Auf ein Wort…. Nov./Dez. 2004

Auf ein Wort……….

Zwei Menschen sind in Streit
miteinander geraten. Nacheinander suchen die beiden einen Rabbi
auf, der als besonders weise gilt, um sich Rat bei ihm zu holen.
Nachdem der Rabbi den ersten angehört hat, entlässt er ihn mit dem
Urteil: „Du hast recht!“. Wenig später kommt der zweite und schilderte
die Angelegenheit aus seiner Sicht. Da gibt der Rabbi auch dem zweiten
recht. Die Frau des Rabbi hat alles mitangehört. Nachdem beide wieder
gegangen sind, wendet sie sich entrüstet an ihren Mann: „Aber du
kannst doch nicht beiden recht geben.“ Da antwortet ihr der weise
Rabbi: „Da hast du nun auch wieder recht!“

In dieser Anekdote liegt viel
Wahrheit. Natürlich können nicht beide recht haben und doch ist
es manchmal so. Zwei Freunde sind sich plötzlich Spinnefeind. Ein
Wort löste das andere aus, alte Verletzungen kommen an die Oberfläche.
Jeder schildert die Sache aus seiner Sicht und irgendwie haben beide
recht und unrecht, aber das Knäuel der Verwicklungen ist kaum noch
zu entflechten. Wir leiden, wenn uns Unrecht geschieht und
sind dennoch immer wieder darin verwoben.

Zwei Mönchen, die Streit miteinander
haben, gibt der Abt zur Antwort: „Gerechtigkeit gibt es nur in der
Hölle, im Himmel regiert die Barmherzigkeit, und auf Erden gibt
es das Kreuz!“

Für mich hat dieses Kreuz zwei
Dimensionen. Die eine lautet:

Im Leben haben wir immer wieder
unser Kreuz zu tragen, erleiden Unrecht und Ungerechtigkeiten, sind
an beidem aber auch immer wieder beteiligt und leiden mitunter daran
besonders, wenn wir spüren, einem Menschen nicht gerecht geworden
zu sein, ihm vielleicht sogar Unrecht getan zu haben.

Die andere Dimension verweist
uns auf den, der an diesem Kreuz gehangen hat, der Gottessohn, der
uns die Liebe und Barmherzigkeit im Umgang miteinander empfohlen
hat und sie uns auch vorlebte, eben bis an dieses Kreuz. Wer sich
in seiner Liebe aufgehoben weiß, muss nicht immer nur auf das eigene
Recht pochen, kann getrost auch schon mal die kleineren Brötchen
backen, was nicht heißen soll, Christen hätten immer und überall
„den unteren Weg zu gehen“. Auch dafür ist Jesus ein Beispiel, wie
so manche Auseinandersetzung mit seinen Feinden und Freunden zeigt.

Wer sich in Gottes Liebe geborgen
weiß, muss nicht um jedes vermeintliche Recht kämpfen. Und wer sich
Gottes Barmherzigkeit gefallen lässt, muss nicht verzweifeln, wenn
er oder sie einem anderen Unrecht zugefügt hat. Er kann mit dem
anderen und sich selbst auch barmherzig umgehen. Barmherzigkeit
macht es uns möglich, uns zu entschuldigen. Barmherzigkeit macht
es uns möglich, Schaden zu heilen und wieder gut zu machen. Barmherzigkeit
gestattet uns den Neubeginn, „denn bald kommt von mir das Heil,
meine Gerechtigkeit wird sich offenbaren.“

Ich wünsche Ihnen im ausklingenden
Jahr und in den vor uns liegenden besinnlichen Wochen so manche
Gelegenheit zu mehr Gerechtigkeit und Heil, weil diese Welt und
ihre Menschen beides nötig haben.

Es grüßt sie herzlich, Ihr Herbert
Siemon