Predigt vom 21.3.2010

 

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG
JUDIKA

Wenschtkirche, 21.3. 2010
Pfr. Dr. Martin Klein
Text:
Hebr 5,7-9

Christus hat
in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem
Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten
konnte; und er ist auch erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt.
So hat er, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, was er litt,
Gehorsam gelernt. Und als er vollendet war, ist er für alle, die
ihm gehorsam sind, der Urheber des ewigen Heils geworden.

Es ist eine erstaunliche
Aussage, die in diesem kurzen, aber schwierigen Text steckt. Der
allmächtige und allwissende Gott lernt etwas dazu. In seinem Sohn
Jesus Christus begibt er sich in die Schule des Leidens.

Damit wir erfassen
können, was daran so erstaunlich ist, müssen wir uns zunächst ein
paar Gedanken darüber machen, was das denn ist, die „Schule des
Leidens“. Auf jeden Fall ist es ein altmodischer Ausdruck. Heute
wird er nur noch selten verwendet, besonders in Nachrufen auf Verstorbene,
wo man sich gern ein bisschen feierlicher ausdrückt als sonst. Wenn
man da über jemanden sagt, dass er oder sie durch die Schule des
Leidens gehen musste, dann meint man, dass der oder die Betreffende
viel Schweres durchmachen musste.

Wie gesagt – es
ist ein altmodischer Ausdruck; denn vom Leiden hören, sehen und
reden wir ja heute gern so wenig wie möglich. Es gab mal eine Zeit,
da war das anders. Da fand das Leiden auch bei uns noch in der Öffentlichkeit
statt, und niemand konnte daran vorbei. Damals, 1945 folgende, hatte
jeder die zerstörten Häuser vor Augen und die Schrecken der Bombennächte
noch in den Gliedern. Auch wer den Krieg heil überlebt hatte, sah
doch täglich die Versehrten auf ihren Krücken, die Vertriebenen
auf ihrer Suche nach einer neuen Bleibe, die ausgemergelten Gestalten,
die nichts zu beißen und wenig Hoffnung hatten. Wer von Ihnen alt
genug ist, um sich daran zu erinnern, hat die Bilder sicher noch
im Kopf. Aber nun kennen wir so etwas schon lange nur noch aus dem
Fernsehen. Heute findet das Leiden weitgehend unter Ausschluss der
Öffentlichkeit statt. Wer leidet, tut es oft für sich allein – höchstens
ein paar nahe Angehörige leiden noch mit. Alle anderen verdrängen,
so gut sie können, dass es so etwas wie Leid und Schmerzen gibt
und dass es sie selbst einmal treffen könnte. Damit Sie mich nicht
falsch verstehen: Natürlich bin ich heilfroh über den langjährigen
Frieden und Wohlstand, der manche Art von Leiden bei uns kaum noch
vorkommen lässt. Ich freue mich für jeden Menschen, dem Leid und
Schmerzen erspart bleiben, und ich bin dankbar für all die Möglichkeiten,
die uns heute helfen, sie zu lindern. Das Problem ist nur: je fremder
uns das Leiden wird, desto weniger können wir damit umgehen, wenn
es uns dann doch begegnet. Dass man mit Leid und Schmerzen leben
kann, ja dass man durch Leiden sogar etwas lernen kann, dieser Gedanke
ist uns fern gerückt. Und deshalb ist „Schule des Leidens“ ein altmodischer
Ausdruck.

Aber was könnte
das denn nun sein, was man in der Schule des Leidens lernen kann?
Eine alte und immer noch beliebte Antwort auf diese Frage lautet:
Man muss vor allem lernen, sich die Angst und den Schmerz nicht
anmerken zu lassen. „Lerne leiden, ohne zu klagen“, hieß es zu Großvaters
Zeiten, „ein richtiger Junge weint nicht“, sagten meine Eltern,
„immer cool bleiben“ – heißt es heute. Mir fällt dazu der reiche
Bankier auf der Titanic ein. Als das Schiff sank, zog er seinen
Smoking an und bestellte sich eine Flasche Champagner, um wenigstens
wie ein Gentleman zu ertrinken. Oder ich denke an den Mann, den
ich mal kannte, der bis zu seinem Tod den Optimisten und starken
Beschützter seiner kranken Frau spielte, obwohl er selbst viel kränker
war als sie. Dieser Hang zur Selbstbeherrschung um jeden Preis ist
uns Männern anscheinend nicht auszutreiben. Frauen billigt man meistens
etwas mehr Gefühlsäußerungen zu, aber richtige „Heulsusen“ oder
„Klageweiber“ werden auch nicht gemocht. Dabei wissen wir doch eigentlich,
dass es uns nicht gut tut, wenn wir alles Unangenehme überspielen
oder in uns hineinfressen.

Aber „cool bleiben“
war es nicht, was Jesus durch sein Leiden gelernt hat. Denn im Text
heißt es: „Er hat Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit
Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte“. Mir fallen
dazu Szenen aus den Evangelien ein: Jesus, der am Grab seines Freundes
Lazarus in Tränen ausbricht; Jesus im Garten Getsemane, der vor
Todesangst Blut und Wasser schwitzt und Gott anfleht, ihm dieses
Schicksal zu ersparen; Jesus am Kreuz, der mit letzter Kraft seine
Verzweiflung hinaus schreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du
mich verlassen?“. Nichts steht da von gespielter Gelassenheit und
vorgetäuschtem Gleichmut, nur etwas vom nackten, ehrlichen Aufschrei
eines gequälten Menschen. Und im Hebräerbrief heißt es, dass Jesus
gerade so Gott in Ehren hielt. Denn er verzichtete auf alle Versuche,
Haltung zu bewahren und selbst mit allem fertig zu werden. Sein
Hilfeschrei galt dem, der als einziger Halt geben kann, wenn alles
zusammenbricht: er galt Gott, der in ihn vom Tod erretten konnte.

Und dieser Hilfeschrei
wurde erhört, sagt der Text. Aber stimmt das denn? Mag ja sein,
dass Gott ihn retten konnte, aber er hat es doch gerade nicht getan!
Nichts ist Jesus erspart geblieben bis zum bitteren Ende. Sein Tod
bestätigt doch anscheinend das, was viele für die wahre Lehre aus
der Schule des Leidens halten: Wenn’s dir ganz dreckig geht und
du wirklich am Ende bist, dann hilft dir keiner mehr. Dann bist
du ganz allein mit deiner Angst und deinem Schmerz. Und dann kannst
du noch so sehr zu Gott um Hilfe schreien – du wirst keine Antwort
bekommen. In Wahrheit ist da nämlich gar keiner, der dich hört.
Viele machen diese Erfahrung, und ich merke immer wieder, dass ich
kaum dagegen anreden kann. Denn ich weiß ja auch nicht, warum Gott
zu so viel unsäglichem Leid einfach schweigt.

Trotzdem: der
Text redet davon, dass Jesus erhört worden ist, und ich möchte versuchen,
zu verstehen, wie das gemeint ist. Vielleicht besteht die Erhörung
in dem, was Jesus durch sein Leiden gelernt hat. „Christus hat durch
sein Leiden Gehorsam gelernt“, sagt der Hebräerbrief. Auch das klingt
hart in unseren Ohren. Ich muss an Sklaven und Zwangsarbeiter denken,
die solange misshandelt werden, bis sie vor ihren Unterdrückern
kuschen, weil ihr Wille gebrochen ist. Hat Jesus so durch Leiden
Gehorsam gelernt? Dann hätten diejenigen recht, die unseren Gott
für einen Sadisten halten, den nur ein blutiges Opfer zufrieden
stellen kann. Aber man kann es auch anders lesen: Jesus hat in seinem
Leiden gelernt, auf Gott zu hören, ihm zu vertrauen und sich ganz
auf ihn zu verlassen. „Nicht wie ich will, sondern wie du willst“,
sagt der betende Jesus im Garten Getsemane. So hatte er bisher gelebt:
in einer ganz unmittelbaren Beziehung zu Gott, ganz eins mit dem
Willen Gottes für diese Welt. Dass er diese Beziehung zu Gott durchgehalten
hat, auch im Leiden und Sterben bis hin zum letzten Schrei am Kreuz,
das war der Gehorsam, den er gelernt hat. Und das war auch die Erhörung
seiner Gebete, seine „Errettung vom Tode“. Denn wer tot ist, hat
keine Beziehungen mehr, auch keine Beziehung zu Gott. Vor dieser
Beziehungslosigkeit hat Gott Jesus bewahrt. Er hat nicht zugelassen,
dass der Tod und die Gottverlassenheit über ihn das letzte Wort
behalten. Darum geht es, wenn wir bekennen, dass Jesus lebt, weil
Gott ihn von den Toten auferweckt hat

Aber nun noch
einmal zurück zum Anfang. Da habe ich gesagt, dass Gott selber sich
in die „Schule des Leidens“ begeben hat. Und dabei bleibe ich auch.
Denn es ist ja nicht irgendein Mensch, der hier durch Leiden Gehorsam
lernt, sondern es ist der Sohn Gottes. Und das heißt: Gott selbst
geht diesen Weg durch Leiden und Tod, den wir alle beschreiten müssen.
Wenn das stimmt, dann hat die Passionsgeschichte nicht nur Bedeutung
für den einen Menschen Jesus, sondern für alle Menschen, die Gott
geschaffen hat. Dann ist es Gott, der für uns am Kreuz stirbt, damit
wir leben können. Deshalb heißt es am Schluss des Textes: „Als er
vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber
des ewigen Heils geworden.“ Dem Gott, an den wir glauben, ist in
der Tat nichts Menschliches fremd, auch kein menschliches Leid,
denn er hat das alles am eigenen Leib erfahren. Gerade dann, wenn
Angst und Schmerzen über uns zusammenzuschlagen drohen, wenn Gott
ganz weit weg zu sein scheint, dann ist er uns in Wirklichkeit besonders
nahe – eine rettende Insel, auf die wir uns flüchten können, eine
Hand, die uns aus dem Strudel zieht. Wohl dem, der diese Hand ergreifen
kann, und sei es nur mit einem Verzweiflungsschrei, wie ihn Jesus
am Kreuz ausstieß. Ich weiß, dass ich damit nicht alle Leidenden
trösten kann und dass auch nicht alle Leidenden es so erleben. Aber
ich weiß auch von vielen, die diese Nähe Gottes erfahren haben –
im Krieg, auf der Flucht, in einer schweren Krankheit, auch auf
dem Sterbebett. Und ich kann nur hoffen und darum beten, dass mir
und Ihnen diese Erfahrung nicht versagt bleibt. Ich möchte das zum
Schluss dieser Predigt tun mit einer Liedstrophe von Paul Gerhardt:

„Wenn ich einmal soll scheiden,
so
scheide nicht von mir,
wenn ich den Tod soll leiden,
so
tritt du dann herfür;
wenn mir am allerbängsten
wird um
das Herze sein,
so reiß mich aus den Ängsten
kraft deiner
Angst und Pein.“

Amen.

 

Predigt vom 14.2.2010

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG ESTOMIHI

Talkirche, 14.2. 2010
Pfr. Dr. Martin Klein
Text:
1. Kor 13

Im Fernsehen gab es mal eine Sendung,
die hieß „Wa(h)re Liebe“.  Mit „Liebe“ war dabei Sex in allen
Variationen gemeint – musste man nicht gesehen haben. Aber den Titel,
den fand ich ziemlich genial. Denn er brachte, wie ich finde, gut
zum Ausdruck, wie es heutzutage um die Liebe bestellt ist. Das H
von „wahre Liebe“ war nämlich in Klammern gesetzt, und damit wird
der Ausdruck doppeldeutig: Entweder meint er die wahre, die echte,
die wirkliche Liebe oder er meint die Liebe als Ware, die gekauft
und verkauft wird und mit der man Geld verdienen kann. Und er stellt
wohl auch einen Zusammenhang zwischen beidem her: Je mehr Menschen
nach der wahren Liebe suchen, desto besser kann man mit der Ware
Liebe Geld verdienen. Und umgekehrt: Je mehr die Liebe zur Ware
verkommt, desto bedrängender wird die Frage, was denn wahre Liebe
ist.

Die Liebe wird zur Ware – wenn man
das hört, denkt man erst mal an Sex-Shops, Erotik-Messen und Rotlichtviertel.
Aber dass der Kommerz heutzutage über alles geht, betrifft ja nicht
nur die Erotik. Auch die so genannte Nächstenliebe ist mehr und
mehr zum Handelsgut geworden – geschäftsmäßig betrieben und kostenneutral
abgerechnet. Als Beispiel nenne ich nur die häusliche Krankenpflege:
Früher war das in jedem Fall Sache der nächsten Angehörigen – und
die taten und tun es mal freiwillig, mal eher notgedrungen, aber
auf jeden Fall umsonst. Dann gab es die gute alte Gemeindeschwester
– meist als Diakonisse zu selbstlosem Dienen bereit und zur Genügsamkeit
verpflichtet. Aber wer will das schon noch, und deshalb ist diese
Art inzwischen weitgehend ausgestorben. Heute haben wir stattdessen
ambulante Pflegedienste. Die sind fachlich besser qualifiziert als
die alten Schwestern und für die Angehörigen auf jeden Fall eine
Entlastung, aber sie müssen sich auch rechnen. Da bleibt oft nicht
mehr viel Zeit für die einzelnen Pflegebedürftigen, denn Zeit ist
Geld. Wahrscheinlich geht das nicht anders heutzutage, auch nicht
in der kirchlichen Diakonie. Aber trotzdem ist mir nicht ganz wohl
dabei: Kann es denn sein, dass wir Christen unsere organisierte
Nächstenliebe nur noch über GmbHs betreiben, auch wenn sie sich
gemeinnützig nennen?

Bleibt also die Frage, was das denn
nun ist, wahre Liebe. Was ist wahre Liebe, wenn man sich Sex aller
Arten kaufen kann und die Ehescheidungsrate bei vierzig Prozent
liegt? Was ist wahre Nächstenliebe, wenn wir alles Achtgeben auf
andere entweder ersatzlos streichen oder bezahlten Profis überlassen?

Der heutige Predigttext scheint darauf
Antwort zu geben. Nicht umsonst ist er in unseren Bibeln mit „Das
Hohelied der Liebe“ überschrieben. Und das ist immer noch ziemlich
gefragt.. „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe…“ – das kennt
man noch, auch wenn man sonst nicht mehr viel von der Bibel weiß.
Und wer von uns, die wir die Bibel schätzen, lässt sich nicht immer
wieder gern von diesem Lobpreis der Liebe in den Bann ziehen?

Aber Vorsicht! Gerade weil der Text
so schön ist, verführt er uns leicht zum „Abheben“. Wir geraten
beim Lesen oder Hören ins Schwärmen und denken uns: „Hach ja, genauso
ist das mit der Liebe!“ – und ansonsten ändert sich gar nichts.
Aber Paulus möchte keine fromme Schnulze singen, er möchte auch
keine schöngeistige Festrede halten. Er hat eine Gemeinde vor Augen,
in der es handfesten Krach gibt. Und alles, was er über die Liebe
schreibt, hat es ganz konkret mit dem Krach in Korinth zu tun.  Deshalb
ist das „Hohelied der Liebe“ auch ganz und gar nicht lieb gemeint.
Im Gegenteil: Wenn wir es ernst nehmen wollen, dann müssen wir bereit
sein, uns radikal in Frage stellen zu lassen – gerade mit dem, was
wir für unsere guten Seiten, ja für die guten Seiten unseres Christseins
halten. Hören wir also noch mal genau hin:

Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen
redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder
eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und
wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben,
so dass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so
wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und
ließe meinen Leib verbrennen, und hätte die Liebe nicht, so wäre
mir’s nichts nütze.

Wie radikal das ist, das merke ich,
wenn ich es versuchsweise auf mich selber anwende:

Nehmen wir mal an, ich hätte einen
Weg gefunden, wie ich ganz normalen Menschen von heute das Evangelium
so verkünden könnte, dass sie es wirklich verstehen. Nehmen wir
an, sie würden in Scharen in meine Gottesdienste strömen, weil sie
spüren, dass ich ihnen Wichtiges zu sagen habe. Nehmen wir an, sie
würden mich gern als Seelsorger in Anspruch nehmen, weil sie sich
von mir so gut verstanden fühlen und das Gespräch mit mir als große
Hilfe erleben: Wenn ich es nicht aus Liebe zu diesen Menschen täte,
wenn ich es nur täte, um bewundert zu werden, wenn ich es nur täte,
damit die Kirche ihre Steuerzahler behält oder wiedergewinnt – dann
wäre auch meine beste Predigt nur leeres Wortgeklingel und ich selbst
wäre ein gefährlicher Demagoge.

Nehmen wir mal an, ich würde ernst
nehmen, was Jesus dem reichen Jüngling sagt: „Geh hin, verkaufe
alles, was du hast, und gib es den Armen!“ Nehmen wir an, ich würde
meinen sicheren Posten mit A13 und Pensionsanspruch aufgeben, meinen
ganzen Hausrat verkaufen und das Geld an „Brot für die Welt“ spenden.
Nehmen wir an, ich würde dann irgendwo in die Slums von Rio oder
Kalkutta gehen und meine ganze Kraft den Ärmsten der Armen widmen.
Wenn ich es nicht aus Liebe zu diesen Menschen täte, wenn ich es
nur täte, um mich selbst zu bestätigen, wenn ich es nur täte, um
mein schlechtes Gewissen zu beruhigen, wenn ich es nur täte um ein
Zeichen zu setzen, dann wäre das nichts wert – gar nichts.

Wir sollten uns also gut überlegen,
warum wir als Christen dies oder jenes tun. Tun wir es aus Zwang,
aus Pflichtgefühl, aus Gewissensnot – oder aus Liebe? Tun wir es
für uns selbst, für den Pastor oder die Kirche oder wirklich für
unsere Mitmenschen und damit für Gott? Mir fällt es schwer zu sagen,
dass wir es sonst lassen sollten. Denn dann bliebe bestimmt viel
Gutes ungetan. Doch wir sollten uns diese kritischen Fragen gefallen
lassen und unser Handeln an ihnen prüfen.

Aber wie sieht sie denn nun konkret
aus, die Liebe? Paulus beschreibt sie so:

Die Liebe ist langmütig und freundlich,
die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht
sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht
das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht
zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich
aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft
alles, sie duldet alles.

Über jede einzelne dieser Aussagen
könnte man lange reden. Aber für eine Predigt wäre das „zuviel auf
einen Bissen“, wie Luther sagt. Deshalb stattdessen ein Beispiel
– es ist nicht besonders spektakulär, aber es hat mich trotzdem
beeindruckt. In meiner ersten Gemeinde in Bochum gab es eine alte
Frau, die ich öfter besucht habe. Sie lebte in einem kleinen Hinterhäuschen,
kaum größer und stabiler als eine Gartenlaube. Sie war blind und
fast taub und konnte auch nicht mehr laufen. Aber sie hatte viel
zu erzählen. Seit sie vierzehn war, hatte sie hart arbeiten müssen:
erst in der Landwirtschaft ihres Großvaters, später für den Unterhalt
ihrer Familie. Im Krieg hatte sie alles verloren, als ihr Haus zerbombt
wurde. Trotzdem hatte sie noch die halbe Verwandtschaft mit durchgebracht.
Ihr Mann war Bergmann und früh gestorben; vorher hatte sie ihn mit
seiner Staublunge jahrzehntelang gepflegt. Und auch danach lebte
sie nur für ihre Kinder, Enkel, Urenkel und gönnte sich selber nichts.
Wahrlich kein leichtes Leben! Doch wenn man sie fragte, wie sie
das alles bloß geschafft habe, dann sagte sie: „Mit viel Liebe!
Denn mit Liebe kommt man weiter als mit Schimpfen und mit Jammern.“
Und so einfach und schlicht, wie sie das sagte, musste man es ihr
einfach glauben.

Die Liebe hört niemals auf, sagt
Paulus, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden
aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen
ist Stückwerk, und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn
aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.
Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie
ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde,
tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel
ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne
ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.

Auch zu diesem Abschnitt gäbe es
viel zu sagen. Ich möchte mich wieder auf Eines beschränken. Paulus
sagt, dass die Liebe niemals aufhört. Stimmt das denn? Wer kann
denn seinen Ehepartner, seine Kinder, seine Mitmenschen immer nur
lieben, auch wenn sie einem das Leben schwer machen? Wer meint,
dass er das kann, sollte jedenfalls niemals eine Familie gründen
oder einen sozialen Beruf ergreifen. Dass die Liebe niemals aufhört,
kann Paulus nur sagen, weil er von der Liebe Gottes redet. Gott
wird zwar in diesem Kapitel kein einziges Mal erwähnt, aber trotzdem
ist er gegenwärtig bei allem, was Paulus über die Liebe sagt. Denn
was wir uns unter wahrer Liebe vorstellen, das ist doch ungefähr
folgendes: Wenn ich einen anderen wirklich liebe, dann nehme ich
ihn genauso, wie er ist – sonst würde ich ja nicht gerade diesen
bestimmten Menschen lieben. Aber wenn der andere das spürt, dass
ich ihn gerade so lieb habe, wie er ist, wenn ich bei ihm auf Gegenliebe
stoße, dann wird gerade das ihn verändern. Liebe und Gegenliebe
machen andere Menschen aus uns. Und was bei uns Menschen immer nur
Stückwerk bleibt, das ist bei Gott vollkommen. Er liebt uns so,
wie wir sind, ohne Bedingungen und Gegenleistungen. Und er lässt
sich davon nicht abbringen, auch wenn er bei uns auf keine Gegenliebe
stößt. Wenn es ihm aber gelingt, uns von seiner Liebe zu überzeugen,
so dass wir sie erwidern, dann verändert sich unser ganzes Leben.
Dann werden wir etwas davon spüren, was Paulus an einer anderen
Stelle sagt: dass die Liebe Gottes ausgegossen ist in unser Herz.
Und dann gelingt es uns vielleicht, dass wir mit viel Liebe die
Schwierigkeiten unseres Lebens meistern, so wie die alte Frau, von
der ich erzählt habe. Dann kann über ihrem und unserem Leben der
Satz stehen, mit dem Paulus sein „Hohes Lied der Liebe“ abschließt:
Nun
aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe
ist die größte unter ihnen.

Amen.

Predigten vom 7.2.2010

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG
SEXAGESIMAE

Talkirche, 7.2. 2010
Pfr. Dr. Martin Klein
Text:
Hebr 4,12-13

Zurzeit sind unsere
diesjährigen Konfirmanden dabei, sich ihren Konfirmationsspruch
auszusuchen. Das gibt ihnen Gelegenheit, sich noch mal genauer mit
Worten der Bibel zu beschäftigen und dann eines zu finden, das zu
ihnen passt, das ihnen etwas bedeutet und sie durchs weitere Leben
begleiten kann. Ein Spruch, der in den letzten Jahren recht beliebt
war und es wohl auch in diesem Jahr wieder sein wird, ist ein Satz
aus dem ersten Johannesbrief: „Lasst uns nicht lieben mit Worten
noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit.“

Worte, zeigt mir
diese Wahl, haben heutzutage für viele junge Leute keinen hohen
Stellenwert. Die Menge an Wörtern, mit denen sie und wir alle tagtäglich
„zugetextet“ werden, hat ja auch längst inflationäre Ausmaße angenommen.
Da wird geredet und telefoniert und gemailt und gechattet und gesimst,
was das Zeug hält – morgens, mittags, abends und nachts. Soviel
Kommunikation war nie – und das ist doch gut, könnte man denken.
Aber ich habe den Eindruck, dass es bei all dem, was da geredet
und gesendet wird, immer weniger um echtes Gespräch geht. Reden
dient nicht einer Sache oder der Verständigung und erst recht nicht
der Wahrheit, sondern hauptsächlich der Selbstdarstellung, gern
auch auf Kosten anderer. Selbst wenn man mal nicht von sich selber
redet, redet man noch längst nicht miteinander, sondern abfällig
übereinander oder aggressiv aufeinander ein. Und einfach mal aufmerksam
zuhören statt selber reden, geht schon gar nicht. Es ist das Prinzip
„Talkshow“, das hier regiert, und es durchdringt mehr und mehr alle
Lebensbereiche. Kein Wunder also, dass viele es den Worten nicht
zutrauen, so etwas wie echte Mitmenschlichkeit auszudrücken. Wenn
es um wahre Liebe geht, sei es die Liebe zwischen den Geschlechtern
oder auch die Nächstenliebe, sind Taten statt Worte gefragt. Vielleicht
sind auch die nicht immer ehrlich gemeint, aber sie haben wenigstens
Wirkung.

Eine Kirche wie
unsere, die sich „allein auf das Wort“ stützen will, hat in solchen
Zeiten ein Problem, erst recht, wenn sie – klassisch reformiert
– dieses Wort vor allem als gesprochenes oder geschriebenes Wort
versteht. Alles, was wir von unserem Glauben her sagen, was uns
– wie wir es sehen – zu sagen aufgetragen ist, droht im allgemeinen
Blabla unterzugehen. Eine Predigt, sie mag so eingängig formuliert
sein, wie sie will, ist eben auf die Fähigkeit angewiesen, dass
Menschen eine Viertelstunde oder mehr aufmerksam zuhören können
– aber wer kann das heute noch? Mit einer Bibel, auch wenn’s die
„Gute Nachricht“ oder „Hoffnung für alle“ ist, kann nur etwas anfangen,
wer den Umgang mit Büchern gewohnt ist – aber immer mehr Menschen
haben noch nie freiwillig ein Buch in der Hand gehabt. Ein Gespräch
über Glaubensfragen macht nur Sinn, wenn es dafür eine gemeinsame
Basis gibt – und die ist schwer zu finden, wo alle nur noch von
sich selber reden und jeder nur noch für sich selber glaubt. Und
die wenigen Christen, die in der breiten Öffentlichkeit noch Gehör
finden und da schon mal Klartext sprechen, müssen damit leben, dass
selbst deutliche Worte hinterher hoffnungslos zerredet werden. So
geht es Margot Käßmann gerade mit ihren Äußerungen zu Afghanistan.
Also was nun? Was können wir da noch ausrichten?

Vor Jahren hatte
ich mal einen Konfirmanden, der sich folgendes Bibelwort als Konfirmationsspruch
aussuchte. Es steht im vierten Kapitel des Hebräerbriefs und ist
heute Predigttext:

Das Wort Gottes
ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert,
und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und
Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und
kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und
aufgedeckt vor seinen Augen; ihm müssen wir Rechenschaft geben.

Eine ungewöhnlicher
Konfirmationsspruch, einer, der auf keiner der gängigen Auswahllisten
verzeichnet war. Und es war lange, bevor er in verstümmelter Form
(„lebendig – kräftig – schärfer“) Kirchentagsmotto wurde. Als ich
den betreffenden Konfirmanden fragte, warum er sich gerade diesen
Spruch ausgewählt habe, konnte oder wollte er mir darauf gar nicht
antworten. Vielleicht hatte ihn einfach das Ungewohnte, Unangepasste
gereizt – das hätte zu ihm gepasst – , vielleicht war es aber auch
einfach die Sehnsucht nach einem klaren und deutlichen Wort in all
dem dummen Geschwätz, das uns umgibt.

Und genau das
ist ja für uns das Wort Gottes, das Wort, auf das sich unsere Kirche
gründet, das Wort, das wir heute dringender brauchen denn je. Das
Wort Gottes selbst – nicht öde und langweilig, wie mancher sicher
auch diese Predigt findet, sondern lebendig und belebend. Nicht
gut gemeint, aber wirkungslos, sondern kräftig wie das Wort des
Schöpfers: „Gott sprach, und es geschah so“. Keine belanglosen Nettigkeiten,
die keinem wehtun und niemandem zu nahe treten, sondern die ungeschminkte
Wahrheit, die uns mit ihrer ganzen Schärfe durch Mark und Bein fährt,
die all unsere sorgsam gehüteten Lebenslügen zerschneidet, die unser
wahres Ich entblößt und uns davor erschrecken lässt, die uns aber
auch den Weg zeigt, auf dem wir Heilung finden.

Ja, das ist das
eine Wort, dass wir bitter nötig haben in all den Wörterfluten,
die über uns hereinbrechen. Es beschränkt sich nicht auf allgemeine
„Gott-hat-dich-lieb“-Sätze, harmlos und deshalb wirkungslos. Es
verteilt keine Streicheleinheiten, dieses Wort, sondern Stiche,
die sitzen. Es lässt nicht den lieben Gott einen guten Mann sein,
sondern es verleiht der Liebe Gottes Kraft und Konturen, denn es
verbindet die Liebe mit der Unbestechlichkeit des Richters.

Noch einmal, wir
haben dieses Wort Gottes heute nötiger denn je. Und doch schrecke
ich vor diesem Bild unwillkürlich zurück. „Das Wort Gottes – schärfer
als ein zweischneidiges Schwert“, das bereitet mir Unbehagen. Ich
kann einfach nicht verdrängen, dass scharfe Waffen in den falschen
Händen schlimmen Schaden anrichten. Ich kann nicht vergessen, was
man mir und anderen gerade hier im Siegerland lange Zeit gepredigt
hat. Da war Gott eben zuerst und vor allem der strenge Richter,
der alles sieht und weiß, und erst dann der Gott der Liebe. Und
so haben viele das Wort Gottes nie als befreiende, froh machende
Botschaft erlebt, sondern nur als Werkzeug einer unbarmherzigen
Erziehung. Aus dem zweischneidigen Schwert wurde ein Messer an der
Kehle, von dem mancher froh war, wenn er es endlich abschütteln
konnte.

In manchen Familien,
manchen engen, abgeschotteten Gemeinschaften mag es heute noch so
zugehen, aber die sind zum Glück klein und selten geworden. Zuviel
religiös verbrämte Strenge ist sicher nicht mehr das Hauptproblem
heutiger Erziehungs- und Gesellschaftsformen – von streng muslimischen
Parallelwelten rede ich jetzt mal nicht. Doch viele, die heute als
Verkündiger des Wortes Gottes arbeiten, ich selber auch, sind noch
von dieser Strenge geprägt. Deshalb ist es uns wichtig, wenn wir
von Gott reden, dass wir immer zuerst und vor allem von seiner grenzenlosen
Liebe reden. Und ein Liebender, der quasi mit dem Schwert auf mich
losgeht, wirkt da einfach immer noch befremdlich.

Andererseits ist
mir klar: einen Gott, der nur noch lieb ist, den nimmt keiner mehr
ernst und den braucht auch keiner. Das ist wohl heute die größere
Gefahr, und ich muss mich als Verkündiger der Liebe Gottes selbstkritisch
fragen, ob und wie ich zu diesem Missverständnis beigetragen habe.
Den strengen Aufpassergott will niemand zurück, doch der feine,
aber entscheidende Unterschied zwischen „Gott ist lieb“ und „Gott
ist die Liebe“, der müsste wieder deutlicher werden, wenn Gottes
Wort mehr Gehör finden soll.

Aber wie kann
das geschehen? Muss ich jetzt sozusagen rhetorisch aufrüsten und
selber das scharfe Schwert schwingen, nur noch einfache Sätze ohne
Zwischentöne von mir geben, die ein schlichtes Ja oder Nein verlangen?
Muss ich es darauf anlegen, Menschen vor den Kopf zu stoßen, indem
ich ihnen ungeschminkt die Wahrheit sage? Muss ich alle Schutzschilde
durchdringen, die meine Zuhörer um sich aufgebaut haben, um sie
in ihrem tiefsten Inneren zu treffen und zu überwinden?

Nein, das muss
ich nicht. Denn ich bin nicht Gott, und meine Worte sind nicht Gottes
Wort. Ich kann nur hoffen, dass Gottes Wort durch meine Worte hindurch
zu den Menschen findet, aber ich habe es nicht in meinen Händen.
Ich kann auf Gottes Wort nur hinweisen, und das tue ich am besten,
indem ich auf Jesus hinweise, denn – so fängt der Hebräerbrief an
– „nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet
hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er in diesen letzten
Tagen zu uns geredet durch den Sohn.“ (Hebr 1,1-2) Er ist das Wort
Gottes in Person. Mi ihm und durch ihn hat Gott alles gesagt, was
über Gott und die Welt zu sagen ist. Er verkörpert Gottes Liebe
und hat sie allen Menschen ohne Unterschied zuteil werden lassen.
An ihm sehen wir aber auch, wie nötig wir Gottes Liebe haben – so
nötig, das Gott in seinem Sohn dafür sterben musste. Er sieht nicht
großzügig darüber hinweg, wie fern wir ihm sind, weil er halt so
lieb ist, sondern er weiß, dass diese Gottesferne für uns den Tod
bedeutet, und nimmt sie deshalb auf sich, um sie zu überwinden.
Immer nur lieb sein macht schwach, aber echte Liebe ist lebendig
und kräftig und stärker als der Tod.

Dieses Wort Gottes,
dieses Wort von seiner Liebe, das durchdringt, alles aufdeckt und
allen Schaden heilt, haben wir im Rücken, wenn wir von Gott reden.
Und wir haben die großartige Verheißung, dass durch unser Reden,
so unvollkommen es auch sein mag, Gott zu den Menschen sprechen
wird – nicht, wenn wir meinen, wir hätten es besonders gut und deutlich
gesagt, sondern wann und wo es ihm gefällt. Und wenn das geschieht,
wenn jemand dieses Wort Gottes wirklich vernommen hat, dann will
und wird er oder sie ihm wieder begegnen – auch in Predigten, die
nach den Maßstäben der Redekunst eher misslungen sind, auch in diesem
dicken, eng bedruckten Buch ohne Bilder namens Bibel, auch im Gespräch
mit Glaubensgeschwistern. Und all das belanglose Geschwätz, dass
uns ständig in den Ohren klingelt, kann sie oder er dann getrost
überhören.

Also fassen wir
Mut! Reden wir von Gott, von Jesus, wie uns der Schnabel gewachsen
ist, und handeln wir danach! Es muss in keiner Weise gekonnt sein,
sondern nur echt und ehrlich. Dass das, was wir dann reden und tun,
lebendig und wirksam wird und die nötige Schärfe gewinnt, dafür
wird Gott schon sorgen.

Amen.

 

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