Predigt vom 14.2.2010

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG ESTOMIHI

Talkirche, 14.2. 2010
Pfr. Dr. Martin Klein
Text:
1. Kor 13

Im Fernsehen gab es mal eine Sendung,
die hieß „Wa(h)re Liebe“.  Mit „Liebe“ war dabei Sex in allen
Variationen gemeint – musste man nicht gesehen haben. Aber den Titel,
den fand ich ziemlich genial. Denn er brachte, wie ich finde, gut
zum Ausdruck, wie es heutzutage um die Liebe bestellt ist. Das H
von „wahre Liebe“ war nämlich in Klammern gesetzt, und damit wird
der Ausdruck doppeldeutig: Entweder meint er die wahre, die echte,
die wirkliche Liebe oder er meint die Liebe als Ware, die gekauft
und verkauft wird und mit der man Geld verdienen kann. Und er stellt
wohl auch einen Zusammenhang zwischen beidem her: Je mehr Menschen
nach der wahren Liebe suchen, desto besser kann man mit der Ware
Liebe Geld verdienen. Und umgekehrt: Je mehr die Liebe zur Ware
verkommt, desto bedrängender wird die Frage, was denn wahre Liebe
ist.

Die Liebe wird zur Ware – wenn man
das hört, denkt man erst mal an Sex-Shops, Erotik-Messen und Rotlichtviertel.
Aber dass der Kommerz heutzutage über alles geht, betrifft ja nicht
nur die Erotik. Auch die so genannte Nächstenliebe ist mehr und
mehr zum Handelsgut geworden – geschäftsmäßig betrieben und kostenneutral
abgerechnet. Als Beispiel nenne ich nur die häusliche Krankenpflege:
Früher war das in jedem Fall Sache der nächsten Angehörigen – und
die taten und tun es mal freiwillig, mal eher notgedrungen, aber
auf jeden Fall umsonst. Dann gab es die gute alte Gemeindeschwester
– meist als Diakonisse zu selbstlosem Dienen bereit und zur Genügsamkeit
verpflichtet. Aber wer will das schon noch, und deshalb ist diese
Art inzwischen weitgehend ausgestorben. Heute haben wir stattdessen
ambulante Pflegedienste. Die sind fachlich besser qualifiziert als
die alten Schwestern und für die Angehörigen auf jeden Fall eine
Entlastung, aber sie müssen sich auch rechnen. Da bleibt oft nicht
mehr viel Zeit für die einzelnen Pflegebedürftigen, denn Zeit ist
Geld. Wahrscheinlich geht das nicht anders heutzutage, auch nicht
in der kirchlichen Diakonie. Aber trotzdem ist mir nicht ganz wohl
dabei: Kann es denn sein, dass wir Christen unsere organisierte
Nächstenliebe nur noch über GmbHs betreiben, auch wenn sie sich
gemeinnützig nennen?

Bleibt also die Frage, was das denn
nun ist, wahre Liebe. Was ist wahre Liebe, wenn man sich Sex aller
Arten kaufen kann und die Ehescheidungsrate bei vierzig Prozent
liegt? Was ist wahre Nächstenliebe, wenn wir alles Achtgeben auf
andere entweder ersatzlos streichen oder bezahlten Profis überlassen?

Der heutige Predigttext scheint darauf
Antwort zu geben. Nicht umsonst ist er in unseren Bibeln mit „Das
Hohelied der Liebe“ überschrieben. Und das ist immer noch ziemlich
gefragt.. „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe…“ – das kennt
man noch, auch wenn man sonst nicht mehr viel von der Bibel weiß.
Und wer von uns, die wir die Bibel schätzen, lässt sich nicht immer
wieder gern von diesem Lobpreis der Liebe in den Bann ziehen?

Aber Vorsicht! Gerade weil der Text
so schön ist, verführt er uns leicht zum „Abheben“. Wir geraten
beim Lesen oder Hören ins Schwärmen und denken uns: „Hach ja, genauso
ist das mit der Liebe!“ – und ansonsten ändert sich gar nichts.
Aber Paulus möchte keine fromme Schnulze singen, er möchte auch
keine schöngeistige Festrede halten. Er hat eine Gemeinde vor Augen,
in der es handfesten Krach gibt. Und alles, was er über die Liebe
schreibt, hat es ganz konkret mit dem Krach in Korinth zu tun.  Deshalb
ist das „Hohelied der Liebe“ auch ganz und gar nicht lieb gemeint.
Im Gegenteil: Wenn wir es ernst nehmen wollen, dann müssen wir bereit
sein, uns radikal in Frage stellen zu lassen – gerade mit dem, was
wir für unsere guten Seiten, ja für die guten Seiten unseres Christseins
halten. Hören wir also noch mal genau hin:

Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen
redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder
eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und
wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben,
so dass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so
wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und
ließe meinen Leib verbrennen, und hätte die Liebe nicht, so wäre
mir’s nichts nütze.

Wie radikal das ist, das merke ich,
wenn ich es versuchsweise auf mich selber anwende:

Nehmen wir mal an, ich hätte einen
Weg gefunden, wie ich ganz normalen Menschen von heute das Evangelium
so verkünden könnte, dass sie es wirklich verstehen. Nehmen wir
an, sie würden in Scharen in meine Gottesdienste strömen, weil sie
spüren, dass ich ihnen Wichtiges zu sagen habe. Nehmen wir an, sie
würden mich gern als Seelsorger in Anspruch nehmen, weil sie sich
von mir so gut verstanden fühlen und das Gespräch mit mir als große
Hilfe erleben: Wenn ich es nicht aus Liebe zu diesen Menschen täte,
wenn ich es nur täte, um bewundert zu werden, wenn ich es nur täte,
damit die Kirche ihre Steuerzahler behält oder wiedergewinnt – dann
wäre auch meine beste Predigt nur leeres Wortgeklingel und ich selbst
wäre ein gefährlicher Demagoge.

Nehmen wir mal an, ich würde ernst
nehmen, was Jesus dem reichen Jüngling sagt: „Geh hin, verkaufe
alles, was du hast, und gib es den Armen!“ Nehmen wir an, ich würde
meinen sicheren Posten mit A13 und Pensionsanspruch aufgeben, meinen
ganzen Hausrat verkaufen und das Geld an „Brot für die Welt“ spenden.
Nehmen wir an, ich würde dann irgendwo in die Slums von Rio oder
Kalkutta gehen und meine ganze Kraft den Ärmsten der Armen widmen.
Wenn ich es nicht aus Liebe zu diesen Menschen täte, wenn ich es
nur täte, um mich selbst zu bestätigen, wenn ich es nur täte, um
mein schlechtes Gewissen zu beruhigen, wenn ich es nur täte um ein
Zeichen zu setzen, dann wäre das nichts wert – gar nichts.

Wir sollten uns also gut überlegen,
warum wir als Christen dies oder jenes tun. Tun wir es aus Zwang,
aus Pflichtgefühl, aus Gewissensnot – oder aus Liebe? Tun wir es
für uns selbst, für den Pastor oder die Kirche oder wirklich für
unsere Mitmenschen und damit für Gott? Mir fällt es schwer zu sagen,
dass wir es sonst lassen sollten. Denn dann bliebe bestimmt viel
Gutes ungetan. Doch wir sollten uns diese kritischen Fragen gefallen
lassen und unser Handeln an ihnen prüfen.

Aber wie sieht sie denn nun konkret
aus, die Liebe? Paulus beschreibt sie so:

Die Liebe ist langmütig und freundlich,
die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht
sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht
das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht
zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich
aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft
alles, sie duldet alles.

Über jede einzelne dieser Aussagen
könnte man lange reden. Aber für eine Predigt wäre das „zuviel auf
einen Bissen“, wie Luther sagt. Deshalb stattdessen ein Beispiel
– es ist nicht besonders spektakulär, aber es hat mich trotzdem
beeindruckt. In meiner ersten Gemeinde in Bochum gab es eine alte
Frau, die ich öfter besucht habe. Sie lebte in einem kleinen Hinterhäuschen,
kaum größer und stabiler als eine Gartenlaube. Sie war blind und
fast taub und konnte auch nicht mehr laufen. Aber sie hatte viel
zu erzählen. Seit sie vierzehn war, hatte sie hart arbeiten müssen:
erst in der Landwirtschaft ihres Großvaters, später für den Unterhalt
ihrer Familie. Im Krieg hatte sie alles verloren, als ihr Haus zerbombt
wurde. Trotzdem hatte sie noch die halbe Verwandtschaft mit durchgebracht.
Ihr Mann war Bergmann und früh gestorben; vorher hatte sie ihn mit
seiner Staublunge jahrzehntelang gepflegt. Und auch danach lebte
sie nur für ihre Kinder, Enkel, Urenkel und gönnte sich selber nichts.
Wahrlich kein leichtes Leben! Doch wenn man sie fragte, wie sie
das alles bloß geschafft habe, dann sagte sie: „Mit viel Liebe!
Denn mit Liebe kommt man weiter als mit Schimpfen und mit Jammern.“
Und so einfach und schlicht, wie sie das sagte, musste man es ihr
einfach glauben.

Die Liebe hört niemals auf, sagt
Paulus, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden
aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen
ist Stückwerk, und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn
aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.
Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie
ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde,
tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel
ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne
ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.

Auch zu diesem Abschnitt gäbe es
viel zu sagen. Ich möchte mich wieder auf Eines beschränken. Paulus
sagt, dass die Liebe niemals aufhört. Stimmt das denn? Wer kann
denn seinen Ehepartner, seine Kinder, seine Mitmenschen immer nur
lieben, auch wenn sie einem das Leben schwer machen? Wer meint,
dass er das kann, sollte jedenfalls niemals eine Familie gründen
oder einen sozialen Beruf ergreifen. Dass die Liebe niemals aufhört,
kann Paulus nur sagen, weil er von der Liebe Gottes redet. Gott
wird zwar in diesem Kapitel kein einziges Mal erwähnt, aber trotzdem
ist er gegenwärtig bei allem, was Paulus über die Liebe sagt. Denn
was wir uns unter wahrer Liebe vorstellen, das ist doch ungefähr
folgendes: Wenn ich einen anderen wirklich liebe, dann nehme ich
ihn genauso, wie er ist – sonst würde ich ja nicht gerade diesen
bestimmten Menschen lieben. Aber wenn der andere das spürt, dass
ich ihn gerade so lieb habe, wie er ist, wenn ich bei ihm auf Gegenliebe
stoße, dann wird gerade das ihn verändern. Liebe und Gegenliebe
machen andere Menschen aus uns. Und was bei uns Menschen immer nur
Stückwerk bleibt, das ist bei Gott vollkommen. Er liebt uns so,
wie wir sind, ohne Bedingungen und Gegenleistungen. Und er lässt
sich davon nicht abbringen, auch wenn er bei uns auf keine Gegenliebe
stößt. Wenn es ihm aber gelingt, uns von seiner Liebe zu überzeugen,
so dass wir sie erwidern, dann verändert sich unser ganzes Leben.
Dann werden wir etwas davon spüren, was Paulus an einer anderen
Stelle sagt: dass die Liebe Gottes ausgegossen ist in unser Herz.
Und dann gelingt es uns vielleicht, dass wir mit viel Liebe die
Schwierigkeiten unseres Lebens meistern, so wie die alte Frau, von
der ich erzählt habe. Dann kann über ihrem und unserem Leben der
Satz stehen, mit dem Paulus sein „Hohes Lied der Liebe“ abschließt:
Nun
aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe
ist die größte unter ihnen.

Amen.