Auf ein Wort ….

Der Herr, dein Gott, ist ein
barmherziger Gott.
Er lässt dich nicht fallen.

5.
Mose 4, 31

Liebe Mitchristen,

der russische Schriftsteller Daniel Granin
hat vor ca. 20 Jahren einen bemerkenswerten Aufsatz über „Barmherzigkeit“
geschrieben. Er erzählt zunächst ein Missgeschick, das ihm selbst
passiert ist.
Er rutschte auf der Straße aus, fiel und verletzte
sich dabei Arm und Nasenbein. Nur mühsam konnte er sich zu einem
Hauseingang schleppen. Sprechen konnte er wegen seines auf geschlagenen
und blutenden Mundes nicht. So versuchte er mit Mühe nach Hause
zu gehen. Auf dem Weg von etwa 400 Meter begegneten ihm mehrere
Menschen, eine Frau mit einem Mädchen, ein junges Paar, eine ältere
Frau, ein Mann, ein paar junge Burschen. Sie alle blickten ihn zu
nächst neugierig an, dann sahen sie weg und wandten sich ab.
„Wenn
doch wenigstens einer zu mir gekommen wäre und sich erkundigt hätte,
was mir zugestoßen sei, ob ich nicht Hilfe brauche“ – so dachte
Daniel Granin. „Aber es fand sich keiner.“ Später dachte er oft
über dieses Erlebnis nach. Er erinnerte sich an die Notzeiten in
und nach dem Krieg. Damals war das Gefühl noch lebendig, für einander
einstehen zu müssen und sich gegenseitig zu helfen. Aber jetzt waren
Gleichgültigkeit und Eigeninteresse zur Norm geworden. Der Begriff
der Barmherzigkeit wurde als altmodisch angesehen. Im früheren Leningrad
wurde bezeichnenderweise die „Straße der Barmherzigkeit“ in „Textilstraße“
umbenannt.
Der Schriftsteller zeigt in seinem Artikel auf, in
wie vielen Gebieten des Lebens die Barmherzigkeit verkümmert ist,
obwohl alle sich da nach sehnen. Er ist beunruhigt. Schließlich
schreibt er: „Ich habe keine Rezepte dafür, wie das gegenseitige
Verständnis, das wir alle brauchen, geweckt werden kann. …. Ein
einzelner Mensch wie ich kann nur die Alarmglocken läuten und alle
bitten, in sich zu gehen und zu überlegen, was zu tun ist, damit
Barmherzigkeit wieder Wärme in unser Leben bringt.“

Im heutigen St. Petersburg hat sich seitdem
einiges bewegt. Es entstanden freiwillige Hilfsgruppen, die in Krankenhäuser
und zu notleidenden Menschen gingen, um ihnen beizustehen und ein
wenig das Leben zu erleichtern. Engagierte Christen und Ordensleute
haben – auch mit westlicher Unterstützung – Suppenküchen und Übernachtungshäuser
für Obdachlose eröffnet. Die diakonische Arbeit der Kirchen entwickelt
mit Phantasie neue Hilfsangebote. Auch anderenorts kam einiges in
Gang. Man begriff auf einmal, dass der Verlust von Barmherzigkeit
etwas zu tun hatte mit dem Verlust des Glaubens an den Gott der
Liebe und der Barmherzigkeit in einer atheistischen Gesellschaftsordnung.

Zu gleich spüren wir deutlich, dass der Verlust von Barmherzigkeit
nicht nur die Gefahr für Menschen in den ehemaligen Ostblockstaaten
dar stellt, sondern ebenso die westliche Wohlstandsgesellschaft
gefährdet. Was hier zählt, ist das Geld. Der praktische Materialismus
ist zur Ersatzreligion geworden. Wer schwach erscheint, wird fallen
gelassen. Wer den Anforderungen einer modernen Leistungsgesellschaft
nicht gerecht wird, findet keinen Platz. Ich denke an die Arbeitnehmer,
deren Betrieb geschlossen werden soll. Ich denke an Jugendliche,
die keinen Ausbildungsplatz finden.

Ich denke an Menschen, deren Lebensplanung
gescheitert ist und die deshalb aus der Bahn geworfen wurden. Sie
alle empfinden schmerzvoll die Unbarmherzigkeit, der sie begegnen.

„Der Herr, dein Gott, ist ein barmherziger Gott. Er lässt dich
nicht fallen.“ Durch die ganze Bibel zieht sich dieses Staunen:
„Gnädig und barm herzig ist der Herr, geduldig und von großer Güte“
(Ps. 103). Gegen alle Erfahrung von Gnadenlosigkeit und Unbarmherzigkeit
setzt die Bibel den Zuspruch „Gott ist barmherzig, er ist wie ein
Vater, der sich seiner Kinder erbarmt“. In diesem Bild vom Vater
kann Jesus das ganze Evangelium zusammenfassen.
Im Gleichnis
vom Vater und den beiden Söhnen macht er es anschaulich. Der Vater
wartet in unendlicher Langmut auf den Sohn, der ihn verlassen hat.
Und nach allem Schmerzlichen und Verletztenden (was geschehen ist)
hält er ihn nach der Heimkehr in den Armen und sagt: „Dieser ist
mein Sohn!“
Da kann Leben wirklich aufblühen, wo ich mich so
gehalten weiß. Andere nicht fallen zu lassen, das ist letztlich
nur dort möglich, wo ich selbst gehalten werde. Dass ich unter Gottes
Vergebung lebe, macht mich fähig, Schuld bei anderen nicht aufzurechnen.
Dass Gott mich nicht fallen lässt, gibt mir Geduld und ein weites
Herz für andere Menschen.

Wer Barmherzigkeit erfährt, kann sie auch
leben.

Jesus Christus hat die Barmherzigkeit Gottes
für uns anschaulich und begreiflich gemacht. Darum orientiert sich
unser Denken, Fühlen und Handeln an ihm, dem Mittelpunkt der christlichen
Gemeinde. Dann können wir Barmherzigkeit gemeinsam erfahren und
 leben.

Es mag sein, dass alles fällt, dass die Burgen
dieser Welt um dich her in Trümmer brechen. Halte du den Glauben
fest, dass dich Gott nicht fallen lässt: Er hält sein Versprechen.

Burkhard Schäfer, Pfr