Stationen eines bedeutenden Lebens

 

100. Todestag: Friedrich von Bodelschwingh
(1831 – 1910)

Stationen eines bedeutenden
Lebens

Bielefeld-Bethel.

Unzählige Straßen, Kirchengemeinden und Schulen in Deutschland
sind nach ihm benannt. Bekannter als die Person Friedrich von Bodelschwingh
ist jedoch sein Lebenswerk: „Bethel“. Die Diakonie-Einrichtung
wurde im Jahr 1867 gegründet. Fünf Jahre später übernahm Bodelschwingh
ihre Leitung. Und er forcierte ihre Entwicklung mit großem Tatendrang.
Sein Leben hätte eigentlich ganz anders verlaufen sollen. Seine
Familie gehörte zum westfälischen Uradel. Der Vater und ein Onkel
bekleideten hohe preußische Ministerämter. Es wäre standesgemäß
gewesen, wenn Friedrich von Bodelschwingh ebenfalls eine Beamten-
oder militärische Laufbahn angestrebt hätte. Doch er wurde Pastor.
Und zwar einer, der sich mit ganzer Kraft für die Kranken und Benachteiligten
einsetzte.

Friedrich Christian
Carl von Bodelschwingh kam am 6. März 1831 in Haus Mark, einem idyllisch
gelegenen Gutshaus, im westfälischen Tecklenburg zur Welt. Er war
das sechste Kind von Charlotte und Ernst von Bodelschwingh. Obwohl
er bereits früh mit seinen Eltern umziehen musste und Westfalen
verließ, blieb er seiner westfälischen Heimat verbunden. Dass er
in Westfalen sein Lebenswerk, das bis heute seinen Namen trägt,
vollenden würde, konnte zu der Zeit niemand ahnen.

Friedrichs Vater,
Ernst von Bodelschwingh, wurde 1842 vom Preußenkönig Friedrich Wilhelm
I V nach Berlin berufen. Er war Finanzminister und einige Jahre später
Minister des Inneren. Das war die höchste Stellung, die ein Beamter
zur damaligen Zeit einnehmen konnte. Friedrich besuchte das Gymnasium
in Berlin. Er war ein Spielgefährte des Kronprinzen und späteren
„99-Tage-Kaisers“ Friedrich Wilhelm III. In seiner Freizeit
betätigte er sich sportlich. Er erlernte Rudern, Reiten und Fechten,
wie es sich für einen Sohn aus adligem Hause gehörte.

Friedrich von
Bodelschwingh wuchs auf der Sonnenseite des Lebens auf. Doch auch
die Schatten blieben dem adeligen Spross nicht verborgen. Sein Hauslehrer,
der sich für wohltätige Zwecke engagierte, nahm ihn mit in die Armenviertel
der preußischen Hauptstadt Berlin. Friedrich notierte seinen Eindruck
„von Hunger, Blöße und Elend der Armen, ganz besonders aber auch
von dem unbillig großen Abstand zwischen arm und reich.“ Während
er Armut, Hunger und Krankheit in der rasant wachsenden Hauptstadt
von außen betrachten konnte, mussten immer mehr Menschen in Berlin
unter diesen miserablen Bedingungen leben. 1848 gingen in Berlin
die Menschen aus Zorn über die gesellschaftlichen Missstände auf
die Straße, es wurde geschossen, es gab Tote. Friedrichs Vater wurde
als Minister gestürzt und die Familie kehrte zurück nach Westfalen.
Die Erfahrungen erschütterten den damals 17-Jährigen zutiefst. Bei
allem Verständnis für die soziale Lage der arbeitenden Bevölkerung
verabscheute er die gewaltsamen Proteste des „Pöbels“. Für
ihn stellte die Monarchie mit ihren Adelsgeschlechtern eine gottgegebene
Ordnung dar. Friedrich von Bodelschwingh war ein Konservativer und
blieb dem Herrscherhaus der Hohenzollern Zeit seines Lebens verbunden.

Friedrich bestand
sein Abitur 1849 in Dortmund und machte anschließend eine Ausbildung
zum Landwirt. So lernte er das Elend der Landarbeiter kennen und
versuchte Hilfen zu organisieren indem er sich um die Ernährung
kümmerte und die Arbeitsbedingungen verbesserte. Darüber hinaus
nahm er den Kampf gegen den Alkoholkonsum auf und verteilte christliche
Traktate an die Landarbeiter. Der junge Adelige war geprägt von
seinem tief gläubigen Elternhaus. Während er als Landwirt auf Gut
Gramenz in Hinterpommern arbeitete, vermied er es, an den üblichen
Wochenendvergnügungen teilzunehmen. Stattdessen suchte er Kontakt
zu christlichen Gruppen. Dort bekam er ein Büchlein des Baseler
Missionshauses in die Hände. „Tschin der arme Chinesenknabe“,
so der Titel. Die Geschichte war für den 24-Jährigen ein Schlüsselerlebnis.
Bodelschwingh fühlte sich zum Missionar berufen und begann daher
Theologie zu studieren. Im April 1858 legte er sein erstes theologisches
Examen ab.

Doch sein Weg
führte ihn nicht in die Mission nach Afrika oder China. Seine bereits
damals angeschlagene Gesundheit ließ diesen Lebensweg nicht zu.
Stattdessen nahm er ein Angebot als Pfarrer in Paris an. Seine Gemeindemitglieder
dort waren deutsche Fremdarbeiter, die ihr Leben als Gassenkehrer
bestritten. Bodelschwingh gelang es, in Deutschland für Spenden
zu werben und auf dem Montmartre eine kleine Kirche und Schule zu
errichten. Während dieser Zeit heiratete er seine Cousine Ida von
Bodelschwingh mit der er in einer engen Holzhütte in Paris lebte.

Nach Deutschland
zurückgekehrt übernahm Bodelschwingh 1864 eine Pfarrstelle in Dellwig
an der Ruhr. Dort machte er sich durch seine energische Art nicht
nur Freunde. Er wetterte gegen Schützenfeste, Tanzveranstaltungen
und den ungehemmten „Branntweingenuss“. In Dellwig erfuhren
er und seine Frau Ida aber auch einen furchtbaren Schicksalsschlag,
der Bodelschwingh drei Jahre später wohl zu einem Neuanfang als
Leiter der jungen Einrichtung für Menschen mit Epilepsie bei Bielefeld
bewegen sollte.

In Dellwig starben
im Januar 1869 alle vier Bodelschwingh-Kinder innerhalb von 14 Tagen
an Diphtherie. „Gestern Abend um 11 Uhr hat unser lieber kleiner
Friedrich auf dem Schoße seiner Mutter sein Köpfchen sehr sanft
in den Schlaf geneigt“, schrieb Friedrich von Bodelschwingh an seine
Mutter nach dem Tod des ersten Kindes. Für Ida und Friedrich wurde
Dellwig nun ein Ort schmerzlicher Erinnerungen. Deshalb wagte der
Pastor 1872 einen beruflichen Neuanfang in Bielefeld. Noch 1869
bekam das Ehepaar den Sohn Wilhelm und in den ersten Jahren in Bethel
drei weitere Kinder.

Für ein Jahresgehalt
von 1000 Talern übernahm Friedrich von Bodelschwingh in Bielefeld
die „Anstalt für Epileptische“. Die Entwicklung der Einrichtung
trieb er mit enormer Kraft voran. Jedes Jahr wurden neue Häuser
gebaut, immer mehr kranke und hilfebedürftige Menschen konnten aufgenommen
werden. Bodelschwingh entschied, dass der Ort Bethel heißen sollte.
Das hebräische Wort bedeutet Haus Gottes. Bethel heißt der alttestamentarische
Ort, an dem Jakob von der Himmelsleiter träumte „Wie heilig ist
diese Stätte. Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier
ist die Pforte des Himmels.“ (1. Mose 28, 17)

Das von Bodelschwingh
beförderte schnelle Wachstum der Einrichtung Bethel kostete viel
Geld. Aber der neue Vorsteher der Anstalt erwies sich als talentierter
Spendensammler. Er bat einflussreiche Menschen um Hilfe. Und er
gründete „Pfennigvereine“, in denen viele Menschen die Arbeit
Bethels unterstützten. Theodor Heuss, der erste Bundespräsident
der Bundesrepublik Deutschland, bezeichnete Bodelschwingh später
deshalb als den genialsten Bettler, den Deutschland je gesehen habe.

Wo Bodelschwingh
Not sah, wollte er helfen. Und zwar schnell und unbürokratisch.
So beschäftigten ihn auch die Armut und Massenarbeitslosigkeit.
Er nutzte seinen Einfluss und gründete Arbeiterkolonien, Wilhelmsdorf
bei Bielefeld, Freistatt bei Diepholz und Lobetal bei Berlin. Sein
Motto lautete: „Arbeit statt Almosen“. 1903 ging er sogar in
die Politik und engagierte sich noch mehrere Jahre als Abgeordneter
im preußischen Landtag für die Lage der Wanderarbeiter.

Doch sein Gesundheitszustand
verschlechterte sich zusehends. Bereits ein Jahr vor seinem Tod
hatte ein Schlaganfall Friedrich von Bodelschwingh teilweise das
Sprachvermögen genommen und dazu geführt, dass er überwiegend im
Rollstuhl saß. Am 2. April 1910 starb er an den Folgen eines weiteren
Schlaganfalls in Bethel im Kreise seiner Kinder. Bethels zweiter
Leiter und prägender Gestalter über vier Jahrzehnte wurde 79 Jahre
alt. Seine letzten zehn Lebensjahre waren immer wieder von Krankheiten
bestimmt. Dennoch ließ sich Vater Bodelschwingh möglichst wenig
davon in seinem Ideenreichtum und seinem Gestaltungswillen beeindrucken.

Neben dem weiteren
Ausbau Bethels und der neu gegründeten Arbeiterkolonien setzte er
sich auch für ein neues Missionsgebiet in Ruanda ein. „Das Geheimnis
Bodelschwinghs war, dass er nicht wegschauen konnte. Buchstäblich
bis in seine letzten Lebenstage hinein hat er sich von der Begegnung
mit menschlichem Elend existenziell berühren lassen“, schreibt
der Historiker Hans-Walter Schmuhl in seiner 2005 erschienenen Bodelschwingh-Biografie.

Die Leitung seines
Lebenswerkes Bethel hatte Bodelschwingh kurz vor seinem Tod seinem
jüngsten Sohn, Pastor „Fritz“ übertragen. Wie der Vater so
stellte auch der Sohn sein Leben ganz in den Dienst von behinderten,
kranken und benachteiligten Menschen. – In den v. Bodelschwinghschen
Stiftungen Bethel wird Friedrich von Bodelschwingh anlässlich seines
100. Todestags im Jahr 2010 in besonderer Weise gedacht.