Rückblick: Reformierte Konferenz

OKR Dr. Thorsten Latzel in Bad Laasphe

Heute Entscheidungen treffen

für die missionarische Kirche von morgen

Selbst Orkantief
„Emma“ konnte etliche Gemeindeglieder aus den Kirchenkreisen Siegen
und Wittgenstein nicht davon abhalten, an der Reformierten Konferenz
Südwestfalen im evangelischen Gemeindehaus Bad Laasphe teilzunehmen.
„Missionarische Gemeinde  – heute! Chancen und Aufgaben im
Wandel kirchlicher Wirklichkeit“ lautete das Thema, das dem Referenten
OKR Dr. Thorsten Latzel, EKD Hannover und gebürtiger Wittgensteiner,
gestellt war.

Dass
die beiden großen Volkskirchen zu Beginn des dritten
Jahrtausends besonderen Herausforderungen gegenüber
stehen, ist kein Geheimnis. Demographie, Überalterung
der Gesellschaft und zurück gehende Kirchenbindung machen
der evangelischen Kirche noch etwas mehr zu schaffen
als der katholischen Kirche. Jedes  Jahr verliert
die evangelische Kirche 285.000 Menschen. Also fast
genau so viele, wie die Einwohnerzahl des Kreises Siegen-Wittgenstein.
„Die Menschen in unserem Land entdecken neu die Religion
– und – die Kirchenmitglieder werden weniger, älter
und sozial begrenzter“, skizziert der Referent die Wirklichkeit.

Der
Rückgang der Kirchenmitglieder ist zu zwei Drittel bedingt
durch demographische Entwicklung. Die Volkskirche ist
überaltert. Jede zweite Amtshandlung ist heute eine
Trauerfeier. Hinzu kommen die nicht gering zu achtenden
Kirchenaustritte, die zumeist in Wellenbewegungen erfolgen,
wie beispielsweise Ende der 60er Jahre und nach der
Wiedervereinigung. Dem gegenüber treten etwa 65.000
Menschen jährlich in die evangelische Kirche ein oder
wieder ein.

Dr.
Thorsten Latzel zeigte in Bad Laasphe auf, was es heute
heißen kann, missionarisch Kirche zu sein.

Foto: Karlfried
Petr
i

Kirchenmitgliedschaft
wird heute nicht mehr sozial vererbt, sondern im Laufe eines Lebens
zu einer bewussten Entscheidung. Kirchenaustritte sind heute kein
Tabu-Thema mehr, weiß der Oberkirchenrat aus Hannover. Latzel: „Meines
Erachtens befinden wir uns gegenwärtig in einer Art „Schlüssel-Zeit“,
in der sich entscheidet, ob sich die Kirchenaustritte zu dauerhafter
Konfessionslosigkeit verfestigen und so im negativen Sinne sozial
weiter gegeben werden – oder ob es gelingt, Menschen neu einen Weg
zu ihrer Kirche zu eröffnen“. Wenn man davon ausgehe, dass die beiden
großen Austrittswellen in den vergangenen 35 Jahren entstanden seien,
so hätten diese geschätzten 5 Millionen Menschen noch einen lebensbiographischen
Bezug zur Kirche durch Taufe, Konfirmation oder kirchliche Trauung.
Diese Menschen böten ein Wachstumspotential, wenn es gelänge, ihnen
einen neuen Zugang zur Kirche zu eröffnen, bevor sich die Konfessionslosigkeit
verfestigt habe.  

Deutlich machte
der Pfarrer, dass die evangelische Kirche in einem Bildungsdilemma
stecke. Die Kirche sei auf Bildung angewiesen, die Gebildeten kehrten
ihr aber den Rücken. Dies habe unlängst die vierte Kirchenmitgliedschaftsstudie
der EKD gezeigt. Um die Einstellungen der Kirchenmitglieder besser
begreifen zu können, erhebt die EKD im Abstand von 10 Jahren jeweils
sehr eingehend das, was die Menschen innerhalb wie außerhalb über
Kirche, Glaube und Gott denken. Herausgebildet wurden sechs Typen
von Lebensstilen, die unterschiedlich in die Kirche eingebunden
sind: hochkulturell, einfach-bürgerlich, jugendkulturell, liberal-urban,
praktisch-gesellig und gering gesellschaftlich integriert. Am stärksten
ausgeprägt ist eine Austrittsneigung bei den jugendkulturell ausgerichteten
jungen Menschen. Latzels Fazit anhand der Untersuchungsergebnisse:
Bestimmte Milieus und Lebensstile haben schon jetzt fast keinen
Raum mehr in der Kirche. Ihnen sollte sich die Kirche besonders
zuwenden.

Anhand von Leitthesen
zeigte der Referent auf, vor welchen Herausforderungen  gegenwärtig
missionarische Arbeit auf Gemeindeebene steht. Alle diese Thesen
setzen ein Vertrauen voraus, dass das Leben, Reden und Tun der Kirche,
sich gründet auf Gottes Geist, der die Gemeinde Jesus Christi beruft,
sammelt, begabt und bis an das Ende der Zeiten erhält. Dies entbinde
die Gemeinden jedoch nicht davon, die Einladung zum Glauben und
zur Teilnahme am Leben der Kirche zu fördern und zu entfalten.

In diesem Vertrauen,
so Latzel, müssten heute die Menschen in jeweiligen sozialen Milieus
offen wahrgenommen werden. Es gelte, das Evangelium einladend zu
bezeugen und biblische Texte sowie  kirchliche Traditionen
verstärkt im Horizont der Gegenwart und auf klar verständliche Weise
neu zu vermitteln. Die  „Sprachfähigkeit des Glaubens“, die
von der Hoffnung des eigenen Lebens zu erzählen wisse, müsse gefördert
werden. Zu den überzeugendsten Botschaften des Evangeliums gehöre
das Leben der Glaubenden und der Gemeinde, geprägt vom befreiten,
glaubwürdigen Umgang mit eigenen Stärken und Schwächen sowie der
unbedingten Annahme Gottes. Dem Gottesdienst komme für den Zuspruch
des Evangeliums eine besondere Bedeutung zu. In den Amtshandlungen
erführen Menschen in „Schlüsselzeiten“ ihres Lebens kirchliche Begleitung.
Die Mitarbeitenden gehörten zu dem größten Schatz, den die Gemeinden
besäßen. Sie würden künftig noch stärker an der Vermittlung des
christlichen Glaubens beteiligt sein. Dafür bedürfe es jedoch einer
Kultur der Anerkennung, Wertschätzung und Förderung.

Zum Schluss gab
Thorsten Latzel einige konkrete Hinweise zu verändertem kirchlichen
Handeln. Häufig orientiere man sich in der Kirche an der „gefühlten
Situation“ und damit an der Binnensicht derjenigen Menschen, die
die so genannte Kerngemeinde bildeten. Hier gelte es einen Perspektivenwechsel
zu vollziehen und Kirche einmal aus der Sicht der 90 Prozent der
Kirchenmitglieder zu sehen, die nicht in der Kerngemeinde auftauchen.

Ein Pfarrer habe
das bei einer Visitation einmal so ausgedrückt: Ich arbeite in einer
Stadt mit 10.000 Einwohnern, 3000 gehören davon der evangelischen
Kirche an, ca. 150 Menschen tauchen davon im engeren Kreis der Gemeinde
auf, und 10 Menschen legen dann ausgerichtet an den 150 Menschen
fest, was die Ziele sind. Aber eigentlich müssten wir doch auf die
10.000 zielen.

Latzel: „Wer die
eigene Wahrnehmung verändert und über die Ziele der eigenen Arbeit
klar wird, der steht damit dann irgendwann vor der Notwendigkeit,
Entscheidungen zu treffen. Entscheidungen darüber, was wir als Kirche
tun wollen – und ebenso wichtig: was wir als Kirche zukünftig lassen
wollen. Dabei gilt es zu fragen, wie Sie sich in 20, 30 Jahren die
Kirche unter den veränderten Rahmenbedingungen wünschen und vorstellen.
Und was müssen Sie heute tun, um in Zukunft so oder noch besser
dazustehen?“

kp