Missionar auf Zeit –
4 –
MaZ in Indien – Newsletter
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Hallo liebe Interessenten in Deutschland!
Es ist unglaublich – die Zeit fliegt nur so
dahin und am 16. November lande ich schon wieder in Düsseldorf!
Darum steht dieser sehr ausführliche Newsletter im Zeichen des Abschieds
– mit diesen Themen:
INHALT
- Geschenke, durch nichts zu ersetzen
- Der indische Straßenverkehr – geregeltes
Chaos
- Erstes Testspiel der Nesakkaram-Fußballmannschaft
- Regenzeit in Chennai
- Die Sache mit der Armut
- Schon gewusst?
- Abschied
Geschenke, durch nichts zu
ersetzen
Als ich nach einem Projekt im Ausland gesucht
habe, gab mir meine Nase zwei Signale, sie sagte mir erstens: Dominic,
du musst was mit Kindern machen, und sie sagte mir zweitens: Dominic,
das Projekt Nesakkaram ist genau das richtige für dich. Und es <war>
goldrichtig, meiner Nase zu folgen, das kann ich kurz vor Ende schon
sagen. Die Kinder hier sind das Beste, was mir überhaupt passieren
konnte. Nach meinen ehrenamtlichen Tätigkeiten mit Kindern in der
Gemeinde und nach meinem Zivildienst in der Schule für körperlich
und geistig Behinderte auf dem Rosterberg in Siegen 1999/2000 konnte
ich meine Erfahrungen nun um etwas derart Intensives ergänzen, das
mich für die Zukunft sehr stark prägen wird.
Ich möchte nicht über Kinder philosophieren,
das können andere besser als ich, aber mir ist doch hier umso mehr
verdeutlicht worden – im Zusammenhang mit meiner "Onkelpremiere"
kurz vor meinem Abschied in Deutschland – dass Kinder einfach großartige
Geschenke sind, die wir bedingungslos annehmen <müssen>. Lag
während meiner Zeit als windelwechselnder Zivi der Schwerpunkt in
dem Bereich, Kinder mit schweren Behinderungen, die teilweise stark
leiden müssen, genauso anzunehmen und als Geschenke zu erfahren
wie gesunde, musste ich jetzt hier in Indien andere Dinge in der
grausamen Praxis erfahren, fernab von jeder Theorie, die uns doch
in so angenehme Distanz zu dem Thema bringt.
Bittere Armut, Kinderarbeit, Kinderprostitution,
schlagende Eltern, Erzieher und Lehrer, brutale Stiefeltern – das
sind nur einige üble Eckpfeiler der Umgebung, in denen die meisten
indischen Kinder aufwachsen müssen. Vor diesem Hintergrund ist es
umso bewundernswerter – und das ist der Punkt, der mich so fasziniert
und prägt -, welche Freude die Kinder einem entgegenbringen, sobald
sie merken, dass man es gut mit ihnen meint. Da ich mich bedingt
durch die Projekte Fußball und Filmworkshop in den letzten Wochen
nur noch selten zur Abendschule in den Slums eingefunden habe, war
ein Tag umso prägender: An diesem Tag brachten die zwei anwesenden
Educators mal etwas Struktur in die Klasse und gönnten den Kindern
eine Spielpause, die ich dann voll ausgenutzt habe. Kaum hatten
die Kinder den Braten gerochen, wurde ich regelrecht mit ihrer Anteilnahme
an dem sportlichen Spiel überrollt und hatte nach Ende der Klasse
Mühe, mich von ihnen zu trennen. Schon allein meine Anwesenheit
und Aufmerksamkeit für sie hat ausgereicht, einen wahren Begeisterungssturm
auszulösen, welcher mich dann wiederum völlig mitgerissen hat. Denkt
man da im Vergleich (zugegeben in etwas überspitzter Form) mal an
unsere verwöhnten deutschen Kinder, die an gut gemeinter Aufmerksamkeit
in Form von zig Freizeitangeboten oder Spielzeuggeschenken zu ersticken
drohen, dann fällt die Schlussfolgerung nicht schwer, dass es auch
darauf bezogen irgendwo den berühmten Mittelweg geben muss.
Gerade mit den Kindern hier im Haus komme
ich ja in sehr intensiven Kontakt, und immer wieder muss ich mir
vor Augen führen, welch traurige Erfahrungen auf ihren Schultern
lasten. Nur dann kann man sich erklären, warum sich die Kinder so
extrem verhalten. So war ich doch anfangs sehr negativ überrascht,
wie oft sich die Kinder untereinander prügeln oder anschnauzen,
oder wie gerade einige der kleinen Mädchen versuchten meine Aufmerksamkeit
zu erlangen, indem sie mich (teilweise durchaus heftig) schlugen,
kniffen oder kratzten. Letzteres konnte ich ihnen inzwischen gottseidank
abgewöhnen, doch die Prügeleien untereinander, gerade bei den Jungs,
sind kaum zu unterbinden. Umso schöner sind natürlich dann die Momente,
wenn die Kinder spüren, dass man ihnen Aufmerksamkeit zollt und
sie akzeptiert, denn dann geben sie ganz viel von sich zurück. So
versuche ich dann, wenn sie frei haben, mich jeweils den Kindern
zuzuwenden, die meinem Gespür nach gerade besondere Aufmerksamkeit
brauchen. Das ist nicht immer einfach, schließlich konkurrieren
40 Kinder um diese Gunst, außerdem sind die Signale der Kinder sehr
unterschiedlich; manche kommen von sich aus auf mich zu, andere
verkriechen sich in eine Ecke und verharren im Schweigen. Die Zeit
vor dem Schlafengehen ist immer die schönste (Eltern können da denke
ich im wahrsten Sinne des Wortes ein Liedchen von singen…), dann
drehe ich meine letzten Runden und sage allen "Gute Nacht"
(tamil: "irawu wennakamm!"), manchmal dauert das schon
mal ’ne Stunde….
Der indische Straßenverkehr – geregeltes
Chaos
Das Getümmel auf indischen Straßen hat mich
schon bei meiner ersten Indienreise fasziniert, und nach den 5 Monaten
hier konnte ich meine frühe These nun bestätigen, dass sich im indischen
Straßenverkehr in gewisser Weise so manche Aspekte der indischen
Kultur widerspiegeln. Deshalb fallen meine Umschreibungen im Folgenden
auch etwas ausführlicher aus… Was geht ab auf den indischen Straßen?
Auf den ersten Blick für uns Deutsche ein heilloses Chaos. Einmal
bezogen auf die unterschiedlichen Verkehrsteilnehmer, ist doch die
Vielfalt groß: Autorikschas, Motorräder, Busse, Autos, Fahrräder,
Fahrradrikschas, Lkw, Ochsenkarren – alles mischt sich auf den Straßen
ohne eine für unser Auge erkennbare Disziplin. Dann bezogen auf
den Verkehrsfluss. Nur selten sind auf breiteren Straßen Spuren
eingezeichnet, und auch wenn dann werden sie kaum beachtet. Jede
Lücke wird ausgenutzt, gerade von den Motorrädern, d.h. manchmal
quetschen sich vier Autos nebeneinander auf einer Straße, auf der
eigentlich nur zwei Spuren eingezeichnet sind. In Indien herrscht
Linksverkehr, daran wird sich auch meistens gehalten, nur ab und
zu kommen einem Geisterfahrer entgegen. Den Geisterfahrern mangelt
es allerdings nicht an Orientierung, ganz im Gegenteil, mit ihrer
lebensgefährlichen Tour kürzen sie ab oder entgehen sie einem Stau.
Natürlich gibt es ähnliche Verkehrsregeln wie bei uns, doch die
werden nur im Notfall befolgt, Verkehrsschilder gibt es nur wenige.
Die Inder halten sich zwar weitgehend an Ampelsignale oder an die
Anweisungen von Verkehrspolizisten, aber auch nur deswegen, weil
ansonsten der Verkehr an den Knotenpunkten völlig zum Erliegen gebracht
würde. Ist aber eine Kreuzung frei, wartet keiner an einer roten
Ampel, die Deutschen mit ihrer Regeltreue würde man hier für verrückt
erklären. Ähnliches gilt für Bahnschranken: Sind diese unten, aber
kein Zug ist in Sicht, dann quetschen sich solange Motorrad- und
Fahrradfahrer unter den Schranken durch, bis der Zug eine gefährliche
Nähe erreicht hat.
Doch so chaotisch das alles aussieht, ist
es nicht, erkennt man doch schließlich, dass nur das Regelsystem
anders ist. Ausschlaggebend sind nicht die gesetzlichen Vorgaben,
man könnte sagen ausschlaggebend für die Inder sind Situation und
Konstitution. Beispiel: Nähert sich einem langsamen Motorrad von
hinten ein schwerer Laster, laut hupend, macht das Motorrad natürlich
dem Laster platz. Nähert sich allerdings ein schnelles Motorrad
einem schweren Laster, und gibt es irgendwo eine kleine Lücke, dann
wird der Motorradfahrer natürlich die Schnelligkeit und die Größe
des Motorrads ausnutzen und sich durch die Lücke quetschen. Wichtig
dabei: Der Lastwagenfahrer wird einen Teufel tun, die Lücke zu vergrößern
oder dem Überholenden irgendwie Unterstützung zu leisten. Erscheint
es für seinen Vorteil wiederum notwendig, diese kleine Lücke zu
schließen, wird er das auch tun, nachdem er den Motorradfahrer per
Hupe gewarnt hat. Nun ist das Können des Motorradfahrers gefragt:
Entweder er kann schnell genug beschleunigen und den Laster überholen,
oder aber er muss bremsen und auf seine nächste Chance warten.
Aus diesen Regularien, bei denen die Hupe
als Kommunikationsinstrument eine bedeutsame Rolle spielt, folgt
eine Hierarchie im Straßenverkehr, in der die schwächsten und langsamsten
Verkehrsteilnehmer, die Fußgänger, ganz unten stehen und kaum eine
Chance haben. Straßen zu überqueren ist in Indien ein Abenteuer,
denn es gibt kaum bis gar keine Fußgängerampeln, bis jetzt habe
ich nur eine erlebt. Zebrastreifen gibt es viele, doch die haben
nur einen Sinn: Den Fußgängern zu zeigen, wo sie eventuell eine
gute Chance haben könnten, das andere Ufer ohne Schaden zu erreichen.
Und doch ist es natürlich möglich, Straßen zu überqueren, aber nur,
wenn man das Prinzip kennt. Lücken im Verkehrsfluss oder die Wartezeiten
an Ampeln auszunutzen ist die beste und einzige von mir praktizierte
Methode, besonders günstig dann, wenn die beiden Fahrbahnen durch
eine Barriere o.ä. getrennt sind, sodass man dort Schutz suchen
kann, um dann den Endspurt anzutreten. Doch was tun, wenn es keine
Lücke im Verkehrsfluss oder keine Ampeln gibt? Dann muss man zu
einer Methode greifen, die wirklich nur die Inder beherrschen und
die ich – da ich an meinem Leben zu sehr hänge – nie anwenden werde,
deswegen warte ich manchmal sehr lange oder wandere lange Wege zur
nächsten Ampel. Bei dieser Methode tastet man sich langsam auf die
Straße vor, während vor und hinter einem Motorräder und Autos so
dicht an einem vorbeirasen, dass eine leichte Beugung nach vorne
oder hinten ausreichen würde, um von ihnen erwischt zu werden. Die
Inder bremsen zwar für Fußgänger, aber nur dann, wenn es wirklich
die allerletzte Möglichkeit darstellt, sprich im allerletzten Notfall,
im Normalfall hupen sie zur Warnung und behalten ihre Geschwindigkeit
unverändert bei. Jeder ist sich selbst der Nächste, wer zuerst kommt
mahlt zuerst, den letzten beißen die Hunde – so läuft der indische
Verkehr. Was wir Deutschen als Rücksichtslosigkeit empfinden, gehört
hier zum System dazu. Und diese scheinbare Rücksichtslosigkeit hat
sogar ihren Sinn, so vermute ich zumindest aufgrund meiner Beobachtungen:
Würde man alle Verkehrsteilnehmer mit der deutschen Gesetzestreue
ausstatten, käme es mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu viel längeren
Staus und Wartezeiten.
Gerade bezogen auf Fahrradfahrer zeigt sich
noch ein weiterer interessanter Aspekt: Der Aspekt der Sicherheit
und Angst. Die Inder haben wenig Angst, und daraus resultiert auch
ein anderes Sicherheitsdenken. Deutlich wird das bezogen auf Fahrradfahrer,
die in der Hierarchie an zweitunterster Stelle stehen. Sehr oft
habe ich beobachtet, dass sie nachts ohne Helm (Helme für Fahrradfahrer
gibt es sowieso nicht), ohne Licht und ohne jegliche Reflektoren
auf den befahrensten Straßen unterwegs sind. Die anderen Verkehrsteilnehmer
rauschen nur so in gefährlicher Nähe an ihnen vorbei, trotzdem schaffen
sie es, auch die schlimmsten Kreuzungen irgendwie zu meistern und
dabei noch fröhlich ein Liedchen zu pfeifen. Die Inder machen sich
keinen Stress, sondern stürzen sich mit einer bewundernswerten Lässigkeit
hinein in das Getümmel. Natürlich darf dabei nicht unerwähnt bleiben,
dass es in Indiens Städten viele Verkehrsunfälle mit Todesfolge
gibt, auch wenn ich noch keinen Unfall gesehen habe.
In Chennais öffentlichen Bussen zu fahren
macht besonders Spaß, kein Tourist sollte sich dieses Erlebnis entgehen
lassen. Die Busse sind schrottreife Blechkästen auf vier Rädern
mit Sitzen und Haltegriffen, aber sie rollen stetig weiter. Der
Fahrer vorne sitzt direkt neben dem Motorblock, der in den Innenraum
hineinragt und in dessen hitzige Nähe man sich nicht unbedingt begeben
sollte. Der Motor brüllt regelrecht, vorne ist eine Unterhaltung
fast unmöglich, die Gänge werden vom schwitzenden Fahrer krachend
reingehämmert, ich bezweifle dass da die Kupplung immer im Spiel
ist. Es gibt weder Klimaanlagen noch Ventilatoren, d.h. die einzige
Kühlung ist der Fahrtwind. Es gibt keine Fensterscheiben, auch keine
Türen, alles ist offen gestaltet. In den Bussen herrscht strikte
Geschlechtertrennung, je nachdem wo sich der hintere Eingang befindet
sitzen die Frauen entweder vorne oder links, die Männer entsprechend
umgekehrt. Sind alle Männerplätze besetzt, setzt sich keiner der
Männer auf einen freien Frauenplatz, umgekehrt ist das schon eher
mal möglich, gerade ältere oder gewichtigere Frauen machen von diesem
Recht gebrauch. In jedem Bus sitzt ein Schaffner, meistens auf einem
reservierten Sitz direkt neben dem hinteren Eingang. Er nimmt das
Geld entgegen und gibt die Fahrscheine aus. In Chennai fahren unzählige
Buslinien, es gibt wahrscheinlich nicht eine Stelle, die man nicht
irgendwie mit dem Bus erreichen kann. Jede Linie ist in drei Typen
aufgeteilt: Die mit den weißen Schildern ist die billigste Variante,
sie hält überall, es folgen die gelbe und grüne Linie. Für dieselbe
Strecke von vielleicht fünf bis sechs Kilometern muss man ca. 3
Rupien (ca. 5 Cents) in der billigsten und 4,50 Rupien (ca. 8 Cents)
in der teuersten Linie bezahlen, dieselbe Tour in der Rikscha würde
vielleicht 30 bis 40 Rupien (ca. 54-71 Cents) kosten. Von daher
verwundert es nicht, dass die meisten Inder auf die Busse angewiesen
sind, darum sind die Busse auch besonders in den Stoßzeiten immer
überfüllt. Da die Abendschule in den Slums um sechs Uhr endet, musste
ich also bereits häufig genau in dieser Zeit die Massen in Kauf
nehmen.
Auch hier gilt wieder das Prinzip: Wer zuerst
kommt, mahlt zuerst. Das bedeutet: Noch während der eigentlich schon
überfüllte Bus einrollt, muss man zum Spurt antreten. Vorsicht dabei
aber mit den Frauen, die dürfen die Busse als erste betreten. Mir
ist schon ein paar Mal passiert, dass ich die Frauen, die ja in
Indien fast alle äußerst klein (vielleicht 1,50 – 1,60m), dafür
aber umso stämmiger sind, übersehen habe, wirklich nicht mit Absicht!
Als Folge wurde ich übelst beschimpft und hart zur Seite gedrängt.
Schafft man es in die Nähe des Busses, muss man aufpassen. Der Schaffner,
mit einer Trillerpfeife ausgestattet, ist ein ungeduldiger Mensch.
In den meisten Fällen erfolgt sein Signal zur Weiterfahrt dann,
wenn die Hälfte der Menge einsteigen konnte. Das bedeutet also nach
seinem Pfiff hat man vielleicht noch drei Sekunden, sich irgendwie
mit einem Bein auf die erste Eingangsstufe zu retten und mit der
Hand irgendwo am Türrahmen festzuklammern. Das weitere Hineinschieben
in den Bus erfolgt dann, nachdem der schon weitergefahren ist. Manchmal
springen dann noch die letzten Männer auf und hängen dann außen
am Bus. Der Busfahrer ist das gewöhnt und hat die Passagiere über
den Außenspiegel im Blick, trotzdem wird es natürlich auf der linken
Seite schon mal knapp, im Notfall müssen welche abspringen. Im Bus
selbst herrscht eine kuschelige, körperliche Nähe. Daran musste
ich mich anfangs sehr gewöhnen, lassen wir Fremde doch ungern näher
als einen Meter an uns herankommen. Das Lösen des Fahrscheins klappt
auch in der dichtesten Menge, indem Geld und Fahrschein durch den
ganzen Bus durchgereicht werden. In diesem Fall habe ich noch keinen
Inder erlebt, der bei diesem Akt nicht mithilft. Das Gerangel um
Sitzplätze dagegen folgt wieder dem Prinzip: Jeder ist sich selbst
der Nächste. Gerade die jungen Männer boxen sich erfolgreich durch
und sind am schnellsten damit zu erkennen, wenn jemand einen Sitzplatz
verlässt, um sich dann auf diesen zu stürzen. Auf ältere Männer,
auch wenn sie noch so gebrechlich aussehen, wird nur selten Rücksicht
genommen.
Am Anfang hatte ich Mühe, am Abend die richtige
Haltestelle wiederzufinden, an der ich aussteigen muss – kein Wunder,
die Dämmerung setzt ab sechs Uhr ein, ein Blick aus dem Fenster
fällt im dichten Gemenge schwer, außerdem sahen in den ersten Wochen
doch irgendwie alle Straßen gleich aus. Inzwischen kenne ich aber
die Orientierungspunkte und könnte wahrscheinlich den Weg auch zu
Fuß laufen. Wenn ich mit den Bussen fremde Ziele ansteuere, erweist
es sich als hilfreich den Schaffner um einen Wink zu bitten, wenn
die richtige Haltestelle erreicht wurde, die meisten Schaffner sind
in diesem Punkt sehr kooperativ. Durchsagen oder Haltestellenschilder
gibt es keine, manchmal ruft der Schaffner zwar den Namen aus, doch
nicht gerade deutlich genug für die eigenen Ohren. Schön ist das
Gefühl der Freiheit, wenn man sich dann schließlich erfolgreich
aus dem überfüllten Bus herausgewühlt hat. Anfangs war ich allerdings
in dieser Situation eher voller Wut und musste auf den letzten Metern
von der Haltestelle bis nach Nesakkaram laut auf deutsch herumfluchen,
bis ich mich wieder beruhigt hatte. Wer dies nicht auf Anhieb versteht,
stelle sich bitte mal vor, 40 Minuten lang mit fünfzig Menschen
auf engstem Raum eingepfercht zu sein, schwitzend in der schwülen
Abendluft, den warmen Atem eines Inders im Nacken, und an jeder
Haltestelle setzt ein wildes Geschiebe und Gerangel ein, nicht ohne
dass man drei Stöße in die Rippen bekommt oder fünf Passagiere einem
auf die Füße latschen. Ich denke es ist nachvollziehbar, dass man
da als verwöhnter Autofahrer, dem annähernd so volle Busse nur noch
dunkel aus der Schulzeit bekannt sind, auch mal wütend wird. In
diesem Zusammenhang bewundere ich die Ruhe der Inder, die sogar
in langen Staus im Bus ausharren, ohne sich zu rühren, während ich
schon lange ausgestiegen bin, um den letzten Kilometer zu Fuß zurückzulegen.
Kontrolleure habe ich zwar noch keine erlebt,
aber es gibt sie, so wurde mir mitgeteilt. Die Strafen für Schwarzfahrer
sind empfindlich, deshalb investiert auch jeder lieber sein Geld
in die Fahrscheine. In Chennai läuft das alles auf legalen Wegen,
in anderen Städten, so wurde mir erzählt, hat man als Passagier
zwei Optionen beim Einstieg. Entweder "ticket" (Fahrschein)
oder "no ticket" (kein Fahrschein). Beides kostet, "no
ticket" ist natürlich günstiger, die "Schutzgebühr"
wandert in die private Tasche des Schaffners. Kommen dann aber Kontrolleure,
gibt es keinen Schutz, das ist das Risiko vom günstigen "no
ticket". Korruption ist übrigens ein heißes Thema in Indien
und durchzieht alle Gesellschaftsbereiche, besonders das der Politik.
Einige werden sich jetzt fragen: Hey, ist
der Dominic eigentlich blöd? Warum quetscht der sich in den Bus,
anstatt einfach eine Rikscha zu nehmen? Kostet doch nix!! Die Antwort
ist ganz einfach: Ich möchte mitten unter den Indern sein und mich
nicht als reicher Tourist abheben, abgesehen davon bin ich nicht
als Tourist hier. Dasselbe Bestreben, was mich von der Rikscha fernhält,
hält mich z.B. auch davon fern, mich in ein Restaurant zu setzen
und mich für ein paar Euro mit Köstlichkeiten vollzustopfen, wenn
es in Nesakkaram mal wieder für einige Tage kein Fleisch gegeben
hat. Wer mich näher kennt, der kennt auch meinen Heißhunger auf
FLEISCH… Der Dienst "Missionar auf Zeit" ist eine großartige
Chance, sich wirklich mit allen Sinnen mit einer fremden Kultur
auseinanderzusetzen, und dies ist meiner Meinung nach nur möglich,
wenn man das indische Leben auch wirklich mitlebt.
Natürlich bin ich bisher nicht nur Bus gefahren,
sondern ich war auch in Rikschas unterwegs (wenn kein Bus
fuhr) , in einem Autotaxi (ein Mal als ich vom Flughafen abgeholt
wurde), im hauseigenen Kleinbus oder auf einem Fahrradgepäckträger.
Am meisten Spaß macht es aber, hinten auf dem Motorrad mitzufahren,
denn in dem Fall ist man wirklich "hautnah" dabei – man
hat den Fahrtwind im Gesicht und kann an der Ampel dem Rikschafahrer
nebenan die Hand schütteln oder die Buspassagiere auf der anderen
Seite, die außen am Bus hängen, an den Füßen kitzeln…
Erstes Testspiel der Nesakkaram-Fußballmannschaft
In Sachen Fußball gab es am 23. September
einen zweiten Höhepunkt, leider wohl auch in meiner Zeit den letzten:
Die von mir aufgebaute Nesakkaram-Fußballmannschaft hatte ihr erstes
Freundschaftsspiel! Sie trat an gegen eine Straßenfußballmannschaft
des Salesianer-Jugendzentrums in Chennai. Das Jugendzentrum, das
ein vergleichbares Konzept hat wie die Jugendzentren bei uns, d.h.
ganz grob gesagt Kindern und Jugendlichen aus armen Familien offene
Projekte, Kurse, Freizeitgestaltung etc. anbietet, besitzt direkt
vor dem Haus einen eigenen Fußballplatz. Nathan hatte den Platz
in hohen Tönen gelobt, meine Erwartungen waren also groß, leider
zu groß. Im Endeffekt war es ein sehr kleiner Platz mit steinig-sandigem
Untergrund (aber allemal besser als der Untergrund des öffentlichen
Platzes bei uns) mit zwei für diesen kleinen Platz viel zu breiten
Toren. So musste ich kurzfristig alle Pläne ändern, denn es konnten
nur 9 statt 11 Spieler antreten. Damit hatte ich nun zwei mehr,
sprich insgesamt 7 Auswechselspieler, die alle spielen wollten,
und das in 2×30 Minuten. Das erste Freundschaftsspiel war also nicht
nur für die Jungs eine schwierige Sache, auch meine Fähigkeiten
als frischgebackener Möchtergerntrainer wurden auf eine Probe gestellt…
Das Spiel begann super für uns. Ich hatte
den Jungs eingeschärft, von Anfang an, sprich schon beim Warmlaufen,
entsprechend diszipliniert und professionell aufzutreten, um einen
Eindruck bei den Gegnern zu hinterlassen. Der Plan ging auf, in
den ersten zehn Minuten kontrollierte Nesakkaram das Spiel und hatte
sogar einige gute Chancen. Doch dann wachten die Gastgeber auf und
begannen ihr Spiel zu spielen. Sie brauchten nicht lange, um die
Schwächen in unserer Abwehr zu erkennen, die ersten beiden Tore
gegen uns fielen. Mit Mühe und Not retteten wir uns in die Halbzeitpause,
wo ich einiges bemängeln musste. Doch meine Anweisungen halfen nicht
viel. In der zweiten Halbzeit brach das komplette System unserer
Mannschaft mehr oder weniger zusammen, kein Spielzug kam mehr zustande,
die kleinsten Spieler des Gegners tricksten die ganze Abwehr aus.
Trotzdem brachten wir sogar zwei Tore zustande, eines aufgrund einer
Einzelleistung des Kapitäns, der viel zu selten den Ball abgab,
doch einmal erfolgreich durchkam, das andere Tor entstand durch
einen guten Querpass und einen flachen Schuss eines Mittelfeldspielers
in den Torwinkel, der kleine Torwart hatte in diesem riesigen Tor
nicht wirklich eine Chance. Endstand nach insgesamt 60 Minuten:
6:2. Es hätte schlimmer sein können, schließlich war das für uns
das erste richtige Spiel nach nur wenigen Monaten Training, während
die Gegner, wie sie uns erzählten, seit Jahren schon den Ball am
Fuß haben und regelmäßig trainieren. Insofern also ein tolles Ergebnis
und eine super Erfahrung!
Wie es mit dem Fußball in Nesakkaram weitergeht,
steht leider noch in den Sternen. Für die letzten Wochen musste
ich schon mein Trainingskonzept komplett ändern und mich von einem
durchstrukturierten Trainingsprogramm, wie ich es am Anfang noch
durchziehen konnte, verabschieden. Ein Problem besteht darin, dass
die Kinder teilweise sehr spät aus der Schule kommen, das Problem
hat sich nach den Ferien verschärft. Die Lehrer genießen in Indien
große Freiheiten, wenn sie wollen können sie die Kinder einfach
auch mal länger in der Schule festhalten, Stundenpläne werden ad
absurdum geführt. In meiner Sichtweise eine Unverschämtheit und
gegen die Freiheit des Kindes, doch wohl in Indien nicht unüblich.
Ansatzweise nachvollziehbar aber vor dem Hintergrund, dass erstens
die indischen Lehrer nur dann akzeptiert und anerkannt werden wenn
sie gute Noten verteilen (d.h. Nachsitzen nicht nur zum Vorteil
der Kinder…), zweitens die Lehrer davon überzeugt sind, dass die
Kinder besser in der Schule aufgehoben sind, weil sie dort unter
Kontrolle ihre Aufgaben erledigen. Für außerschulische Aktivitäten
ist dieses Vorgehen natürlich äußerst schädlich, und für mein Konzept
bedeutet es das Aus. Das Problem wird dadurch verschärft, dass die
älteren Schüler von Nesakkaram allesamt schlechte Halbjahreszeugnisse
hatten und deswegen nun im Auftrag von Father Jesu jeden Tag statt
um 18 Uhr schon um 17:30 Uhr mit der Abendklasse beginnen, zusätzlich
auch nach dem Abendessen bis 22 Uhr pauken sollen. Normalerweise
war die Trainingszeit dienstags und freitags von 16:30 Uhr bis 17:45
Uhr, doch nun kann ich weder pünktlich beginnen noch bis zum Ende
alle Kinder an der Stange halten, mehr als die Hälfte der Mannschaft
muss schon um 17:15 Uhr verschwinden wegen der vorgelegten Abendklasse.
Für einige lohnt sich das Kommen gar nicht mehr, da sie erst um
17 Uhr aus der Schule kommen. Am Wochenende zu trainieren ist unmöglich,
da der öffentliche Platz dann überfüllt ist.
Da ich nur noch einige Wochen hier bin, entschloss
ich mich, das Training nun lockerer und offener zu gestalten. Wer
kommt der kommt, und wenn um 16:30 Uhr nur zwei Jungs da sind, dann
stelle ich mich eben ins Tor und die anderen spielen 1 gegen 1.
Nach 17:15 Uhr gebe ich dann in der letzten halben Stunde den ganz
Kleinen die Chance, unter meiner Aufsicht zu spielen, der Eifer
und die Begeisterung sind groß! Dieses neue offene Konzept habe
ich Father Jesu vorgestellt, er war einverstanden. Was schließlich
von dem ganzen Fußballkomplex übrig bleiben wird, wenn ich hier
verschwunden bin, wird nicht viel sein. Im besten Fall wird sich
jemand drum kümmern, dass die Kinder weiterhin den Ball rollen lassen,
im schlimmsten und auch realistischsten Fall wird sich die Mannschaft
wohl komplett auflösen und der Fußball sich als eine Option in die
verschiedenen Freizeitangeboten einreihen. Doch auch dann hat mein
Engagement etwas bewirkt, denn der Fußball war vor meinem Kommen
nicht in der Auswahl!
Regenzeit in Chennai
Indien ist groß, die Monsunwinde wandern,
und mit ihnen die Regenwolken. Die sind nun in Chennai angekommen
– es ist Regenzeit. Angekündigt hat sie sich mit einigen Gewittern
und Stürmen, begleitet von heftigen Wolkenbrüchen. Mit dem Monsun
ändert sich einiges in der Stadt. Das Klima ist auf jeden Fall kühler
und damit angenehmer, ich merke den Unterschied deutlich und schlafe
auch besser. Teilweise ist der ganze Tag der Himmel wolkenverhangen,
manchmal regnet es dauerhaft, manchmal mit langen Pausen dazwischen,
die Sonne zeigt sich im Moment hier nur selten. Das viele Wasser
hat in der Stadt dann allerdings nur negative Folgen. Obwohl der
Monsun so regelmäßig kommt wie bei uns der Schnee, ist Chennai nicht
gewappnet. Kaum ausgebaute oder verstopfte Kanalisation und einbetonierte
Flussbetten sind hauptausschlaggebend für heftige Überschwemmungen.
Bei uns im Viertel ist alles noch harmlos, nach heftigen Regenschauern
steht das Wasser auf der Straße vielleicht knöcheltief, das ist
also noch ohne große Probleme zu meistern – Hose hochkrempeln und
in den Sandalen (Gummistiefel sind hier nicht bekannt) ab durch
die Mitte, Füße waschen natürlich nachher nicht vergessen. In anderen
Stadtteilen sieht es schlimmer aus, ganze Straßen müssen gesperrt
werden, viele Einwohner verlieren für eine Weile oder für immer
ihr Obdach, Schulen können nur die Hälfte des Gebäudes benutzen.
Die Medien setzen die Politiker zwar unter
Druck, endlich für entsprechende Strukturen zu sorgen, um den Wassermassen
begegnen zu können, doch jedes Jahr passiert dasselbe: Während des
Monsuns wird heftig diskutiert, im Fernsehen berichtet ein Sender
dramatischer als der andere über Familien, die auf selbst gezimmerten
Flößen durch die Stadt rudern, doch kaum endet der Regen, interessiert
sich keiner mehr für das Thema, die Politiker und Journalisten gehen
bezogen auf den Monsun wieder in die Schlafphase – bis zum nächsten
Mal. Und somit geht es nur schleppend mit der Erweiterung von Flussbetten
oder dem Ausbau der Kanalisation voran.
Die Moskitos freuen sich natürlich über das
Wasser, da sie ihre Eier darin ablegen. In den ersten Tagen schwirrten
im Haus zigmal soviel Moskitos wie sonst umher, es war fast unmöglich,
in Ruhe irgendwo zu sitzen. Inzwischen hat es sich aber wieder normalisiert,
unterstützt dadurch, das Father Joy zu diversen Chemikalien gegriffen
und damit etwaige Brutplätze im Erdgeschoss (die Toilettenräume)
unter Beschuss genommen hat. Ein neues Jagdinstrument im Kampf gegen
die Moskitos ist zu meinem Lieblingsspielzeug geworden und das vieler
Inder: Sieht aus wie ein Plastik-Tennisschläger für Kinder, ist
allerdings für Kinder nicht ungefährlich. Im Griff stecken aufladbare
Batterien, die die Draht-Netze im oberen Teil unter Strom setzen.
Sobald ein Moskito zwei der Gitter gleichzeitig berührt, was beim
Fliegen durch die Maschen fast immer passiert, schließt sich der
Stromkreis und die blutsaugende Kreatur wird mit einem lauten Knall
und einem kräftigen Funkenschlag regelrecht gebraten. Der Moskito
ist sofort tot, ich denke diese Methode ist nicht nur effizienter,
sondern auch humaner als mit der Hand nach den Moskitos zu schlagen,
denn ich habe oft erlebt, das der Moskito selbst nach einem kräftigen
Schlag und mit nur noch der Hälfte seines Körpers munter weiterzappelte.
Manchmal bleiben die gebrutzelten Moskitos in den Maschen hängen,
in diesem Fall füttere ich damit die Ameisen, die sich vor Freude
regelrecht um den willkommenen Braten reißen.
Ich bitte darum, den oberen Absatz nicht gar
so ernst zu nehmen und darf vielleicht noch hinzufügen, dass es
sich selbstverständlich bei allen Tötungsdelikten um reine Selbstverteidigung
handelt. Würden die weiblichen Moskitos beim Blutsaugen keine Krankheiten
übertragen und diesen Juckreiz verursachen, könnte man sich ja vielleicht
auf eine gewisse Menge Blut mit ihnen einigen ganz nach dem christlichen
Prinzip des Teilens, aber in diesem Falle ziehe ich doch den funkensprühenden
Schläger vor. Letzte Anmerkung dazu: Ja, ich weiß, es gibt Antimückensprays
und -cremes, doch auch die helfen nur bedingt: Erstens haben Moskitos
keine Probleme damit, auch durch Kleidung hindurchzustechen, zweitens
sind die Cremes nicht gerade hautfreundlich, drittens schützen sie
nicht hundertprozentig, manche Moskitos sind inzwischen immun…
Die Sache mit der Armut
Der Begriff der Armut hat sich für mich hier
in Indien immer mehr mit Inhalt gefüllt. Im reichen Westen neigt
man ja schnell dazu, dieses gesellschaftliche Phänomen sehr einseitig
und oberflächlich zu betrachten, dabei ist es doch genauso vielschichtig
wie die Gesellschaft selbst. Neben meiner eigenen Sichtweise bin
ich natürlich besonders daran interessiert zu erfahren, wie die
Inder selbst mit der großen Armut in Indien umgehen, und hier haben
sich interessante Aspekte ergeben. Eine Sache musste ich selbst
erfahren, wenn auch nur im Ansatz: Und zwar die erschreckende Tatsache,
dass man sich als Außenstehender an die sichtbare bittere Armut
in gewisser Weise gewöhnen kann. Die Slums in Chennai sind nicht
versteckt, nein, sie sind allgegenwärtig und überall. Ein Slumgebiet
z.B. befindet sich nur einen halben Kilometer entfernt von Nesakkaram
direkt neben dem Tennisstadion, in dem internationale Turniere abgehalten
werden. Das heißt tagtäglich läuft man an ihnen vorbei, an diesen
zusammengezimmerten Hütten, in denen auf engsten Raum unter kaum
vorstellbar unwürdigen Bedingungen ganze Familien ihr Dasein fristen.
Anfangs hat mich der Anblick einfach nur schockiert, inzwischen
ertappe ich mich dabei, es schon fast als normal zu empfinden. Da
die Inder mit den Slums in der Nähe aufwachsen, kann man sich gut
vorstellen, dass diese sichtbare Armut kaum Reaktionen in ihnen
auslöst – die Slums sind fester Bestandteil der Stadt.
Doch natürlich gibt es auch die Inder, die
trotz aller Gewohnheit die unwürdigen Lebensverhältnisse erkennen
und sich für eine Verbesserung einsetzen, seien es die Franziskaner,
Salesianer, Kirchen, Sozialarbeiter, sozial engagierte Unternehmen
oder Familien etc. Aber das Problem der Slums ist nicht allein
ein Problem der Städte, der größten Armut in Indien begegnet man
auf dem Land. Die meisten Slums entstehen dadurch, dass Familien
aus dieser Armut in die Städte flüchten in der Hoffnung, sich dort
eine neue Existenz aufbauen zu können. Die Konsequenz: Um die Armut
im Kern zu bekämpfen, muss ein politisch gesteuertes Gesamtkonzept
her. Natürlich ist die Armut in der Politik ein Thema, doch der
Staat scheint noch meilenweit davon entfernt, entsprechende Konzepte
in die Tat umsetzen zu können. So wie ich das bis jetzt mitbekommen
habe, gibt es wohl grob betrachtet zwei Sichtweisen in der Politik,
gegen die Armut vorzugehen. Die eine Sichtweise setzt auf den wirtschaftlichen
Aufschwung besonders im Bereich Computer basierend auf dem Gedanken,
am wachsenden Reichtum mehr und mehr Inder teilhaben zu lassen,
die andere Sichtweise konzentriert sich auf eine aktive Bekämpfung
der Armut.
Ein recht junges Gesetz sieht vor, dass Unternehmen,
die sich sozial engagieren, mit Steuererleichterungen belohnt werden.
Unternehmen sollen damit motiviert werden, sich für die Armen einzusetzen.
Dieser Einsatz kann z.B. so aussehen, dass ein Unternehmen auf ein
Projekt wie Nesakkaram zugeht und den Firmenbus zur Verfügung stellt,
um mit den Kindern einen Ausflug zu machen, auch das Essen wird
dann gesponsert. Nesakkaram würde in so einem Fall natürlich nicht
Nein sagen, denn die Finanzmittel, die zur Verfügung stehen – sowohl
von der Missionszentrale als auch vom Staat -, sind gar nicht üppig.
Die Idee scheint also auf den ersten Blick nicht schlecht zu sein.
Doch wenn Father Joy Recht hat, dann macht das Gesetz immer weniger
Sinn. Gerade die großen Unternehmen haben inzwischen eigene Unternehmensbereiche
gegründet, in denen Sozialarbeiter beschäftigt werden. Das Problem
besteht in der Definition von "sozial". Überspitzt gesagt
reicht es aus, wenn die Sozialarbeiter in der Kantine mit den Beschäftigten
über ihre Probleme reden. D.h. im Endeffekt haben die Armen wenig
von dem Gesetz, stattdessen macht das Unternehmen noch ein dickes
Plus, da sie für den Lohn für die Sozialarbeiter weniger ausgeben
als was durch die Steuererleichterung gespart wird.
Bettler in Indien kommen übrigens sehr schlecht
weg. Betteln ist, soweit ich weiß, nicht nur verboten, sondern auch
recht verpönt. Allerdings auf eine andere Weise, als man vermuten
könnte. So hat mich doch sehr nachdenklich gemacht, in welcher Form
Bettler in den Nachrichten auftauchen. Schon zwei Mal wurde darüber
berichtet, welche riesigen Summen die Bettler in Chennai angeblich
verdienen würden, teilweise mehr am Tag als der Durchschnittsverdiener
in einem Monat. Natürlich habe ich mich gefragt, woher diese Zahlen
kommen. Die Quelle war schwammig, irgendwelche Statistiker haben
sich wohl dort versucht. Father Joy nach haben viele Inder Mitleid
mit Bettlern, gerade die Ärmeren geben immer wieder von ihrem wenigen
Geld etwas ab. Er erzählte mir auch eine Geschichte, die in den
Nachrichten sehr breit getreten wurde: So wurde angeblich eine alte
Bettlerin tot aufgefunden, die an ihrem Schlafplatz derartige Reichtümer
angehäuft haben soll, dass sie eigentlich ein Luxusleben hätte führen
können. Arroganz, Mitleid, Neid – viel kommt hier zusammen.
Trotz der Armut und der vielen Probleme sind
die Inder äußerst stolz auf ihr Land, und der ausgeprägte Nationalstolz
zeigt sich nicht nur beim Kricket-Spiel. Besonders der Aufschwung
im Bereich Computer lässt viele Inder auf Wolke 7 schweben. Leider
geht damit auch oft der kritische Blick auf das Land verloren, wie
eine deutsche Gruppe erfahren musste. Von dieser Gruppe habe ich
schon im letzten Newsletter berichtet. Die Deutschen sollten im
Loyola-College, ganz in der Nähe von Nesakkaram, einen Vortrag über
ihr Land halten inklusive PowerPoint-Präsentation und Projektion
auf großer Leinwand. Wie wir Deutschen halt so sind, fiel diese
Darstellung recht kritisch und ein bisschen selbstironisch aus,
wie mir die Gruppe berichtete. Auch die indischen Studenten präsentierten
ihr Land, doch in diesem Fall protzte der Vortrag nur so mit Lobeshymnen.
In der anschließenden Diskussion kam dann die Frage von Seiten der
Inder, warum denn die Deutschen ihr ganzes Geld für Kleidung und
Partys ausgeben würden, anstatt es an die armen Kinder in Afrika
zu spenden. Abgesehen von einer teilweise berechtigten Kritik, die
in dieser Frage steckt, verwundert doch die Perspektive in dieser
Frage sehr. Jeder kann sich vorstellen, dass die komplette deutsche
Gruppe im ersten Augenblick doch sehr sprachlos dastand und erst
mal nicht so ganz wusste, wie sie mit dieser Frage umgehen sollte…
Letztlich entschied sie sich, nicht auf Konfrontationskurs zu gehen.
Schade eigentlich, denn ich denke nur so kommt es doch zu einem
richtigen Austausch!
Schon gewusst?
- Das Volk der Sinti und Roma, abfällig
als "Zigeuner" bezeichnet, stammt ursprünglich aus
Indien. Darauf weisen die deutlichen Parallelen in der Sprache
hin. Zur Zeit leben rund 8 Millionen in Europa, davon 60.000-70.000
in Deutschland.
- So manch ein deutscher Tourist, der das
nicht weiß, wird wohl erst einmal einen Schrecken bekommen.
Das Hakenkreuz, das durch die Nationalsozialisten eine bittere
Bedeutung erfahren hat, wird in Indien sehr häufig verwendet,
die ursprüngliche Bedeutung in Sanskrit ist "heilbringendes
Zeichen". Das Hakenkreuz ist ja ein sehr altes Symbol und
wird / wurde auf vielen Kontinenten verwendet.
Abschied
Einige werden gemerkt haben, dass ich angekündigte
Themen nicht angesprochen habe, doch keine Panik: Dies wird nicht
der letzte Newsletter sein. Auch wenn ich den folgenden Newsletter
wahrscheinlich schon in Deutschland tippe, werden die Themen Verständigung,
Essen, Religion etc. noch zur Sprache kommen! Auch nach meiner Rückkehr
werde ich den Newsletterservice vorerst weiter aktiv lassen, um
über nahe Folgen und Konsequenzen zu berichten. Fragen, Anregungen
und Kommentare sind natürlich weiterhin willkommen!
Beste Grüße nach Deutschland,
Dominic
Datum: 31.10.2006, Autor:
Dominic Winkel
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