchen, die Brot und Obdach brauchen, aber da­nach auch Bildung und Arbeit. Und so kann ich heute in einer Pre­digt über diesen Text an diesem Thema nicht vorbei. Vielleicht hilft uns ja die biblische Perspektive, um die Dinge ein wenig klarer zu sehen.

Zunächst und vor allem: Es ist überhaupt keine Option, diesen Men­schen nicht zu helfen. Denn sie sind unsere Mitmenschen, unser „Fleisch und Blut“, wie der Text sagt – und zwar alle: nicht nur die deutschen Flücht­linge und Vertriebenen nach 1945, sondern auch die Syrer, Iraker und Eritreer, die Albaner und die Kosovaren von heute; nicht nur die Christen unter ihnen, sondern auch die Muslime; nicht nur die, die vor Krieg und Terror fliehen, sondern auch die, die aus Armut und Elend zu uns kommen. Natürlich wäre es besser, ihnen würde dort geholfen, wo sie zu Hause sind – was wir lange sträflich vernachläs­sigt haben. Natürlich kann auch das reiche Deutschland nicht ein­fach jeden aufnehmen, so dass entschieden werden muss, wer blei­ben kann und wer nicht. Natürlich darf man skrupellosen Schleusern nicht das Geschäft fördern, sondern muss ihnen das Handwerk le­gen. Und natürlich müssen europäische Lösungen her. Aber die Men­schen sind nun mal da. Oder sie sind schon unterwegs und wer­den sich nicht aufhalten lassen. Sie wollen nach Deutschland, weil sie es für ein gutes, wohlhabendes Land halten, in dem man frei und in Frieden leben kann. Und so ist es ja auch, Gott sei Dank! – Ja, ich weiß: auch bei uns gibt es Probleme. Aber bringen Sie das mal einem Ausgebombten aus Aleppo bei!

Also: Wir müssen helfen, so gut wir können; denn da kommen Men­schen, die Gott genauso geschaffen hat und liebt wie uns. Das ist schlicht und einfach Christenpflicht. Viele, viele Menschen in Deutsch­land, Christen und Nichtchristen, haben das ja auch verstan­den und packen mit an, auch hier bei uns. Dafür bin ich sehr dank­bar, und es macht mich zum ersten Mal richtig stolz auf unser Land.

Umso mehr ärgere ich mich über eine bestimmte Sorte Christen, die angeblich die Bibel besonders wörtlich nehmen, es an solchen Stel­len aber gerade nicht tun. Stattdessen malen sie immer nur die Ge­fahr der Islamisierung an die Wand, beschwören den Untergang des Abendlands und wollen höchstens verfolgte Christen bei uns aufneh­men. Um die Muslime, sagen sie, mögen sich doch bitte rei­che muslimische Staaten wie Saudi-Arabien kümmern. Nun gibt der Koran zwar auch Muslimen allen Grund, sich um Notleidende zu kümmern, und manche könnten da sicher noch mehr tun. Aber einer­seits: Würden Sie vor Assad oder vor dem „Islamischen Staat“ ausgerechnet nach Saudi-Arabien fliehen wollen? Und andererseits: In meiner Bibel lese ich nichts davon, dass ich in Sachen Nächsten­liebe erst mal auf andere zeigen und mich an deren schlechtem Bei­spiel orientieren soll. Stattdessen lese ich in unserem Text: Zeig nicht mit dem Finger und rede übel über andere, sondern lass den Hungrigen dein Herz finden! Ob sie sich das wohl sagen lassen, die selbsternannten Untergangspropheten und ihre Anhänger?

Also: Ich denke, unsere Bundeskanzlerin hat sich im Sinne unseres Predigttextes richtig entschieden, als sie die Grenzen für Flüchtlinge geöffnet hat. Und ich glaube, sie hat auch Recht, wenn sie sagt: „Wir schaffen das!“ Denn schließlich hat unser Land in den vergangenen Jahren eine reiche Ernte eingefahren – man könnte auch sagen: Gott hat uns reich beschenkt: Wir sind nun seit 25 Jahren in Frieden wiedervereint und haben das weitgehend bewältigt. Die Wirtschaft läuft gut. Die Arbeitslosenzahlen sind so niedrig und die Steuer­einnahmen so hoch wie lange nicht. Wir sind – allem gelegentli­chen Stöhnen zum Trotz – gut organisiert. Offenheit, Tole­ranz und Aufnahmebereitschaft in der Bevölkerung sind groß. Und wir brauchen Zuwanderung um den demographischen Wandel aufzu­fangen. Wer soll es also schaffen, eine große Zahl von Flüchtlin­gen zu integrieren, wenn nicht wir?

Einfach wird das freilich nicht. Schon jetzt sind Flüchtlinge nicht über­all willkommen, und nicht nur Neonazis zünden Unterkünfte an. Und die viel beschworene „Willkommenskultur“ wird noch auf harte Proben gestellt werden. Es wird Verteilungskämpfe geben zwischen Benachteiligten hier und Flüchtlingen von dort. Es wird kulturelle und religiöse Auseinandersetzungen geben – zwischen Flüchtlings­grup­pen und zwischen Flüchtlingen und Einheimischen. Es wird lange dauern, Mühe machen und Geld kosten, bis alle Deutsch können und Arbeit haben. Und es wird unter den Flüchtlin­gen immer auch Kriminelle und Fanatiker geben, die ihr eigenes gefährliches Süppchen kochen. Mit Jubel am Bahnhof und Teddys für die Kinder ist es da nicht getan.

Aber es ist halt nicht immer nur angenehm, wenn man seine Pflicht tut. Was hätten die Menschen damals in Juda denn sagen sollen, denen der Prophet ins Gewissen redet? Sie lebten in einem Land, wo der letzte Krieg zwar auch schon siebzig Jahre her war, aber anders als bei uns sah es da immer noch so aus wie damals: Jerusa­lem und der Tempel lagen in Trümmern wie kurz nach dem Abzug der babylonischen Eroberer. Viele Felder lagen brach, weil niemand da war, der sie bestellen konnte. Fremde Herrscher und feindliche Nachbarn saugten das Land aus. Und jetzt war auch noch ein Teil der Vertriebenen aus Baylon zurückgekehrt und ließ die knappen Ressourcen noch knapper werden. Auch da waren Streit und Vertei­lungskämpfe vorprogrammiert. Trotzdem bekommen die Menschen von Juda gesagt: „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus!“ Ohne jede Abstriche. Und offen­bar haben sie es beherzigt. Denn es dauerte zwar lange, aber irgend­wann ging es aufwärts: Stadt und Tempel wurden wieder aufge­baut, gerade mit Hilfe der Neuankömmlinge, und alle hatten wieder genug zum Leben. So trat ein, was der Prophet verheißen hatte: „Es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegrün­det ward; und du sollst heißen: Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne.“

Wir haben es ja auch schon mal erlebt: 12 Millionen Menschen ohne Heimat in einem zerstörten Land. Auch sie waren nicht überall willkom­men, und es war schwer, sie zu integrieren, obwohl sie Deutsch konnten. Aber es ist gelungen, und die Deutschen aus dem Osten haben das Land mit wiederaufgebaut.

Also sollten wir es auch jetzt schaffen können, wo unsere Ausgangs­lage doch so viel besser ist. Freilich haben wir auch mehr zu verlie­ren, und ich glaube, daher vor allem kommt die Angst, von der im Moment viele befallen sind. Aber Angst ist auch in diesem Fall ein schlechter Ratgeber. Unser Predigttext will deshalb damals wie heute Zuversicht und Mut verbreiten. Er tut es, indem er uns die positiven Folgen unseres Einsatzes für die Hungrigen und Obdachlo­sen vor Augen stellt.

„Deine Heilung wird schnell voranschreiten“, heißt es da etwa. Für uns mag das zum Beispiel die Heilung vom Egoismus sein. Viele Men­schen schauen nur noch auf sich selbst und ihre eigenen Bedürf­nisse und Wünsche, und das macht unsere Gesellschaft krank. Da könnte es heilsam sein, wenn wir die Flüchtlinge „unser Herz finden lassen“, wenn wir sie wahrnehmen als unser „Fleisch und Blut“ und mit ihnen teilen.

„Dann wirst du rufen, und der Herr wird dir antworten“, heißt es weiter. Dafür feiern wir ja unsere Gottesdienste: um mit Gott zu reden und auf ihn zu hören. Aber seien wir ehrlich: Viele unserer Gottesdienste wirken eher nicht so, als ob da lebendige Kommu-nika­tion stattfindet wie im richtigen Leben – weder zwi­schen uns und Gott noch zwischen uns Christen. Kein Wunder, dass sich die meisten Menschen hierzulande nicht mehr dafür interessie­ren. Könnte es nicht sein, dass es anders wird, wenn wir die Not der Welt wieder verstärkt vor unserer Haustür finden, uns darum küm­mern und sie auch vor Gott bringen? In Burbach zum Beispiel hat es die Gottesdienste belebt und verändert, dass dort jetzt immer auch Flüchtlinge aus der Siegerlandkaserne sitzen. Und bei uns würde es etwas verändern, wenn wir nicht nur heute zu Erntedank Lebens­mit­tel für unseren Mittagstisch sammeln, sondern wenn das zu einer festen Einrichtung würde. Darüber könnten wir ja mal nach­den­ken!

Und schließlich heißt es noch: „Deine Gerechtigkeit wird vor dir herge­hen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschlie­ßen.“ Mit „deine Gerechtigkeit“ ist die Gerechtigkeit Gottes ge­meint, sein Heil, das er mir zuteil werden lässt. Mit anderen Worten: Wenn wir unterwegs zu den Menschen sind, die uns brauchen, dann geht Gott uns voran und hinter uns her, dann sind wir mit ihm unter­wegs, dann sagt er uns „Siehe, hier bin ich“. Und dann gelten schon von diesem alttestamentlichen Text her die Worte Jesu Christi: „Was ihr einem unter diesen meinen geringsten Geschwis­tern getan habt, das habt ihr mir getan.“ – „Wir schaffen das“, sagt Angela Merkel. Und ich sage: „Wir schaffen das, weil Gott es will und weil er mit uns geht.“ Amen.

Ihr Pfarrer Dr. Martin Klein