Liebe Leserin, lieber Leser,
jemand hat mich
beleidigt. Mein erster Gedanke: Das kann ich nicht auf mir sitzen
lassen! Das werde ich ihm heimzahlen! Wie du mir, so ich dir. Ich
fühle mich im Recht. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, so steht es doch
in der Bibel. Und bis heute dient dieser Satz als Rechtfertigung
für Racheakte. Ist das tatsächlich Gottes Wille?
Die Bibel berichtet
von hemmungsloser Blutrache in der Urzeit. Für einen Ermordeten
bezahlten viele Unschuldige mit ihrem Leben. Da greift Gott ein
mit einer neuen Rechtsbestimmung: „Auge um Auge, Zahn um Zahn, Wunde
um Wunde, Strieme um Strieme.“ Dem Verlangen, das erlittene Unrecht
noch zu übertrumpfen, wird hier deutlich Einhalt geboten. Man könnte
also lesen: „Nicht mehr als ein Auge für ein Auge, nur ein Zahn
für einen Zahn.“ Damit begrenzt Gott den Schaden, den Menschen sich
in ihrem Bedürfnis nach Rache und Vergeltung zufügen. In späterer
Zeit setzte sich die Einsicht durch, dass der Gottesfürchtige eben
nicht mit gleicher Münze heimzahlen solle. Die Redensart „Wie du
mir, so ich dir.“ geht auf ein biblisches Sprichwort zurück: „Sage
nicht: Wie einer mir tut, so will ich ihm auch tun“ (Sprüche 24,29).
Der, dem Unrecht geschah, wird also aufgefordert, nicht Gleiches
mit Gleichem zu vergelten. Also nicht: Wie du mir, so ich dir. Sondern
genau umgekehrt: Wie du mir, so ich dir nicht.
Und doch lassen
wir uns immer wieder dazu hinreißen. Wenn wir uns ungerecht behandelt
oder benachteiligt fühlen, wenn wir beleidigt oder angegriffen werden,
dann meldet sich in uns diese fiese, unangenehme Stimme, die sagt:
Das kannst du doch nicht auf dir sitzen lassen! Lass dir das bloß
nicht gefallen! Gib jetzt nicht klein bei! Wehr dich! Zeig es ihm!
Zahl es ihr heim!
Der Wunsch nach
Rache ist ein mieses, kleinliches Gefühl, für das wir uns im Grunde
schämen. Viel lieber möchten wir großmütig sein und verzeihen. Umso
erstaunlicher ist es, wie offen die Psalmbeter über Rache, Vergeltung
und Genugtuung reden. Sie scheuen sich nicht, ihren Gegnern die
Pest an den Hals zu wünschen. Sagen aber gleich im nächsten Satz:
„Ich aber will zu Gott rufen, und der Herr wird mir helfen.“ Und
empfehlen: „Wirf dein Anliegen auf den Herrn; der wird dich versorgen
und wird den Gerechten in Ewigkeit nicht wanken lassen.“ Um dann,
im letzten Vers dieses Psalms (Psalm 55), noch einmal nachzukarten:
„Und du, Gott, wirst sie hinunter stoßen in die tiefe Grube. Die
Blutgierigen und Falschen werden ihr Leben nicht bis zur Hälfte
bringen. Ich aber hoffe auf dich.“ Das klingt ganz schön gehässig
und ist bestimmt nicht die feine Art. Dennoch finde ich den Rat
des Psalmbeters ganz hilfreich: „Wirf dein Anliegen auf den Herrn;
der wird dich versorgen und wird den Gerechten in Ewigkeit nicht
wanken lassen.“
Wirf
dein Anliegen auf den Herrn, nicht nur deine Sorgen und Nöte, sondern
auch die Kränkungen und Verletzungen, die du erlitten hast, die
offenen oder versteckten Anfeindungen und deinen Wunsch, es denen
heimzuzahlen, die dir Unrecht getan haben.
„Wirf dein Anliegen
auf den Herrn; der wird dich versorgen und wird den Gerechten in
Ewigkeit nicht wanken lassen.“ Ich muss mich nicht selbst behaupten,
muss mein Recht nicht in die eigene Hand nehmen, sondern kann es
getrost Gott überlassen und darauf vertrauen, dass er schon für
mich sorgt und mir zu meinem Recht verhilft.
Und das ist allemal
mehr, als ich verdient habe. Denn wenn Gott nach der Devise „Wie
du mir, so ich dir.“ handeln würde, dann wäre es schlecht um mich
bestellt. Wahrscheinlich hätte er dauernd Wichtigeres vor, als sich
um mich zu kümmern, und hätte keine Zeit für mich. Er würde mich
kaum beachten und mich eines Tages vielleicht sogar ganz vergessen.
Wie gut, dass Gott anders ist: barmherzig und gnädig, geduldig und
von großer Güte.
Und darum will
ich mir das zu Herzen nehmen: „Sage nicht: Wie einer mir tut, so
will ich ihm auch tun.“ Sage nicht: Wie du mir, so ich dir. Sondern:
Wie du mir, so ich dir nicht.
Almuth Schwichow
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