Paul Gerhardt Jahr

PAUL- GERHARDT- JAHR

Der Lieddichter Paul Gerhardt gehört bis heute
zu den bedeutendsten Lieddichtern des Evangelischen Gesangbuches
(EG). Ein gutes Dutzend seiner Lieder sind zu Klassikern geworden.

 

Von den mit Paul Gerhardts Namen verbundenen
genau 139 deutschen Dichtungen sind im deutschsprachigen Raum noch
rund dreißig in Gebrauch. Der Stammteil des Evangelischen Gesangbuches
(EG) zählt deren 26. Auch im Stammteil des katholischen Gotteslobs
sind 4 Lieder des protestantischen Poeten verzeichnet.

Im Unterschied zu Gerhardts weltweiter Ausstrahlung
bis heute war sein geographischer Radius zu Lebzeiten begrenzt.
Über die beiden Nachbarterritorien Kursachsen und Kurbrandenburg
ist er nicht hinausgekommen. Sein Leben spielte sich in den verhältnismäßig
nah bei einander gelegenen Orten Gräfenhainichen, Grimma, Wittenberg,
Berlin, Mittenwalde und Lübben ab.


Überblick zur Bedeutung von Paul Gerhardt

Deutschland vor 350 Jahren: Der Dreißigjährige
Krieg ist gerade erst zu Ende. Das Land liegt in Trümmern, ganze
Landstriche sind entvölkert und verwüstet. Die Überlebenden werden
von Hunger und Not geplagt. Epidemien und Seuchen raffen weiterhin
Tausende Menschen hin. Marodierende Banden ziehen umher und verbreiten
Angst und Schrecken. Versprengte Reste jener Söldnerheere, die Mitteleuropa
in ein riesiges Schlachtfeld verwandelt hatten.

Da erscheint im Jahre 1653 ein Gedicht des
Pfarrers Paul Gerhardt aus Mittenwalde bei Berlin: Geh aus, mein
Herz, / und suche Freud / In dieser lieben Sommerzeit / An deines
Gottes Gaben; / Schau an der schönen Gärten Zier / Und siehe, wie
sie mir und dir / Sich -ausgeschmücket haben.

Zeilen eines weltfremden Traumtänzers oder
blanker Zynismus? Schöpferlob in Zeiten der Apokalypse nach dem
Motto „Hurra, wir leben noch“? Oder tatsächlich Trost für geschundene
Seelen, Trotz gegen jede Resignation? Die Hoffnung, dass doch noch
alles gut wird? Ach, denk ich, bist du hier so schön / Und lässt
du uns so lieblich gehn / Auf dieser armen Erden, / Was will doch
wohl nach dieser Welt / Dort in dem reichen Himmelszelt / Und güldnen
Schlosse werden!

Hoffnung auf einen Gott, der den Menschen
zwar kein irdisches Leid erspart, sie aber letztlich erlöst – das
ist der Glauben, in dem Paul Gerhardt gegen die Depression anschreibt.
Der Dichter, dessen 400. Geburtstags die Evangelische Kirche in
Deutschland (EKD) im Jahr 2007 gedenkt, hat dem Leid und der Sehnsucht
seiner Zeitgenossen in einer Weise Ausdruck gegeben, die ihn überdauert
hat.

Lieder für alle

Die bedeutendsten Kirchenmusiker seiner Zeit
haben seine Verse vertont, und seine Kirchenlieder verbreiteten
sich in Windeseile im deutschsprachigen Raum. Man sang sie in Straßburg
und Zürich, in Kopenhagen und Amsterdam, in Breslau und Leipzig.
Es gab keine Radiostationen, keine CDs, keine Videoclips. Notenblätter
kursierten. Die Menschen lernten die Lieder kennen, indem sie selbst
die Strophen sangen und bald auswendig wussten. Gesungen wurde gemeinsam
in den Familien und in den Kirchen. Die Gotteshäuser waren neben
den Marktplätzen die Orte der Popkultur, weil sich dort entschied,
ob etwas populär wurde und jedes Kind es kannte. So darf man Paul
Gerhardts Lieder getrost Popsongs nennen, nicht geschrieben für
höfische Zirkel oder eine intellektuelle Avantgarde – es sind Lieder
für alle.

Vergleiche mit der Gegenwart sind schwierig.
Aber es ist nicht übertrieben, wenn man die Texte Gerhardts in ihrer
Bedeutung neben „We Shall Overcome“, neben „Let It Be“ oder „Yesterday“
von den Beatles, Bob Dylans „Blowin’ in the Wind“ oder Bob Marleys
„No Woman, No Cry“ stellt. Ja, es ist zweifelhaft, ob diese Songs
auch nach 300 Jahren noch standhalten werden, wie es Paul Gerhardts
„O Haupt voll Blut und Wunden“, „Geh aus, mein Herz“ und „Ich steh
an deiner Krippen hier“ vermögen.

WIRKUNG

Paul Gerhardts ewige Ballade vom guten Ende
– allen Widrigkeiten zum Trotz – klingt alterslos frisch aus den
Chorälen, auch wenn einige seiner leidensverliebten Passionsstrophen
heutige Menschen verwirren. Die Kraft seiner Sprachbilder trägt
auch im Zeitalter des Rap. Gerhardts fromme Verse frömmeln nicht,
weil sie existenziell bedeutsam sind.

Gerhardts Lieder, die schon zu seinen Lebzeiten
dank seiner musikalischen Freunde Johann Crüger und Johann Georg
Ebeling vollständig mit Melodie erschienen, behaupteten sich widerspenstig,
als sich Mitte des 18. Jahrhunderts, fast hundert Jahre nach Gerhardts
Tod, Theologen der Aufklärung daran machten, die angeblich antiquierten
Texte zu verbessern. Bei der Einführung neuer Gesangbücher in Preußen
protestierte das Volk. An einigen Orten kam es sogar zu tumultartigen
Szenen.

Paul Gerhardts Lieder haben sich über die
ganze Welt verbreitet, sie wurden in viele Sprachen übersetzt. Der
berühmte Theologe und Arzt Albert Schweitzer (1875-1965) schrieb
einmal, dass Gerhardts Lieder in Afrika sehr gern gesungen würden.
Der Grund dafür sei, dass in ihnen von den elementaren Erfahrungen
des menschlichen Lebens die Rede sei: "Das Christentum ist
für den Eingeborenen das Licht, das in die Finsternis der Angst
scheint. Es versichert ihm, dass er nicht der Gewalt von Naturgeistern,
Ahnengeistern und Fetischen ausgeliefert ist." Ich lag in schweren
Banden, / Du kommst und machst mich los – dieses Wort aus Gerhardts
Adventslied "Wie soll ich dich empfangen" spreche wie
kein anderes aus, was das Christentum für den Afrikaner darstelle.

Auch Dietrich Bonhoeffer (1906-1945), der
Theologe und Widerstandskämpfer, liebte die Choräle Paul Gerhardts
ebenfalls. Nach seiner Verhaftung durch die Gestapo schrieb er im
April 1943 an seine Eltern, es sei "gut, Paul-Gerhardt-Lieder
zu lesen und auswendig zu lernen, wie ich es jetzt tue. Übrigens
habe ich meine Bibel und Lesestoff aus der hiesigen Bibliothek,
auch Schreibpapier jetzt genug." Bemerkenswert, dass Bonhoeffer
Paul Gerhardt und seine Lieder noch vor der Bibel und vor seiner
übrigen Lektüre nennt!

go
(Quelle: www.paul-gerhardt-jahr.de)