Predigt vom 21.3.2010

 

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG
JUDIKA

Wenschtkirche, 21.3. 2010
Pfr. Dr. Martin Klein
Text:
Hebr 5,7-9

Christus hat
in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem
Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten
konnte; und er ist auch erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt.
So hat er, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, was er litt,
Gehorsam gelernt. Und als er vollendet war, ist er für alle, die
ihm gehorsam sind, der Urheber des ewigen Heils geworden.

Es ist eine erstaunliche
Aussage, die in diesem kurzen, aber schwierigen Text steckt. Der
allmächtige und allwissende Gott lernt etwas dazu. In seinem Sohn
Jesus Christus begibt er sich in die Schule des Leidens.

Damit wir erfassen
können, was daran so erstaunlich ist, müssen wir uns zunächst ein
paar Gedanken darüber machen, was das denn ist, die „Schule des
Leidens“. Auf jeden Fall ist es ein altmodischer Ausdruck. Heute
wird er nur noch selten verwendet, besonders in Nachrufen auf Verstorbene,
wo man sich gern ein bisschen feierlicher ausdrückt als sonst. Wenn
man da über jemanden sagt, dass er oder sie durch die Schule des
Leidens gehen musste, dann meint man, dass der oder die Betreffende
viel Schweres durchmachen musste.

Wie gesagt – es
ist ein altmodischer Ausdruck; denn vom Leiden hören, sehen und
reden wir ja heute gern so wenig wie möglich. Es gab mal eine Zeit,
da war das anders. Da fand das Leiden auch bei uns noch in der Öffentlichkeit
statt, und niemand konnte daran vorbei. Damals, 1945 folgende, hatte
jeder die zerstörten Häuser vor Augen und die Schrecken der Bombennächte
noch in den Gliedern. Auch wer den Krieg heil überlebt hatte, sah
doch täglich die Versehrten auf ihren Krücken, die Vertriebenen
auf ihrer Suche nach einer neuen Bleibe, die ausgemergelten Gestalten,
die nichts zu beißen und wenig Hoffnung hatten. Wer von Ihnen alt
genug ist, um sich daran zu erinnern, hat die Bilder sicher noch
im Kopf. Aber nun kennen wir so etwas schon lange nur noch aus dem
Fernsehen. Heute findet das Leiden weitgehend unter Ausschluss der
Öffentlichkeit statt. Wer leidet, tut es oft für sich allein – höchstens
ein paar nahe Angehörige leiden noch mit. Alle anderen verdrängen,
so gut sie können, dass es so etwas wie Leid und Schmerzen gibt
und dass es sie selbst einmal treffen könnte. Damit Sie mich nicht
falsch verstehen: Natürlich bin ich heilfroh über den langjährigen
Frieden und Wohlstand, der manche Art von Leiden bei uns kaum noch
vorkommen lässt. Ich freue mich für jeden Menschen, dem Leid und
Schmerzen erspart bleiben, und ich bin dankbar für all die Möglichkeiten,
die uns heute helfen, sie zu lindern. Das Problem ist nur: je fremder
uns das Leiden wird, desto weniger können wir damit umgehen, wenn
es uns dann doch begegnet. Dass man mit Leid und Schmerzen leben
kann, ja dass man durch Leiden sogar etwas lernen kann, dieser Gedanke
ist uns fern gerückt. Und deshalb ist „Schule des Leidens“ ein altmodischer
Ausdruck.

Aber was könnte
das denn nun sein, was man in der Schule des Leidens lernen kann?
Eine alte und immer noch beliebte Antwort auf diese Frage lautet:
Man muss vor allem lernen, sich die Angst und den Schmerz nicht
anmerken zu lassen. „Lerne leiden, ohne zu klagen“, hieß es zu Großvaters
Zeiten, „ein richtiger Junge weint nicht“, sagten meine Eltern,
„immer cool bleiben“ – heißt es heute. Mir fällt dazu der reiche
Bankier auf der Titanic ein. Als das Schiff sank, zog er seinen
Smoking an und bestellte sich eine Flasche Champagner, um wenigstens
wie ein Gentleman zu ertrinken. Oder ich denke an den Mann, den
ich mal kannte, der bis zu seinem Tod den Optimisten und starken
Beschützter seiner kranken Frau spielte, obwohl er selbst viel kränker
war als sie. Dieser Hang zur Selbstbeherrschung um jeden Preis ist
uns Männern anscheinend nicht auszutreiben. Frauen billigt man meistens
etwas mehr Gefühlsäußerungen zu, aber richtige „Heulsusen“ oder
„Klageweiber“ werden auch nicht gemocht. Dabei wissen wir doch eigentlich,
dass es uns nicht gut tut, wenn wir alles Unangenehme überspielen
oder in uns hineinfressen.

Aber „cool bleiben“
war es nicht, was Jesus durch sein Leiden gelernt hat. Denn im Text
heißt es: „Er hat Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit
Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte“. Mir fallen
dazu Szenen aus den Evangelien ein: Jesus, der am Grab seines Freundes
Lazarus in Tränen ausbricht; Jesus im Garten Getsemane, der vor
Todesangst Blut und Wasser schwitzt und Gott anfleht, ihm dieses
Schicksal zu ersparen; Jesus am Kreuz, der mit letzter Kraft seine
Verzweiflung hinaus schreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du
mich verlassen?“. Nichts steht da von gespielter Gelassenheit und
vorgetäuschtem Gleichmut, nur etwas vom nackten, ehrlichen Aufschrei
eines gequälten Menschen. Und im Hebräerbrief heißt es, dass Jesus
gerade so Gott in Ehren hielt. Denn er verzichtete auf alle Versuche,
Haltung zu bewahren und selbst mit allem fertig zu werden. Sein
Hilfeschrei galt dem, der als einziger Halt geben kann, wenn alles
zusammenbricht: er galt Gott, der in ihn vom Tod erretten konnte.

Und dieser Hilfeschrei
wurde erhört, sagt der Text. Aber stimmt das denn? Mag ja sein,
dass Gott ihn retten konnte, aber er hat es doch gerade nicht getan!
Nichts ist Jesus erspart geblieben bis zum bitteren Ende. Sein Tod
bestätigt doch anscheinend das, was viele für die wahre Lehre aus
der Schule des Leidens halten: Wenn’s dir ganz dreckig geht und
du wirklich am Ende bist, dann hilft dir keiner mehr. Dann bist
du ganz allein mit deiner Angst und deinem Schmerz. Und dann kannst
du noch so sehr zu Gott um Hilfe schreien – du wirst keine Antwort
bekommen. In Wahrheit ist da nämlich gar keiner, der dich hört.
Viele machen diese Erfahrung, und ich merke immer wieder, dass ich
kaum dagegen anreden kann. Denn ich weiß ja auch nicht, warum Gott
zu so viel unsäglichem Leid einfach schweigt.

Trotzdem: der
Text redet davon, dass Jesus erhört worden ist, und ich möchte versuchen,
zu verstehen, wie das gemeint ist. Vielleicht besteht die Erhörung
in dem, was Jesus durch sein Leiden gelernt hat. „Christus hat durch
sein Leiden Gehorsam gelernt“, sagt der Hebräerbrief. Auch das klingt
hart in unseren Ohren. Ich muss an Sklaven und Zwangsarbeiter denken,
die solange misshandelt werden, bis sie vor ihren Unterdrückern
kuschen, weil ihr Wille gebrochen ist. Hat Jesus so durch Leiden
Gehorsam gelernt? Dann hätten diejenigen recht, die unseren Gott
für einen Sadisten halten, den nur ein blutiges Opfer zufrieden
stellen kann. Aber man kann es auch anders lesen: Jesus hat in seinem
Leiden gelernt, auf Gott zu hören, ihm zu vertrauen und sich ganz
auf ihn zu verlassen. „Nicht wie ich will, sondern wie du willst“,
sagt der betende Jesus im Garten Getsemane. So hatte er bisher gelebt:
in einer ganz unmittelbaren Beziehung zu Gott, ganz eins mit dem
Willen Gottes für diese Welt. Dass er diese Beziehung zu Gott durchgehalten
hat, auch im Leiden und Sterben bis hin zum letzten Schrei am Kreuz,
das war der Gehorsam, den er gelernt hat. Und das war auch die Erhörung
seiner Gebete, seine „Errettung vom Tode“. Denn wer tot ist, hat
keine Beziehungen mehr, auch keine Beziehung zu Gott. Vor dieser
Beziehungslosigkeit hat Gott Jesus bewahrt. Er hat nicht zugelassen,
dass der Tod und die Gottverlassenheit über ihn das letzte Wort
behalten. Darum geht es, wenn wir bekennen, dass Jesus lebt, weil
Gott ihn von den Toten auferweckt hat

Aber nun noch
einmal zurück zum Anfang. Da habe ich gesagt, dass Gott selber sich
in die „Schule des Leidens“ begeben hat. Und dabei bleibe ich auch.
Denn es ist ja nicht irgendein Mensch, der hier durch Leiden Gehorsam
lernt, sondern es ist der Sohn Gottes. Und das heißt: Gott selbst
geht diesen Weg durch Leiden und Tod, den wir alle beschreiten müssen.
Wenn das stimmt, dann hat die Passionsgeschichte nicht nur Bedeutung
für den einen Menschen Jesus, sondern für alle Menschen, die Gott
geschaffen hat. Dann ist es Gott, der für uns am Kreuz stirbt, damit
wir leben können. Deshalb heißt es am Schluss des Textes: „Als er
vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber
des ewigen Heils geworden.“ Dem Gott, an den wir glauben, ist in
der Tat nichts Menschliches fremd, auch kein menschliches Leid,
denn er hat das alles am eigenen Leib erfahren. Gerade dann, wenn
Angst und Schmerzen über uns zusammenzuschlagen drohen, wenn Gott
ganz weit weg zu sein scheint, dann ist er uns in Wirklichkeit besonders
nahe – eine rettende Insel, auf die wir uns flüchten können, eine
Hand, die uns aus dem Strudel zieht. Wohl dem, der diese Hand ergreifen
kann, und sei es nur mit einem Verzweiflungsschrei, wie ihn Jesus
am Kreuz ausstieß. Ich weiß, dass ich damit nicht alle Leidenden
trösten kann und dass auch nicht alle Leidenden es so erleben. Aber
ich weiß auch von vielen, die diese Nähe Gottes erfahren haben –
im Krieg, auf der Flucht, in einer schweren Krankheit, auch auf
dem Sterbebett. Und ich kann nur hoffen und darum beten, dass mir
und Ihnen diese Erfahrung nicht versagt bleibt. Ich möchte das zum
Schluss dieser Predigt tun mit einer Liedstrophe von Paul Gerhardt:

„Wenn ich einmal soll scheiden,
so
scheide nicht von mir,
wenn ich den Tod soll leiden,
so
tritt du dann herfür;
wenn mir am allerbängsten
wird um
das Herze sein,
so reiß mich aus den Ängsten
kraft deiner
Angst und Pein.“

Amen.