Auf ein Wort…

Liebe Leserin, lieber Leser,

manchmal entdecke ich in der Bibel einen Gedanken, der mich überrascht, so bei der Vorbereitung auf den Gottesdienst zum Sonntag der Diakonie, den wir im Oktober feiern: „Wer sich des Armen erbarmt, der leiht dem Herrn“ (Spr. 19,17).

Dass die Bibel eine Vorliebe für die Armen hat, ist nicht neu. Die Armen stehen unter Gottes besonderem Schutz und werden von Jesus gepriesen: „Selig seid ihr, die ihr arm seid, denn euch gehört das Reich Gottes“ (Lukas 6,20). Eine arme Witwe, die zwei kleine Münzen spendet, stellt er als Vorbild für Opferbereitschaft hin. Einem reichen jungen Mann, der nach dem Sinn des Lebens fragt, rät er: „Verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen.“

Dass wir aufgefordert werden, barmherzig zu sein und die Armen zu unterstützen, ist auch nicht neu. Für die Diakonie, die Kindernothilfe und „Brot für die Welt“ spende ich regelmäßig, und in Katastrophenfällen überweise ich Geld auf ein Sonderkonto, weil ich erschüttert bin oder Mitleid habe. Oder weil ich dankbar bin, dass es mir so gut geht. Aber auf den Gedanken, ich könnte Gott damit etwas leihen, bin ich noch nie gekommen. Das überrascht mich!

Es überrascht mich, dass ich Gott etwas leihen kann, dass also mein Mitleid und meine Hilfsbereitschaft letztlich Gott zugute kommen. „Wer sich des Armen erbarmt“, wer für die Diakonie spendet, wer Geld auf das Konto der Flüchtlingshilfe überweist, wer sich Zeit nimmt, um eine kranke Nachbarin zu besuchen, wer einen Obdachlosen zum Essen einlädt oder ihm einen Kaffee spendiert, „der leiht dem Herrn.“

Dieser Gedanke hilft mir, mein Misstrauen abzubauen. Wer weiß denn, ob meine Spende auch ankommt? Ob der Mann, der in der Fußgängerzone sitzt und bettelt, sich von meinem Geld nicht vielleicht Schnaps kauft? Oder ob die Frau, die immer wieder so dringend um Hilfe bittet, mich nicht doch nur ausnutzen will? Wer weiß das schon? Aber Gott traue ich zu, dass er mit dem Geld, der Zeit und der Aufmerksamkeit, die ich ihm leihe, verantwortlich umgeht.

„Wer sich des Armen erbarmt, der leiht dem Herrn.“ Der Empfänger ändert sich und damit auch die Stellung des Armen. Er ist nicht mehr das Objekt meiner Mildtätigkeit, der sich über das freuen darf, was für ihn übrig bleibt. Er ist nun derjenige, durch den Gott meine Leihgabe überhaupt erst erreicht. Der Arme ist also nicht mehr das letzte Glied in der Kette, sondern gehört in ihre Mitte – zwischen Gott und mich. Wir nehmen ihn in unsere Mitte und packen von beiden Seiten an, um ihm zu helfen. Ein schönes Bild für das, was in der Bibel „Erbarmen“ heißt und heute „Solidarität“.

Und noch etwas überrascht mich an diesem Bibelvers, nämlich dass ich Gott etwas leihen kann. Wenn ich ein Buch verleihe, erwarte ich, dass ich es zurückbekomme. Und zwar in ordentlichem Zustand, nicht mit Eselsohren oder Kaffeeflecken. Was aber gibt Gott uns zurück, wenn wir ihm etwas leihen? Dürfen wir das überhaupt erwarten? Wir haben doch gelernt, dass Gott uns für unsere guten Werke nicht belohnt. Sicher, aber wir wissen auch, dass Gott einen fröhlichen Geber lieb hat. Auf dem Konto der Liebe hat Gott bei mir schon ein stattliches Guthaben. Darum will ich ihm ohne Bedenken etwas leihen – und Sie, liebe Leserin und lieber Leser, hoffentlich auch. Denn: „Wer sich des Armen erbarmt, der leiht dem Herrn.“

Ihre Pastorin Almuth Schwichow