Liebe Leserin, lieber Leser,
vor gut zehn Jahren
habe ich an einem Seminar zum Thema Familienbildung teilgenommen.
Ich erinnere mich noch genau, mit welcher Aufgabe diese Fortbildung
begonnen hat: Wir alle mussten die Familie, in der wir aufgewachsen
sind, mit Münzen verschiedener Größe darstellen. Einige legten die
Münzen zu einem Kreis, andere in einer geraden Linie, und wieder
andere sortierten sie in kleine Grüppchen, je nachdem, welche Familienmitglieder
sich besonders nahe standen. Aber keiner von uns kam auf die Idee,
die Münzen zu einem Turm aufzuschichten. Doch genau so sehen Menschen
in Tansania ihren Platz in der Familie, in der Gesellschaft und
in ihrer Gemeinde: wie in einem Turm. Das zeigen die bekannten Makonde-Schnitzereien,
die bei uns Familien- oder Lebensbaum genannt werden. Einen solchen
Lebensbaum hat unsere Partnergemeinde uns vor einigen Jahren geschenkt.
Der Baum besteht aus lauter aufeinandergetürmten Menschen. Die Figuren
stehen auf den Schultern oder auf dem Kopf einer anderen, sitzen
auf ihrem Rücken
und halten zugleich andere mit ihrem Körper oder ihren Händen. Manche
klammern sich an den Armen und Beinen anderer fest, und einige müssen
sich ganz schön verrenken, um Halt zu finden. Und eines ist klar:
Hier darf keiner seinen Platz verlassen; sonst bricht alles in sich
zusammen.
Diese Vorstellung
behagt mir gar nicht, denken Sie jetzt vielleicht. Mir wär das alles
viel zu eng. Ich brauche meine Freiheit, möchte tun und lassen können,
was ich will. Ich will nicht so fest eingebunden sein. – Und das
ist tatsächlich ein tief greifender Unterschied zwischen Europäern
und Afrikanern. Wir verstehen uns als Einzelwesen, oft genug auch
als Einzelkämpfer. Wir legen großen Wert auf persönliche Freiheit
und Selbstbestimmung. Auch in einer Gemeinschaft, sei es in der
Familie, im Freundeskreis, in Vereinen oder Gemeindegruppen, versuchen
wir, unsere eigenen Interessen zu wahren und wenn nötig auch durchzusetzen.
In Afrika dagegen bestimmt die Gemeinschaft das Denken, Fühlen und
Handeln der Menschen und prägt auch ihre Moralvorstellungen. Als
gut und richtig gilt, was die Gemeinschaft stärkt und allen nützt,
als falsch und schlecht, was sie gefährdet, stört oder zerstört.
Ein Ostafrikaner, der lange in Europa gelebt hat, erklärt diese
unterschiedlichen Haltungen so: „In Europa braucht man sich gegenseitig
nicht zu helfen, man braucht sich eigentlich überhaupt nicht. In
Afrika aber sind wir aufeinander angewiesen. Wir wissen: Ich lebe,
weil du lebst. Ich kann sein, weil du bist.“
Genau das machen
die Lebensbäume anschaulich. Diese kunstvollen Schnitzereien aus
Ebenholz waren ursprünglich so etwas wie Familienalben. Sie zeigen
die traditionelle Großfamilie mit den Lebenden an der Spitze und
darunter die Vorfahren und Ahnen der Sippe. Wenn ich den Lebensbaum
als Familienalbum betrachte, dann leuchtet auch mir als freiheitsliebender
Europäerin die Botschaft ein. Wir alle stehen ja tatsächlich auf
den Schultern der Menschen, die vor uns gelebt haben, auf dem, was
unsere Eltern, Großeltern und Vorfahren aufgebaut, geschaffen und
an uns weitergegeben haben. Das mögen materielle Werte sein: ein
Haus, ein Grundstück, eine Firma oder wertvoller Schmuck. Das sind
aber auch geistig-moralische Werte und Einstellungen und sicher
auch der Glaube. Ganz vieles verdanken wir unserer Erziehung oder
dem Vorbild von Eltern, Lehrern, Menschen, die uns geprägt haben.
Und das ist nicht nur in der Familie so, sondern auch in der Gesellschaft
und in der Kirche. Überall da bemühen ja auch wir uns, etwas von
dem, was wir schaffen, erreichen und für wichtig halten, an die
nächste Generation weiterzugeben.
Kein Lebensbaum
ist wie der andere, und doch haben alle dieselbe Botschaft: Niemand
ist das, was er ist, ohne andere. Jeder einzelne braucht viele,
die ihn tragen. Niemand hat Macht ohne die, die ihn stützen. Jeder
steht auf den Schultern anderer und braucht sie ebenso wie sie ihn.
So ist niemand entbehrlich, und niemand kann je einen anderen ersetzen.
Jeder einzelne ist wichtig und hat seinen Platz in der Gemeinschaft
der Menschen, die unverbrüchlich zwischen all denen besteht, die
gelebt haben, die jetzt leben und die in Zukunft leben werden.
Eingebunden sein
in eine Gemeinschaft, das möchten wir auch, nur bitte nicht zu fest.
Nicht so, dass wir uns auf andere angewiesen fühlen.. Doch genau
das sind wir: aufeinander angewiesen. Denn so hat Gott uns ja geschaffen.
So hat er sich uns ausgedacht, als er sprach: „Es ist nicht gut,
dass der Mensch allein sei.“ Darum ist es gut, dass wir einander
haben: Verwandte und Freunde, Nachbarn und Arbeitskolleginnen, die
anderen im Chor oder im Sportverein und alle, die mit uns glauben,
hoffen und nach Gott fragen – hier in Klafeld und auch in der weltweiten
Christenheit, etwa in unserer Partnergemeinde in Tansania. Wir sprechen
zwar verschiedene Sprachen, aber wir sind über alle Grenzen und
über eine Entfernung von 8.000 km hinweg doch verbunden durch den
Geist Gottes, der uns hilft, einander zu verstehen und voneinander
zu lernen. Wenn wir einen Lebensbaum betrachten, dann können wir
lernen, den Wert der Gemeinschaft höher zu schätzen, als wir es
gemeinhin tun. Können mehr auf das achten, was wir unseren Mitmenschen
verdanken, anstatt uns immer nur selbst behaupten zu wollen. Vielleicht
denken Sie mal daran, wenn Sie in den nächsten Wochen die Gräber
Ihrer Lieben besuchen, wenn Sie im Gottesdienst am Ewigkeitssonntag
die Namen derer hören, die in diesem Kirchenjahr verstorben sind,
oder auch, wenn Sie in der Advents- und Weihnachtszeit mit den Menschen
zusammen sind, die zu Ihnen gehören. Dann spüren Sie bestimmt auch:
Es ist gut, dass ich einen festen Platz habe, dass ich aufgehoben
bin bei Gott und den Menschen. Diese beglückende Erfahrung wünscht
Ihnen
Ihre Pastorin Almuth Schwichow
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